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BERICHT/070: Linke Buchtage Berlin - der digitalen Verwertbarkeit entgegen ... (SB)


Die offensichtliche Beschleunigung von Produktion und Konsumtion in der ökonomischen Sphäre, von Hysterie und Wahnsinn im Leben selbst schließt nicht aus, daß eine starre Gesellschaft sich lediglich schneller dreht. Wenn dem so ist, dann hat die Anwendung des geplanten Verschleißes auf das Denken selbst denselben Vorzug wie seine Anwendung auf Konsumgüter; das Neue wird nicht nur protziger als das Alte, es nährt auch ein überkommenes Gesellschaftssystem, das seine Ersetzbarkeit dadurch abzuwehren sucht, daß es die Illusion erzeugt, immer wieder neu zu sein.
Russell Jacoby - Soziale Amnesie[1]


"Wer nicht kommt, verpaßt die Zukunft", tönt es marktschreierisch von der Cebit. Mit über 2800 Ausstellern plus Konferenz- und Unterhaltungsprogramm soll dort die Digitalisierung von Wirtschaft, Verwaltung, Gesellschaft, also allem, zu möglichst einträglichen Bedingungen vorangetrieben werden. Wer kommt und sich dem Innovationsprimat unterwirft, wird auf einen Datensatz reduziert und verpaßt das Leben, so könnte das Credo der Gruppe Capulcu lauten. Ihre AktivistInnen sprechen bei der Durchdringung aller gesellschaftlichen Systeme durch das Internet der Dinge, durch Industrie 4.0 oder das in China bereits kurz vor der allgemeinen Einführung stehende Social Scoring von einem technologischen Angriff. So auch auf den Linken Literaturtagen in Berlin, wo die jüngste der von Capulcu herausgegebenen Broschüren in Buchform [2] präsentiert wurde.

Was in "DISRUPT! Widerstand gegen den technologischen Angriff" in aller Breite ausgeführt wird, brachte ein Aktivist der Gruppe in einem wegen großen Interesses völlig überfüllten Raum des Mehringhofes dem Publikum in einem Vortrag mit anschließender Diskussion nahe. Dem linksradikalen Anspruch des Ortes gemäß nannte er den Kern dieser Offensive gleich zu Beginn beim Namen. Sie gehe weit über frühere Konzepte autoritärer Disziplinierung hinaus, indem die umfassende Erhebung von Daten in den Dienst von Lenkungsfunktionen gestellt werde, die eine Regulation des sozialen Verhaltens in hochaufgelöster wie verallgemeinerter Weise zum Ziel habe. Herzstück des technologischen Angriffes sei die Renaissance der Künstlichen Intelligenz (KI), die zu den Leitthemen der diesjährigen Computermesse in Hannover zählt.


Bürogebäude mit Reststück der Berliner Mauer Nähe Potsdamer Platz in Berlin - Foto: © 2018 by Schattenblick

Stadtmaschine mit Legitimationsornament
Foto: © 2018 by Schattenblick


Von der scheinbar neutralen Technik zum Primat technologischer Verfügungsgewalt

Für das Verständnis dieses Angriffes wesentlich sei ein Begriff von Technik, bei dem der instrumentelle Charakter eines vermeintlich neutralen Werkzeuges, das erst in der Hand des Menschen seinen jeweiligen Verwendungszweck erhalte, von Beginn seiner Konzeption an gegeben sei. Als plakatives Beispiel könnte man hier das Argument US-amerikanischer SchußwaffenbesitzerInnen anführen, der Revolver als solcher wäre nichts als ein Mittel, das erst in der Hand der jeweiligen NutzerIn entweder ein Instrument der Selbstverteidigung oder ein Mordwerkzeug werde. So kann die angebliche Neutralität von Technik über herrschaftsförmige Zwecke hinwegtäuschen, die der konkreten Entwicklung bestimmter Werkzeuge von Anfang an eingeschrieben sind.

Die Einheit von Form und Inhalt bei informationstechnischen Systemen könnte anhand der Kernfunktion des Zählens und Vergleichens unterschiedlicher Merkmale zum Zwecke der bewertenden Differenzierung sozialer Verhältnisse in einem herrschaftskritischen Sinne gedeutet werden. Erst der anhand vermeintlich objektiver Kriterien, denen ihrerseits spezifische Intentionen inhärent sind, vorgenommene Vergleich zieht, auch ohne direkt zu physischer Gewalt greifen zu müssen, kaum überwindbare Grenzen territorialer wie hierarchischer Art zwischen Menschen. "It's more fun to compete", verhieß die Leuchtschrift auf den Anzeigetafeln der elektromechanischen Vorläufer heutiger Computerspiele, die den Wettbewerb heiligen, indem die Simulation seiner blutigen Wirklichkeit als zivilisatorischer Erfolg gefeiert wird. Was allein mit der Konditionierung der Menschen auf die mobilen Endgeräte weltweit vernetzter Computerspiele für deren Unterwerfung unter die Parameter zweckdienlicher Verfügbarkeit geleistet wird, konnten sich zu einer Zeit, als der Spielesalon mit seinen Flippern und Glücksspielautomaten den Standard rudimentärer Gamification setzte, nur wenige Science Fiction-Autorinnen vorstellen.

Damit nicht genug sei die Unterscheidung von Technik und Technologie, die der Aktivist mit einer Analogie zur Einführung des Fließbandes, dem zentralen Strukturmerkmal industrieller Entwicklung in der Phase des Fordismus, illustrierte, für die Kritik der Digitalisierung fruchtbar zu machen. Das Zerteilen eines komplexen Arbeitsprozesses und seine Reorganisation durch eine quantifizierende Bewertung der Einzelschritte und ihrer Neuordnung wurde von dem Arbeitswissenschaftler Frederick W. Taylor zugunsten der kostensparenden Rationalisierung der Produktion so effizient durchgeführt, daß sein Name zum Synonym dieser innovativen Methode der Fabrikgesellschaft wurde. Die Enteignung der ArbeiterInnen von verbliebenen Möglichkeiten körperlicher Kompensation des Arbeitsstresses und zusätzlichem Mehrwert bildete den Kern dieser technologischen Offensive. Optimiert wurde die Arbeit des Körpers, indem dieser in ein Korsett exakt vermessener Gelenkfunktionen und Bewegungsverläufe gepreßt wurde, so daß die Verkürzung der am Band zu bewältigenden Wege dessen Output steigerte. Die damit erreichte Produktivitätssteigerung wurde den ArbeiterInnen durch die intensivierte Anspannung von Muskel, Nerv und Sehnen, also die substantielle Auspressung ihrer Arbeitskraft, abgezwungen.

Taylor habe 1911 in seinem Buch Principles of Scientific Management ganz offen erklärt: We want to make war on the economy of the worker. Damit gingen die Auswirkungen des Taylorismus weit über den Werkzeugcharakter der Arbeitsorganisation hinaus und wurden zu einer Technologie der intensivierten Ausbeutung von Arbeitskraft. In diesem Sinne spricht der Referent von digitalen Fließbändern, wenn den Beschäftigten in den Lagerhallen von Unternehmen wie Amazon, mit einem Handscanner in die digitale Logistik eingebunden, jeder Schritt und jede Handreichung durch den dafür zuständigen Algorithmus vorgegeben wird. Um dieses System der Leistungsbemessung unhintergehbar zu machen, müssen alle MitarbeiterInnen über einem Leistungsdurchschnitt liegen, den sie nicht kennen, so daß er um so mehr wie eine virtuelle Peitsche wirkt. Wer unter dem Durchschnitt liegt, wird für den sogenannten Ramp Down-Prozeß vorgesehen, also wegen unzureichender Erfüllung des dynamisch organisierten Leistungssolls aussortiert.


Aufschrift 'We Work' auf Bürogebäude - Foto: © 2018 by Schattenblick

Die imperiale Arbeitsgesellschaft pflegt zu vergessen
Foto: © 2018 by Schattenblick


Massenmenschenhaltung auf den Weiden Digitaliens

Heute bildet die Anhäufung von Daten zu allem und jedem die universale Folie kapitalistischer Verfügungsgewalt. Indem alle Lebensvorgänge datentechnisch abgebildet und als Big Data zur Bewirtschaftung freigestellt werden, verschwimmt nicht nur die Unterscheidung von Personen und Dingen im Objektcharakter ihrer informationstechnischen Verarbeitung. Die Zukunft als solche gerät unter das Diktat einer Verwertung menschlicher Belange, die zu der ohne eigenes Zutun vollzogenen Verschuldung aller Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, durchaus analog zu setzen ist. Um die Absichten der IT-Offensive zu entschlüsseln, reichen die bekannten Verweise auf den Suchtcharakter sozialer Netzwerke und auf Verhaltensänderungen, die aus der schnellen Rückkoppelung der darin simulierten sozialen Interaktion resultieren, nicht aus. Derartige Symptome lassen zwar auf das systematische Erzeugen von Abhängigkeiten schließen, dafür ist die kapitalistische Warenwirtschaft jedoch seit jeher zuständig.

Nicht umsonst insistiert der ehemalige Google-CEO Eric Schmidt darauf, daß jeder Mensch künftig über ein digitales Profil verfüge. Wer dem nicht entspreche, habe zweifellos etwas zu verbergen und sei somit in der Datenbank für digital unsichtbare Menschen gut aufgehoben. In der Blackbox der industriell organisierten Datencenter würden aus großen Datenbeständen Erkenntnisse gewonnen, die auf der Ebene der Kommunikation gar nicht existierten, erklärt der Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder. Die als Machtmittel unterschätzte Crux von Big Data liegt in der hochgradig treffsicheren Wahrscheinlichkeit, mit der künftige Verhaltensformen und Entwicklungen prognostiziert werden. Dieses Wissen bildet die Grundlage für Strategieentwürfe, mit Hilfe derer sich gesellschaftliche Zustände manipulieren lassen, ohne daß dies den betroffenen Marktsubjekten bewußt ist. "Die Daten bieten die Grundlage dafür, die Umgebung, in der Menschen handeln, vorzustrukturieren, bevor sie handeln. Dadurch wird der Eindruck der individuellen Freiheit erhalten, obwohl die Freiheit nur noch darin besteht, aus Optionen auszuwählen, die ein anderer aus eigennützigen Motiven bereitgestellt hat." [3]

Weiterreichende Lenkungswirkungen, denen etwa die permanente Analyse der Schreib- und Sprechbewegungen der NutzerInnen zugrundeliegen und die auf eine regelrechte Verhaltenskonditionierung abzielen, sind in einer algorithmisch gesteuerten Gesellschaft absehbar. Wenn Facebook, wie der Referent berichtet, in allen Ländern außerhalb Europas eine automatische Suizidkontrolle einführt, bei der das Verhalten der NutzerInnen daraufhin überprüft wird, ob wegen Suizidneigung interveniert werden soll, dann gibt auch dies Anlaß zur Antizipation künftiger Formen der Sozialkontrolle. Indem diese nicht mehr primär mit der Brutalität repressiver Gewaltanwendung durchgesetzt, sondern als Zugewinn an Bequemlichkeit und freier Entfaltung beworben werden, geht die freiwillige Unterwerfung unter den liberalen Paternalismus [4] mit einer fatalen Reduzierung kritischer Wirklichkeitserfassung einher. Wie bei einer Schlinge, die sich bei Widerstand immer weiter zuzieht, verkleinern sich einmal aufgegebene Handlungmöglichkeiten mit der unerbittlichen Konsequenz, Zuflucht in anwachsender sozialer Amnesie zu suchen.

Der suggestiv verführerischen Qualität der IT-gesteuerten Welt verfallen viele Menschen auch, weil die Spielräume ihrer Lebensgestaltung von Sachzwängen umstellt sind, die zu durchschauen ihnen eine Streitbarkeit abverlangte, die längst der Befriedungslogik ihrer Atomisierung und Isolierung zum Opfer gefallen ist. So berichtet der Aktivist, daß die Personalvermittlungsfirma Randstad bei ihren Einstellungen keine konventionellen Jobinterviews mehr durchführt. Die BewerberInnen werden statt dessen in einem viertelstündigen Telefongespräch einer Persönlichkeitsanalyse unterzogen, deren Erkenntnisse vor allem aus formalen Kriterien wie Stimmhöhe, Lautstärke, Modulation oder bestimmten Wortkombinationen gewonnen werden. Anhand des Abgleichs mit bereits vollzogenen Sprachanalysen werden dem Probanden Eigenschaften zugeschrieben, die auf reiner Statistik beruhen und keinerlei inhaltliche Fundierung im Sinne einer wissenschaftlichen Methodik besitzen. Die statistische Korrelation verschiedener Phänomene mit bereits akkumulierten Daten verändere denn auch die Wissenschaften selbst, die Wirklichkeit simulieren, ohne die inhaltlichen Ergebnisse überhaupt noch theoretisch zu durchdringen.

Auch Krankenversicherungen bedienten sich derartiger Methoden, um etwaige körperliche Unstimmigkeiten vor dem Krankwerden zu erkennen und "proaktiv" zu behandeln. Zudem werde der sogenannten Gesundheitsmarkt, so erläutert der Referent am Beispiel des Versicherungsunternehmens Generali, heute mit dynamischen Tarifen bewirtschaftet, die mit dem jeweiligen Verhalten der Versicherten steigen oder fallen. Um das Ernährungsverhalten kontrollieren zu können, strebe Generali Verträge mit Einzelhändlern an, die das jeweilige Einkaufsverhalten an der Kasse, wo mit Chipkarte oder Smartphone bezahlt wird, protokollieren und an den Versicherer übermitteln. Die Techniker Krankenkasse wolle zudem eine eigene elektronische Patientenakte einführen, um Präventionsmaßnahmen mit Hilfe von Apps durchzusetzen, die den Gesundheitszustand der Versicherten überprüfbar machten.

Dies war eines der Beispiele, mit denen der Referent belegte, daß westliche Staaten keineswegs immun gegen die Einführung des in China erprobten und 2020 flächendeckend einzuführenden Social Credit Systems seien. Bei diesem Modell würde nicht nur die Gesetzeskonformität des einzelnen Menschen mit Punkten bewertet, indem unter anderem das Verhalten im öffentlichen Raum smarter Städte via Gesichtserkennung erfaßt werde. Ausgewertet würde das individuelle Sozialverhalten auch dadurch, daß Freundschaften und Sozialkontakte in das jeweilige Ranking einflössen, so daß sich die Menschen zusehends Gedanken darüber machen müßten, ob ihre jeweiligen FreundInnen überhaupt tragbar für ihre gesellschaftliche Stellung seien. Konkrete Folgen könne die jeweilige Einstufung etwa für die Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel oder die Bewerbung für Jobs im Staatsdienst haben. Dieses System sei anfangs dadurch attraktiv gemacht worden, daß ein guter Score mit Vergünstigungen bei großen Online-Diensten honoriert wurde. Allerdings bedürfte es nicht einmal solcher Anreize, schon die spielerische Möglichkeit, sich mit anderen zu vergleichen, sorge für die Akzeptanz derartiger Ranking-Systeme, so der Capulcu-Aktivist.

Ein anderes Beispiel dafür, daß die Einführung von Scoring-Systemen dieser Art auch hierzulande nicht lange auf sich warten lassen wird, könne man in London bei der Wohnungssuche kennenlernen. Wer sich als MieterIn bewerbe, werde anhand seiner Auftritte in sozialen Netzwerken daraufhin untersucht, ob er oder sie in die Nachbarschaft passe und überhaupt zahlungsfähig sei. Wer über kein Facebook-Profil verfüge, komme gar nicht erst in die engere Wahl.


Bemalte Seitenwand des Tommy-Weisbecker-Hauses in Berlin-Kreuzberg, Wilhelmstraße 9 - Foto: 2018 by Schattenblick

Wenn die Verhältnisse zu tanzen beginnen ... Ausschnitt aus einem Wandgemälde von Andreas Dornbusch am Tommy-Weisbecker-Haus
Foto: 2018 by Schattenblick


Die disruptive Gewalt gegen sich selbst kehren

Der auch in linken Kreisen verbreiteten Hoffnung, der Kapitalismus sei durch das Internet zu überwinden, wenn nur alle Menschen auf Augenhöhe miteinander kommunizierten und eine sozial gerechte Sharing Economy entstehe, erteilte der Vertreter von Capulcu eine klare Absage. Was etwa der britische Journalist Paul Mason anhand der prinzipiell unendlichen Vervielfältigung digitalisierter Produkte wie der allgemeinen Automatisierung der Produktion als Tendenz zur Bereitstellung kostenloser Güter und der Schaffung einer an der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse orientierten Gesellschaft zu erkennen meint, hat bereits Rainer Fischbach einer profunden Kritik unterzogen [5].

Die Menschen von Capulcu jedenfalls sprechen lieber von einer On Demand-Ökonomie, haben die Vermittlungsfunktionen des sogenannten Plattform-Kapitalismus doch eine Aufblähung des Dienstleistungssektors zur Folge, die der postfordistischen Klassengesellschaft mit ihren vielen unsichtbaren Dienern regelrecht auf den neofeudalen Leib geschrieben ist. Ein 70 Milliarden Dollar schwerer Konzern wie Uber monopolisiert mit der Marktmacht seiner digitalen Plattform das Geschäft des Verleihen privater Autos, was die an und für sich wünschenswerte Nutzung den größten Teil der Zeit herumstehender Fahrzeuge als Kapitalisierung bislang unerschlossener Verwertungsmöglichkeiten hervortreten läßt, wodurch der Mangel umverteilt, aber nicht behoben wird. So werden soziale Residuen wie etwa Zimmer, in denen auch einmal FreundInnen kostenlos übernachten konnten oder die für nichtkommerzielle Tätigkeiten genutzt wurden, durch die Übernachtungsvermittlung Airbnb in Aktivposten des ökonomischen Überlebens verwandelt, was mit dem Teilen ungenutzter Ressourcen so wenig zu tun hat wie die Kommodifizierung des Regenwassers oder der Atemluft.

Wie auf dem Arbeitsstrich, wo Tagelöhner auf einen informellen und schlechtbezahlten Job hoffen müssen oder wieder einmal leer ausgehen, geht es beim Click- und Crowdworking zu. 2006 eingeführt von Amazon, wo sich Menschen am Rechner dafür verdingen konnten, die Cover von CDs auf jugendgefährdende Abbildungen hin zu überprüfen, steht das Modell Mechanical Turk für eine Unterwanderung von Arbeitnehmerrechten, werden diese doch durch die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) geregelt. Auf dieser und anderen Jobplattformen treten die AnbieterInnen der Ware Arbeitskraft mit einer ihnen unbekannten Zahl von MitbewerberInnen in aller Welt in einen Unterbietungswettbewerb, der den KäuferInnen ihrer Leistungen alle Vorteile inklusive möglicher Zahlungsverweigerung bei Nichtgefallen an die Hand gibt.

Mit einer Flexibilisierung, die von der Ausnahme zur Regel geworden ist, wie das von dem Referenten angeführte Beispiel des Modeunternehmens H&M belegt, wo schon mehr als die Hälfte der Angestellten sogenannten Flexkräfte mit ungeregelten Arbeitszeiten auf Abruf sind, kündigt sich eine technologische Arbeitslosigkeit an, die unterschiedlichen Prognosen zufolge um die Hälfte der Jobs in den westlichen Industriestaaten vernichten wird. Wie lautet die Antwort von Unternehmen wie Telekom und Siemens darauf? Deren Chefs propagieren das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) als Befriedungsoption für die Gesellschaft der überflüssig gemachten Menschen. Das auch unter Linken beliebte BGE wird niemals bedingungslos sein, weil schon seine Höhe Bedingung genug sei, wie der Aktivist zutreffend bemerkt. Wenn es einmal an die Stelle des zentralen Disziplinierungs- und Strukturierungsmodells der Arbeitsgesellschaft treten wird, läßt sich schon anhand der Sozialkontrolle des Social Scoring ermessen, daß die Zügel nicht etwa lockergelassen, sondern auf weniger sichtbare Weise um so fester gezurrt werden.

Die Totalerfassung des individuellen Lebens in Produktion wie Reproduktion leuchtet vom Standpunkt seiner optimierten Verwertbarkeit so sehr ein, daß diesem Angriff um so entschiedener entgegenzutreten ist durch Datensparsamkeit, Boykottierung informationstechnischer Systeme, Whistleblowing und Hacktivismus, politischen Protest gegen die dadurch vorangetriebene Entdemokratisierung und Entrechtung bis zur Sabotierung digitaler Agenten und Anwendungen, so einige Vorschläge der Verfasser der Broschüre "Disrupt!" Der Titel könnte Programm auch derjenigen sein, die mit systematisch erzeugten Brüchen der informationstechnischen Produktionsweise schockartigen Erschütterungen ihrer Lebensweise ausgesetzt werden, die sie noch leichter beherrschbar machen. Es ist an ihnen, die disruptive Destruktion gegen diejenigen zu wenden, die sie mit dem Ziel freisetzen, der Welt den Stempel ihrer Verbrauchs- und Entsorgungsinteressen aufzudrücken.

Wenig hilfreich für das Erkämpfen eines nicht fremdbestimmten Lebens ist die freizügige Übernahme informations- und neurowissenschaftlicher Begrifflichkeiten, die der spezifischen Bestimmung menschlicher Fähigkeiten entlehnt und auf algorithmische Prozesse angewendet werden. Wenn Intelligenz mehr sein sollte als die meßbare Befähigung zu kognitiven Leistungen der Merk-, Erinnerungs und Abstraktionsfähigkeit, dann führt die Verwendung des Begriffes für noch so komplex organisierte Maschinen in die Irre selbstgewählter Unmündigkeit. Der Reichtum und die Vielfalt menschlicher Subjektivität, die in der Unberechenbarkeit nicht an binäre Schalter gebundener Entscheidungen, der Unvorhersehbarkeit in existentieller Gefahr vollzogener Schritte, der Dialektik nicht in Gleichungsfunktionen auflösbarer Erkenntnisprozesse oder der Kreativität künstlerischen Schaffens hervortreten, sind von Maschinen nicht zu simulieren und zu erlernen. Wenn die Ergebnisse, die die Blackbox der KI-Systeme hervorbringen, von außen nicht mehr kausal nachzuvollziehen sind, dann ist das zwar ein Problem der damit befaßten Ingenieure, aber noch kein Nachweis für die Intelligenz der KI. Mit dem Vormarsch der Maschinenlogik bei der Beschreibung menschlicher Verhältnisse - Gedächtnis auf Festplatte gespeichert, Bewußtsein im Arbeitspeicher prozessiert, Leistungsfähigkeit durch Aufladen der Batterie wiederhergestellt usw. - wird ohne Not vor einer warenförmigen Gebrauchsterminologie kapituliert und das prinzipiell nicht meßbare und zählbare Potential menschlicher Entfaltung preisgegeben.

Die Präsentation eines Buches, das angesichts seiner kapitalismus- und herrschaftskritischen Positionierung eine wohltuende Ausnahme von dem unentschiedenen Lavieren zwischen bloßen Datenschutzbedenken und affirmativem Gebrauch dieser historisch noch so jungen Technologie darstellt, endete mit einigen ernüchternden Worten des Referenten. Der technokratische Zugriff betrifft nicht nur die kognitive Bemittelung, sondern das Leben an sich, das, wie die Forschungsprojekte transhumanistischer Institute erkennen lassen, längst zur Disposition seiner datentechnischen Überwältigung und cyberprothetischen Neuformatierung steht. Diese Entwicklung sei kaum mehr umzukehren, wenn sie sich erst einmal im gesellschaftlichen Mainstream verankert habe, was es selbstverständlich zu verhindern gilt.


Fußnoten:


[1] Russell Jacoby - Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing, Frankfurt am Main 1978, S. 17

[2] REZENSION/692: DISRUPT! - Widerstand gegen den technologischen Angriff (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar692.html

[3] Felix Stalder: Krieg der Daten gegen die Kommunikation. in Marxistische Blätter 5/2014, S. 73

[4] HERRSCHAFT/1710: Liberaler Paternalismus - kein Widerspruch in sich ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1710.html

[5] REZENSION/669: Rainer Fischbach - Die schöne Utopie (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar669.html


12. Juni 2018


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