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INTERVIEW/013: Linksliteraten - Der aufrechte Gang ...    Victor Grossman im Gespräch (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Victor Grossman über jenen Teil Amerikas, für den er gerne Patriot ist, ein verlorengegangenes Experiment und seine Hoffnung, daß das politisch linke Spektrum stärker sein wird als das rechte, auch wenn dieses an Zulauf gewinnt



1952 hat Stephen Wechsler "rüberjemacht", wie man auf Berlinerisch sagen würde, und wurde zu Victor Grossman. Doch der ehemalige US-Soldat ist nicht von Ost nach West geflohen, sondern hat die umgekehrte Richtung eingeschlagen. Wie es dazu kam und über vieles mehr berichtet der 1928 in New York City geborene Sohn eines Kunsthändlers und einer Bibliothekarin, dessen jüdische Großeltern einst aus Rußland geflohen waren, ausführlich in seiner 682 Seiten umfassenden Autobiographie "Crossing the River - Vom Broadway zur Karl-Marx-Allee" (Wiljo Heinen Verlag, 2014) [1], die bereits 2003 in gekürzter Form in den USA erschienen ist.

Grossmann stehend mit Buch in der Hand, daneben Heinen sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Wenn man ein Buch anpreist, ist ein Autor klug, wenn er nicht sagt, wie es ausgeht. Aber ich werde es in diesem Fall sagen: es ist gut ausgegangen!"
(Victor Grossman liest aus seiner Autobiographie; rechts daneben Verleger Wiljo Heinen. Nürnberg, 1. November 2014)
Foto: © 2014 by Schattenblick

Am zweiten Tag der 19. Linken Literaturmesse, die vom 31. Oktober bis zum 2. November in Nürnberg stattfand, stellte Victor Grossman das Buch vor. Dessen erste Kapitel wurden bereits 1985 in der DDR in Buchform unter dem Titel "Der Weg über die Grenze" publiziert. Gerüchten zufolge, so der Autor schmunzelnd, hätten es damals Leute in dem falschen Glauben gekauft, daß die andere Richtung gemeint gewesen sei.

Wenn der Autor wie hier humorvoll aus seinem Leben erzählt und trotz aller sich ihm in den Weg gestellten Widrigkeiten betont, wie gut er es getroffen und wieviel Glück er gehabt hat, entfaltet sich vor dem inneren Auge des Zuhörers, fast auf dem Nebenwege und doch höchst eindrucksvoll, ein Stück Zeitgeschichte. Berührt werden auf diese Weise die Rassendiskriminierung und Kommunistenverfolgung Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA, die Entnazifizierung in Ostdeutschland bei gleichzeitigem Fortleben von Nazi-Größen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kulturbetrieb der Bundesrepublik, die "Dummheit" und der "ganze Mist", so Grossman, auch in der DDR-Gesellschaft sowie die Zeit nach der Wende.

Ein in Bayern stationierter US-Soldat mit kommunistischer Gesinnung, der sich vor einem Militärgericht verantworten soll, schwimmt 1952 bei Linz über die Donau in die sowjetische Besatzungszone, lebt und arbeitet unter einem anderen Namen jahrzehntelang in der DDR, weiß nicht, ob er nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands für seine Fahnenflucht noch zur Rechenschaft gezogen wird ... Victor Grossmans Leben böte überreichlich Stoff für eine Verfilmung.

Heute wohnt der 86jährige in Berlin, schreibt die Kolumne "Berlin Bulletin" [2] und setzt sich, ungeachtet der häufig pauschalen Verunglimpfung der DDR, die er im folgenden Interview als "Experiment" bezeichnet, weiterhin für seine Ideale ein.

Schattenblick (SB): Vor kurzem hat die Website counterpunch.org einen Artikel von dir mit der Überschrift "Humpty Dumpty and the Berlin Wall" veröffentlicht [3]. Darin schilderst du die Vorbereitungen in der Bundeshauptstadt für die Feierlichkeiten am 9. November zum Fall der Mauer. Wirst du ebenfalls an diesem Tag feiern?

Victor Grossman (VG): Nein, das werde nicht. Ich verstehe, daß sehr viele Leute diesen Tag feiern. Für sie war es ein sehr schöner, euphorischer Tag, an dem sie mit Verwandten und Freunden zusammenkamen und die DDR verlassen konnten. Für mich persönlich war das nicht so wichtig, weil ich es nicht gewagt habe, in den Westen zu gehen. Als Deserteur durfte ich das nicht, weil ich dort verhaftet worden wäre. Im übrigen hätte ich zu jeder Zeit die Grenze überqueren können. Vor allem aber feiere ich den Tag nicht, weil das das Ende der DDR war, und das tat mir damals schon leid und tut es mir auch noch heute.

SB: Du bist aus der US-Armee desertiert. Würdest du dich in einem übertragenen Sinn auch deshalb als Fahnenflüchtling bezeichnen, weil du den Niedergang der DDR nicht mitfeierst und den damit wiedererstarkten fahnenschwenkenden Patriotismus in der Bundesrepublik Deutschland ablehnst?

VG: Nein, ich sehe mich als amerikanischen Patrioten und genauso bin ich dagegen, Deutschland oder Deutsche abzulehnen. Die USA bestanden und bestehen auch heute noch aus mindestens zwei Teilen. Auf der einen Seite die nationale Politik, die fast immer schlecht war und Fürchterliches angerichtet hat. Auf der anderen Seite gab es immer einen Widerstand, eine Opposition und etwas Kämpferisches, was mich von früh an sehr inspiriert hat. Angefangen von den Kämpfen gegen die Sklaverei bis in die Gegenwart. Das ist mein Amerika, für dieses Amerika bin ich patriotisch.

So sehe ich das hier und heute ebenfalls. Daß die Mauer fiel, bedeutet im Grunde genommen, daß der Kampf um ein besseres Deutschland, ein besseres Europa, eine bessere Welt eine andere Dimension angenommen hat. Mit der DDR war ein Experiment um ein besseres Deutschland in mancher Hinsicht, aber nicht im großen und ganzen gelungen. Das macht mich bis heute traurig.

SB: Besaß die DDR das Potential, aus eigener Kraft, von innen heraus erstarrte Strukturen aufzubrechen und eine Erneuerung des realsozialistischen Gesellschaftsmodells herbeizuführen, ohne daß dies unbedingt in eine Angliederung an den Westen hätte münden müssen?

VG: Ich weiß es nicht. Ich glaube, nachdem bereits Polen und die Tschechoslowakei und dann auch noch die Sowjetunion umgewandelt wurden, bestand wenig Hoffnung auf Erneuerung. Und nicht nur das. Die DDR war ja immer schon der ärmere, kleinere und schwächere Teil von Deutschland, so wie Osteuropa der ärmere, kleinere und schwächere Teil von Europa und die sozialistische Einflußsphäre der ärmere, kleinere und schwächere Teil der ganzen Welt war.

Ob die DDR das hätte schaffen können, ist eine große Frage. Sie besaß trotz allem bis zuletzt kein geringes Potential: Es herrschte Vollbeschäftigung, Gesundheitsversorgung und Bildung waren umsonst, es bestand eine Sicherheit, daß man am nächsten Tag nicht arbeitslos wird, seine Wohnung verliert und auf der Straße sitzt. All diese Errungenschaften gab es bis zuletzt, und deshalb tut es mir sehr leid, daß dieses Experiment verlorenging.

SB: Hast du eine Erklärung dafür, warum das Aufbegehren der Jugend in den neuen Bundesländern zur Zeit nicht von links, sondern eher von rechts kommt?

VG: Nicht nur! Jedesmal, wenn die Nazis in irgendeiner Stadt aufmarschieren, und das tun sie fast jedes Wochenende in mehreren Städten, sind die Antifaschisten sogar in der Mehrzahl. Das soll man nicht so verallgemeinern. Aber sehr viele Jugendliche sind einfach nicht politisch, und daß so viele nach rechts zogen - naja, die in Ostdeutschland haben praktisch mit '89/90 die Orientierung verloren, die ihnen manchmal willig, manchmal unwillig eingeprägt worden war. Auf einmal hatten sie gar nichts, für ihre Eltern galt das gleiche. Hinzu kamen die große Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit über die Zukunft. Alles das macht sie zur leichten Beute für Nazis.

Außerdem besteht das große Problem, auf das die Nazis und Rechten immer setzen: der Haß auf Ausländer. Das ist so in jedem Land Europas und im Grunde fast in der gesamten nördlichen Welt. Auch in den USA oder Japan bauen sie auf diese fast schon eingefleischte Angst vor anderen Menschen, die nicht die gleiche Sprache sprechen, nicht die gleiche Farbe haben, nicht die gleiche Religion ausüben und eine etwas andere Kultur pflegen, um die Leute zu entzweien. Zu viele Jugendliche sind darauf reingefallen. Genau deshalb, wie wir vor wenigen Tagen in Köln erlebt haben, haben sich die Rechten mit den dümmsten unter den Fußballfans - womit ich nicht sagen will, daß alle Fußballfans dumm sind -, mit diesen Hooligan-Typen zusammengetan. Ich sehe das als eine sehr gefährliche Entwicklung an.

SB: Du bist abgesehen vom Buchautor auch Journalist und schreibst über tagespolitische Themen. Hast du den Eindruck, daß man linke Inhalte an die Jugendlichen heranbringen kann?

VG: Ich war immer Optimist - inzwischen bin ich das nicht mehr hundertprozentig. Ich würde mich freuen, wenn die linke Szene, auch die Linkspartei - vor allem diese - es lernen würde, wie man an jene Menschen herankommt, die bislang entweder gar nicht oder nur wenig politisch interessiert sind.

Möglicherweise werden sich die Bedingungen in Deutschland wie auch anderswo verschlechtern. Das ist zwar keine gute Sache und es könnte sogar einen Trend ganz nach rechts befördern, aber ich habe die Hoffnung, daß ein anderer Trend nach links geht und daß die Linken am Ende stärker werden.

SB: Mich hat gewundert, daß du dein Buch, "Crossing the River", zuerst in den USA publiziert hast. Denn ich hatte bisher den Eindruck, daß man sich dort für Europa oder, um ein Zitat des früheren US-Verteidigungsministers Rumsfeld zu mißbrauchen, für "das alte Europa" nicht interessiert. Wie ist deine Einschätzung dazu?

VG: Es stimmt, daß für sehr viele Amerikaner Europa außerhalb der Welt liegt. Für Lateinamerika gilt im Grunde das gleiche - und sogar für Kanada (lacht). Die sehen nur Nebraska oder wo auch immer sie gerade wohnen. Aber erstens gibt es meines Erachtens einen Unterschied zwischen der Ost- und der Westküste. Da muß man mit seinem Urteil vorsichtig sein, denn es existieren in den USA viele Strömungen, die in alle möglichen Richtungen gehen. Mag es auch eine relativ kleine Minderheit sein, an die ich mich mit dem Buch vornehmlich wende. In diesem riesigen Land mit seinen über 300 Millionen Einwohnern leben doch etliche Leute, die Interesse an Europa haben, und Intellektuelle, die politische Antworten suchen. Ich würde mich natürlich freuen, wenn Kleinstadteinwohner in Nebraska das Buch lesen würden, aber da hege ich keine große Hoffnungen. In Deutschland ist es ähnlich. Mit einem linken Buch über den Kreis der Linken hinauszukommen ist schwer. Aber man versucht es immer wieder, um neue Leute zu gewinnen.

SB: Du schreibst für eine englischsprachige Leserschaft regelmäßig über Deutschland. Welche Rückmeldungen erhältst du darauf?

VG: Mein Artikel, den du gelesen hast, war in CounterPunch nachgedruckt und ist in einem anderen, viel gelesenen Blog gelobt worden. Dadurch habe ich gerade in den letzten Wochen 100 neue Anfragen von Interessierten erhalten, die mein Bulletin ebenfalls beziehen wollen. Das ist mehr als je zuvor auf einen Schlag und somit eine gute Resonanz. Das wird dann in einigen Online-Zeitungen und auch Websites veröffentlicht. Da bekomme ich ständig Rückmeldungen, insbesondere zu diesem Artikel, der mir selbst besser gefiel als die meisten, die ich bisher geschrieben habe - allerdings: es ist nie überwältigend. Aber gerade diese 100 neuen Interessenten - mal sehen, ob sie bei meinem Bulletin bleiben.

SB: Du hattest bei der Buchvorstellung vom Ghettoleben gesprochen, das du Anfang der 50er Jahre in Buffalo kennengelernt hattest. Was hat dir daran gefallen oder was hat dich da besonders angesprochen?

VG: Ich kann nicht sagen, daß mir das Leben gefallen hat, aber ich habe die Probleme der Menschen kennengelernt. Viele von ihnen haben ganz miserabel gewohnt, und auch die Neubauten, also die Projekte für die Schwarzen, die dort gebaut wurden, waren miserabel. Das waren Betonklötze. In der Zeit habe ich ebenfalls mitbekommen, daß sehr viele Leute ohne Arbeit waren, daß Rauschgift ein großes Problem war und wie sich die Polizei verhalten hat. Ich habe miterlebt, wie ein Freund von mir von einem Polizisten auf den Kopf geschlagen wurde, daß es geblutet hat, und ein zweiter Polizist seine Pistole gezogen hat - das hätte noch schlimmer ausgehen können. Ich habe also die Ängste und Probleme im Ghettoleben kennengelernt und natürlich auch erfahren, was für wunderbare Menschen das sind. [4]

SB: Wenn man häufiger mit zehn Kindern und ihren Eltern unter einem Dach ist ...

VG: Ja, ich durfte eine erstaunliche Familie kennenlernen, wunderbare Leute, warmherzige, politisch interessierte, viele von ihnen waren recht aktiv in ihrer Gewerkschaft. Das waren mit die besten Leute, die ich im Leben kennengelernt habe. Viele, auch linke Amerikaner sind gegen Rassismus, aber es steckt in fast allen weißen Amerikanern etwas davon drin. Doch hier im Ghettoleben habe ich ja mitbekommen, was für großartige, nette und feine Leute das sind. Von ihnen habe ich viel gelernt.

SB: Victor, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Sie finden eine Rezension von Victor Grossmans Buch "Crossing the River" im Schattenblick unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/meinung/bumbe056.html

[2] Das Berlin Bulletin ist kostenlos, wird per Email versendet und kann bei Victor Grossman bestellt werden: wechsler_grossman@yahoo.de.

[3] http://www.counterpunch.org/2014/10/24/why-did-the-east-germany-really-go-under/

[4] Bei seiner Buchvorstellung erklärte Grossman, daß er mit einer Familie mitten im Schwarzenghetto von Buffalo bestens befreundet war und daß viele von ihnen links eingestellt waren: "Da kam eine junge Frau aus den Südstaaten, hat linke Leute kennengelernt, die haben sie zu Versammlungen und Kundgebungen, wo Schwarze und Weiße gemeinsam waren, mitgenommen, was sie sehr beeindruckt hat. Die ist ebenfalls Linke geworden, und zwar sehr links! Ihre Mutter wollte sie schon rausschmeißen, ihre Mutter war fromm. Aber, nach und nach, die Mutter war auch sehr klug, ist sie selbst zur Roten geworden. Und die Mutter hat zehn Kinder, und von diesen zehn Kindern, die ich kennengelernt habe - naja, die eine war schon ein bißchen zu alt und die jüngste war erst elf -, aber es blieben acht, die alle Linke geworden sind. Noch dazu ihre Ehemänner und Ehefrauen! Es war praktisch eine große Organisation an sich!"


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25. November 2014


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