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INTERVIEW/045: Links, links, links - schweigende Mehrheiten ...    Attila Steinberger im Gespräch (SB)


Bruchlinien der Spaltung - Zur Ideologie des Islamischen Staats

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Der in westlichen Denkfabriken geschmiedete Entwurf des "Kampfs der Kulturen" setzte nach dem proklamierten Sieg über den Sozialismus die nächsthöhere Stufe globaler Auseinandersetzungen in Kraft. Nachdem der Klassenwiderspruch für obsolet erklärt worden war und mittels seiner Negation um so schärfer von oben nach unten durchgesetzt werden konnte, bedurfte es einer ideologischen Leitlinie, die diese Ausgangsposition zu festigen versprach. Das neue Feindbild des als Neiders und Gegners von Demokratie und Fortschritt diskreditierten Islams erfüllte eine doppelte Funktion: Als kulturalistisches Bedrohungsszenario verschleierte es die fundamentalen politischen, ökonomischen und sozialen Konflikte der kapitalistischen Gesellschaften und legitimierte zugleich deren imperialistische Expansion in eben jene Weltregionen, die sie in Exekution ihres hegemonialen Anspruchs umzupflügen trachteten.

Trotz seiner militärischen und wirtschaftlichen Übermacht erschöpfte sich dieser strategische Vormarsch jedoch an seinem ungeheuren Aufwand, träfe er nicht auf korrespondierende Interessen an einer kulturell-religiös verengten Ausdeutung von Konkurrenz und Vorteilsnahme. Ohne die Spaltbarkeit in einander mißtrauende und bekämpfende Fraktionen des islamischen Monotheismus, die sich als Handlanger und Söldner imperialistischer Mächte gegenseitig aufreiben und zerfleischen, wäre die unablässige Destabilisierung und Zerschlagung von Staaten und gewachsenen oder austarierten Strukturen im Sinne der Doktrin vom "kreativen Chaos" nicht möglich. Das gilt insbesondere für die salafistischen Gotteskrieger, deren extreme Feindbildproduktion sie zu bevorzugten Empfängern finanzieller und rüstungstechnischer Unterstützung macht.

Auf der Linken Literaturmesse stellte Attila Steinberger, Autor fundierter Hintergrundanalysen zum Islamismus mit Schwerpunkt auf dem Nahen Osten und Iran, das von Ismail Küpeli herausgegebene Buch "Kampf um Kobane - Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens" [1] in Auszügen vor. Dabei kontrastierte er die Frauenrevolution im selbstbestimmt organisierten Rojava mit Passagen aus seinem Beitrag zum salafistischen Staat als diametral entgegengesetzte Entwürfe für die gesamte Region. Griffen Frauen zur Waffe, dem Statussymbol männlicher Macht, komme das weltweit einem Tabubruch gleich, woraus haßerfüllte Bezichtigungen resultierten. Die Frauen in Rojava artikulierten radikalen Widerstand gegen die patriarchale kapitalistische Nationalstaatsorganisation und dies nicht als Stellvertreterinnen imperialistischer Mächte, sondern in Selbstverteidigung und für die eigene Befreiung. Sie kämpften nicht nur gegen den IS, sondern zugleich für eine veränderte Mentalität in der eigenen Gesellschaft.

Die Kurdinnen und Kurden lebten in einem repressiven Umfeld, in dem seit Ende des 19. Jahrhunderts der arabische Nationalismus als Gegenbewegung zum Kolonialismus gewachsen sei. Er habe die Niederlage des arabischen Raums nicht politisch, ökonomisch und militärisch erklärt, sondern an der Kultur festgemacht, was eine Abgrenzung gegen nichtarabische Teile der Gesellschaft und deren Unterdrückung zur Folge gehabt habe. Diese kulturelle Renaissance habe Religion für einen Teil der Kultur erachtet, da der Islam mit dem Hocharabischen eine gemeinsame Sprache und gewisse allgemeine Werte repräsentiere.

Der IS gehe ebenfalls von einer Dekadenz aus, streiche aber Nation und Kultur und lasse nur noch die Religion gelten. Er sei 2003 aus Al-Kaida-Organisationen im Irak unter der Führung von Abu Mussab al-Sarkawi hervorgegangen, der 2006 getötet wurde. Wie dieser in einer seiner Botschaften verkündet habe, kämpfe er weder für eine Handvoll Dreck, noch für imaginäre Grenzen. Er kämpfe nicht darum, einen arabischen Götzen durch einen westlichen Götzen zu ersetzen. Er kämpfe für das Wort Allahs. Dabei werde Religion nicht auf die Verehrung einer Gottheit beschränkt, sondern als Ideologie vorgehalten, die in Konflikt mit Demokratie stehe, die seinem Gott den Rang streitig macht. Werde der Mensch nicht als Geschöpf Gottes, sondern das der Gesellschaft gesehen, sei das der wahre Unglaube. Gott sei die einzige Legitimation für ein Gesellschaftssystem, das in die Realität umgesetzt werden müsse.

Ein zentraler salafistischer Text sage den arabischen Regierungen Todfeindschaft an, bis sie zurückkehren und sich dem Islam unterwerfen. Davon abweichende Vorstellungen würden als Verehrung einer anderen Religion strikt abgelehnt und als Verstoß gegen den Monotheismus aufgefaßt. Dieses Konzept teile Moslems in authentische Gläubige und Abweichler ein, wobei sich die salafistischen Geister an der Frage scheiden, ab wann ein Moslem als Ketzer gilt und den Tod verdient, so Steinberger. Da sich in jeder salafistischen Gruppierung der jeweilige Anführer als legitimer Interpret der göttlichen Doktrin verstehe, sei die beanspruchte Verkörperung der ursprünglichen Lehre von größter Bedeutung.

Um sich von anderen abzuheben, nenne sich der aktuelle Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, nicht nur nach dem ersten Nachfolger Mohammeds, sondern stelle sich sogar als Kalif Ibrahim in eine Linie mit den ersten Propheten. Bei seiner ersten Freitagspredigt habe er einen schwarzen Turban getragen, der der direkten Linie Mohammeds vorbehalten ist, und von der sechsten Stufe aus gesprochen, von der herab nur der Prophet predigen darf. Die Ausrufung des Kalifats erfolgte im Ramadan 2014, auch dies eine Anspielung darauf, daß es sich um eine neue Offenbarung handle. Die Flagge des IS zeige die schwarze Fahne, mit der Mohammed gekämpft haben soll. Der IS sehe sich als Retter des Islams in einer gottlosen Zeit, was mit der Vertreibung oder Ermordung aller Ungläubigen einhergehe.

Der panarabische Aufbruch habe letzten Endes zu einem Chauvinismus und Rassismus gegenüber Minderheiten geführt, was auch innerhalb der kurdischen Bewegung gelte, wie das Beispiel Barzanis im Nordirak zeige. Nationalismus mache stets geltend, ein größeres Kollektiv zu verteidigen. So sichere der türkische Staat das Türkentum ab und nicht etwa alle Bewohner des Landes. Entsprechendes findet man in den arabischen Staaten wie auch im Iran und in Israel, wo dieselbe Kontroverse ausgetragen werde. Grundsätzliche Kritik am Nationalismus sei daher berechtigt und notwendig.

Nach seinem Vortrag beantwortete Attila Steinberger dem Schattenblick einige vertiefende Fragen.


Transparent 'Support Rojava' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Du hast bei deiner Buchvorstellung den Entwurf von Kobane mit jenem des IS kontrastiert. Wenngleich dessen Ideologie aus unserer Sicht abwegig anmuten mag, übt sie offensichtlich auf viele jüngere Muslime in Europa eine große Anziehungskraft aus. Woher rührt diese Rekrutierungsfähigkeit des IS?

Attila Steinberger (AS): Der an der Spitze des IS stehende Abu Bakr al-Baghdadi und sein Pressesprecher Abu Mohammad al-Adnani erklären, hier ist ein Staat, in dem ihr tatsächlich islamisch leben könnt. Ihr müßt hier keine Kompromisse eingehen wie im Westen oder den anderen arabischen Staaten. Kommt alle hierher und unterstützt uns im Kampf gegen die Ungläubigen. Das betrifft die Anwerbung im Westen. Im arabischen Raum, aber auch in Afghanistan, Pakistan oder im Kaukasus sieht die Rekrutierung ganz anders aus. Dort ist vor allem der gemeinsame Kampf gegen Feinde wie etwa die Russen bedeutsam. Der Militärführer Omar al-Schischani ist Georgier und hat in dem kurzen Krieg um Abchasien mitgekämpft und mitverloren. Später ist er zum Islamismus konvertiert, hat dann in Tschetschenien gekämpft und ist schließlich zum Kampf gegen die syrische Regierung, die mit Rußland verbündet ist, das den großen Stützpunkt in Latakia unterhält, ins Land gekommen. Wiederum anders verhielt es sich bei Abu Mussab al-Sarkawi, der bei der Rekrutierung den irakischen Organisationen unterlegen war, die gegen die Regierung Alawi, die amerikanischen Besatzer oder die kurdische Autonomieregierung gekämpft haben. Er hat sich al-Kaida angeschlossen und damit Zugang zu den Finanzierungspools in der Golfregion erlangt. Al-Sarkawi hat die ethnische Teilung zwischen Sunniten und Schiiten vertieft und das programmatisch ausgelegt. So hat er in Videoansprachen dazu aufgerufen, die Schiiten zu provozieren, damit es zu einem ethnischen Konflikt kommt, in dem sich die Sunniten scheinbar verteidigen.

Was die Schiiten angeht, kursieren diverse abwertende Begriffe wie "Rafidi", was Abweichler bedeutet, oder "Safawid", eine Anspielung auf die persische Dynastie der Safawiden, die sich heftig mit dem Osmanischen Reich bekriegt hat. Dann natürlich "Nusairi" für die Aleviten in Syrien, die man nicht als Moslems anerkennt, sondern für minderwertig erachtet. Solche Bezichtigungen gingen bei Sarkawi so weit, den Schiiten die Schuld dafür zu geben, daß die USA den Irak überfallen haben. Dies nimmt groteske Züge an, wenn es heißt, die Schiiten und besonders der Iran steuerten die gesamte Weltwirtschaft und trieben die Westmächte in den Krieg, um den Islam zu zerstören. Das ähnelt Verschwörungstheorien, die den Juden die Weltherrschaft andichten, weshalb man sie vernichten müsse. Im Unterschied zum klassischen Antisemitismus unausweichlicher Verfolgung haben die Schiiten zumindest die Möglichkeit, zum IS zu konvertieren, was auch allen anderen offensteht.

SB: Es kursieren verschiedene Versionen, wie der IS entstanden ist und wer genau ihn unterstützt. Gibt es eine überprüfte und konsistente Erkenntnis, woraus er sich speist und wer ihm heute hilft?

AS: Es kommt immer darauf an, was man sich dabei anschaut. Sehen wir uns die Ideologie an, findet man deren Wurzeln im 14. Jahrhundert. Ibn Tamiyya hat in der Region des heutigen Syrien verschiedene Hetzschriften gegen Schiiten verbreitet, das ist ein gemeinsamer Ankerpunkt. Er forderte die Rückkehr zur ursprünglichen Lehre und warnte, daß die umgebenden Auffassungen mit den jeweils eigenen Traditionen verseucht seien. Damals fielen die Mongolen im arabischen Raum ein, plünderten und zerstörten Bagdad. Unter Führung des Ilchanen konvertierten sie zum Islam, behielten jedoch ihre eigene Rechtsform bei. Anstatt sich mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen auseinanderzusetzen, forderte Ibn Tamiyya, man müsse diese Menschen zu richtigen Moslems erziehen, dann sei alles wieder in Ordnung. Er saß dann auch mehrfach im Gefängnis und hat es sogar hinbekommen, sich mit der sehr konservativen Rechtsschule der Hanbaliten anzulegen.

Personen wie Tamiyya oder später die Salafisten stehen außerhalb der Rechtsschulen im sunnitischen Islam, also der Hanafiten, Schafiiten, Malikiten und Hanbaliten, wobei letztere die dominierende Rechtsschule in Saudi-Arabien repräsentieren. Die Salafisten möchten nicht nur mit Schiiten oder Sufis, sondern auch mit diesen Schulen nichts zu tun haben, weil diese nach ihrer Auffassung vom wahren Islam abweichen. Diese Hetze ist nicht auf die Salafisten oder den Islamischen Staat beschränkt, sie durchzieht vielmehr die gesamte Gesellschaft. So hat Saddam Hussein die Schiiten als fünfte Kolonne des Irans und die Kurden als Verräter gesehen, die man zusammenbomben müsse.

Im folgenden Jahrhundert war der Mongolenführer Tamerlan der neben Dschingis Khan größte Massenmörder des Mittelalters. Er war nominell Moslem, und man erklärte seine Gewalttätigkeit auf einer rein kulturellen Schiene damit, daß er mit nichtislamischen Vorstellungen dahergekommen sei. Es gab den Sufiorden der Naqschbandi, die den Glauben erneuern wollten und sich aus Zentralasien über das heutige Pakistan und Indien verbreitet haben. Einer ihrer Schüler war Abd al-Wahhab, ursprünglich ein Gelehrter aus Mekka, der nach Indien kam, diese Ideologie übernahm und sie ins heutige Saudi-Arabien brachte. Es handelte sich stets um eine mehr oder minder marginale Strömung, die jedoch immer dann erfolgreich war, wenn es darum ging, gegen Minderheiten zu hetzen. Das Mogulreich in Indien wurde von den Engländern 1851 vollständig vernichtet, wozu es selbst maßgeblich beitrug, indem es gegen alle nichtmoslemischen Gruppen vorgegangen ist. Lange Zeit spielte es in diesem Reich keine Rolle, ob die Minister, Wesire und Generäle Moslems, Hindus oder Buddhisten waren. Der Herrscher Aurangzeb bediente sich demgegenüber zur Legitimierung seiner Macht eines besonderen Naqschbandi-Sufiordens, der gegen die Gruppierungen vorging, die die Mehrheit bildeten. Aurangzeb ließ seine Brüder töten wie auch seinen Vater einkerkern und später ermorden, so daß man nicht gerade von einer legitimen Herrschaft sprechen konnte. Um sich dennoch an der Macht zu behaupten, setzte er verstärkt auf das ethnische und religiöse Moment.

In Syrien gibt es an der Damaskus-Universität eine Fakultät für islamische Studien, die seit den 70er Jahren vom Assad-Regime aufgebaut und unterstützt worden ist. Es handelt sich um eine salafistische Strömung, die die Moslembrüder kontern sollte. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Fakultät gehörte al-Albani, der dann auch in Saudi-Arabien großen Einfluß erlangte. Ähnliche Gruppierungen gab es in Saudi-Arabien, Ägypten und im Irak an der Saddam-Hussein-Universität für islamische Studien. Einer ihrer Abgänger ist Abu Bakr al-Baghdadi, der derzeitige Kalif des Islamischen Staates.

Was die organisatorische Ebene des IS betrifft, formierte er sich im Irak aus ehemaligen Offizieren des Baath-Regimes von Saddam Hussein. Im Jahr 2014 kam es zur Spaltung zwischen der Al-Nusra-Front und dem Islamischen Staat, obgleich beide im Grunde Al-Kaida-Organisationen sind. Al-Nusra wurde ursprünglich vom IS im Irak nach Syrien geschickt, um dort zu kämpfen und an Einfluß zu gewinnen. Das ist ihr gelungen, dort hat sie sich reorganisiert. Hinzu kommen andere salafistische Gruppen im Irak wie Ansar al-Islam, die islamische Bewegung Kurdistans oder die Kurdische Befreiungsarmee, die ungeachtet ihres säkularen Namens streng salafistisch ausgerichtet ist.

Zu den wichtigsten Unterstützern des IS gehört Saudi-Arabien. Wie wir dank Wikileaks erfahren haben, beklagten sich US-Militärattachés bitter darüber, daß die Saudis nur dann gegen salafistische "Terroristen" vorgingen, wenn diese saudische Interessen verletzten, sie aber ungehindert über die gemeinsame Grenze in den Irak einreisen ließen. Syrien hat den irakischen Widerstand unterstützt, jedoch vor allem die Baathisten. Hingegen fingen die Syrer die Al-Kaida-nahen Gruppen ab und steckten sie ins Gefängnis. Als dann 2011 bei den Protesten in Syrien mehrere tausend Demonstranten erschossen und Gefangene befreit wurden, holte man nicht Gewerkschafter, Menschenrechtler, Journalisten, Kommunisten und Sozialisten aus dem Gefängnis, sondern zuallererst 3000 syrische, saudische, jordanische, sudanesische und ägyptische Salafisten, die sich dann al-Nusra und schließlich dem Islamischen Staat anschlossen.

SB: Welche Mittel und Möglichkeiten kann die kurdische Bewegung aufbieten, diesem massiven ideologischen Druck etwas entgegenzusetzen?

AS: Die Ideologie des IS geht von zwei Kollektiven aus, die sich gegenseitig bekämpfen müssen. Sie macht keine Aussagen darüber, was ein gutes Leben ausmachen könnte, sondern verwirft im Gegenteil dieses Leben im Diesseits zugunsten einer Belohnung oder Bestrafung im Jenseits - Himmel oder Hölle, je nachdem, wie sich der Mensch verhalten hat. Es handelt sich um religiösen Konservatismus und nicht etwa eine islamische Befreiungstheologie, wie mitunter behauptet wird. Es geht dem IS nicht darum, das Himmelreich auf Erden zu schaffen, sondern nur um die Vorbereitung darauf. Der einzige Anspruch des Islamischen Staates besteht in der Möglichkeit, wahrhaft islamisch zu leben. Ihm geht es nicht um materielle Werte, Gesundheitsversorgung, Erziehung und so weiter.

Genau solche politischen Fragen sollte man in der ideologischen Auseinandersetzung mit dem IS thematisieren. Beispielsweise wäre angesichts der seit 2006 in Syrien herrschenden Dürre die Frage zu stellen, was der Islamische Staat dagegen unternimmt. Genau auf derselben politischen Ebene sollte man natürlich auch Salafisten hier in Deutschland begegnen. Was sie vertreten, ist genaugenommen ein nachholender Neoliberalismus in religiöser Form. Der Neoliberalismus spricht von Chancengerechtigkeit, in deren Rahmen jeder selbst für seinen Erfolg oder Mißerfolg verantwortlich sei: Jeder ist seines Glückes Schmied, und wer nicht zum Zuge kommt, ist selber schuld. Es handelt sich gewissermaßen um einen Rückgriff auf eine frühkapitalistische Ideologie der Freiheit, in der man angeblich durch Bildung und Leistungsbereitschaft alles erreichen kann. Der Staat ist nicht länger dafür zuständig, die sozialen und ökonomischen Probleme zu lösen.

SB: Die kurdische Frauenbewegung vertritt Positionen, die weit über das hinausgehen, die man für gewöhnlich im Westen mit Frauenbewegung assoziiert. Inwieweit könnte dieses Beispiel auch jenseits der Region Rojava Schule machen und Impulse geben?

AS: Wir dürfen natürlich nicht vernachlässigen, daß beispielsweise in Lateinamerika Frauen der Guerilla angehörten und als unabhängig, emanzipiert und autonom geachtet wurden. Sobald jedoch der Krieg wie in Nicaragua gewonnen war, wurden sie auf die Rolle des Heimchens am Herd zurückgedrängt. Das gipfelte darin, daß beispielsweise Ortega sein Hausmädchen vergewaltigt hat und es dann hieß, sie habe ihn verführt. Deswegen sollte man sich weniger die ideologische als vielmehr die praktische Seite anschauen. In Rojava gehört die paritätische Besetzung aller Räte zu den wichtigsten Errungenschaften, so daß die Jinealogie - "Jin" steht im Kurdischen für "Frau" - als Wissenschaft von der Frau in allen Aspekten ihrer Unterdrückung und kollektiven Ermächtigung sehr konkret umgesetzt wird. Im Gegensatz zum Neoliberalismus mit seiner individuellen Leistungsbereitschaft und seinem individuellen Konsum wird die Kooperation favorisiert und praktiziert. Was diesbezüglich im Anarchismus stark ausgeprägt war, wenn man etwa an Kropotkin denkt, wurde von Abdullah Öcalan rezipiert und vorgeschlagen, worauf es Eingang in die Bewegung der Kurdinnen und Kurden fand.

SB: Siehst du einen Widerspruch darin, daß Öcalan als Führungsfigur verehrt und zugleich als Inspiration der Emanzipation geschätzt wird?

AS: Das könnte natürlich auf einen sozialistischen oder revolutionären Katechismus hinauslaufen - ich benutze absichtlich diesen religiösen Begriff -, sofern sich ein einheitlicher Kanon verfestigt. Diese Gefahr wäre nach dem Ableben Öcalans nicht auszuschließen, da dann seine Propheten oder Adepten hervortreten könnten, wie man dies aus religiösen und sozialen Bewegungen kennt. Wir erleben den ewigen Streit um die Frage, was echter Marxismus sei, in dem jeder seine eigene Auslegung favorisiert und gegen alle anderen wendet. Es geht dann nicht mehr darum, tatsächliche Probleme zu thematisieren und zu bewältigen, sondern nur noch um die ideologische Spaltung. Das kann gravierende Folgen haben, weil darüber ein Ausschluß begründeter Interessen erfolgt.

Man kann dieser Tendenz jedoch durch einen Basisaufbau wie in Rojava entgegenwirken. Die kurdische Bewegung erhebt den Anspruch, daß sie selbst im Falle erreichter Autonomie noch immer Nachbarn hätte, mit denen sie in Verbindung steht und zusammenarbeiten möchte. Ein abschreckendes Gegenbeispiel wäre jedoch die autonome Kurdenregierung im Nordirak, die sich dem Iran und der Türkei aus ökonomischen und machtpolitischen Gründen an den Hals wirft. Der Einfluß übergeordneter Macht schwindet indessen mit der Stärke einer dezentralen Organisierung an der Basis, zumal in einem föderalen System, das in Gegensatz zum zentralistischen syrischen, irakischen, türkischen oder auch indischen Staat steht, wobei in letzterem noch viele Instrumente einer Sozial- und Wirtschaftspolitik vor Ort vorhanden sind. Andererseits hat in Indien der Hindu-Faschismus eines Narendra Modi, des Massenmörders von Gujarat, in vielen Bundesländern massiv an Einfluß gewonnen.

SB: Auf dem zweiten Kurdenkongreß in Hamburg herrschte eine Aufbruchstimmung vor, in deren Mittelpunkt der Entwurf von Rojava samt der Aussicht stand, tatsächlich eine andere Gesellschaft zu schaffen. Wenige Wochen später versetzte die massive Repression in Türkei diesen Hoffnungen einen schweren Schlag. Welche Folgen hat die dramatisch zugespitzte Situation für die kurdische Bewegung?

AS: Die Belagerung Kobanes durch den IS hat die bestehenden Konflikte in der Türkei massiv polarisiert. Nun ist der IS ein guter Beobachter, was die Spaltung in der Gesellschaft angeht, die er auszunutzen trachtet. Eine der ausgeprägtesten Spaltungen in der türkischen Gesellschaft ist jene zwischen Kurden und anderen Minderheiten auf der einen und der türkischen Regierung, des Militärs und der Rechten auf der anderen Seite. Neben der AKP gibt es die Grauen Wölfe und verschiedene kleinere islamistische Gruppen wie Hüda Pa, die türkische Hisbollah, die nichts mit der libanesischen oder iranischen zu tun hat, sondern eine salafistische Organisation ist. Sie hat sich ab den 90er Jahren mit Hunderten von Morden im Bürgerkrieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK, den restlichen kurdischen Bewegungen und Menschenrechtlern engagiert. Erdogan hat ihr eine Generalamnestie gewährt, was er bei kurdischen Parteien nie tun würde.

Bei der Belagerung von Kobane gab es nicht nur eine linke Mobilisierung in der Türkei, sondern auch eine rechte. Verschiedenen Quellen zufolge sollen sich mehrere tausend Türken dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Dessen Zellen haben von der Türkei aus operiert, und es gab schon während der Belagerung Kobanes mehrfach Schußwechsel von der türkischen Seite aus. Im Juli kamen die Attentäter teilweise aus der Türkei, die das Massaker im Krankenhaus und in Wohnhäusern mit mehr als 250 Toten verübt haben. Auch die Attentäter von Suruc und Ankara sind durchweg türkische Staatsangehörige, die nicht in Ausbildungslagern im Ausland waren und auch nicht aus Syrien oder dem Irak entsandt worden sind.

Erdogan macht sich diese Polarisierung zunutze, wenn er gegen die PKK, die kurdische Bewegung und die HDP vorgeht. Natürlich muß er sich anderer Gruppen wie der Fethullah Gülens erwehren, der keineswegs liberal ist und 1980 den Militärputsch freudig begrüßt hat. Gülen hat es allerdings vorgezogen, nach Pennsylvania umzuziehen. In dem sich verschärfenden Kurdenkonflikt kann Erdogan auch darangehen, eine Koalition mit der MHP, also den türkischen Faschisten, aufzubauen. Es gibt in der Türkei keine konservativen Parteien mehr, da deren religiöse Anhänger zur AKP übergewechselt sind, während die teilreligiösen säkularen die MHP stärken, die inzwischen mehrere Bürgermeister auch in großen Städten stellt.

SB: Wie siehst du deine Präsenz hier auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg und welche Rolle könnte diese für eine linke Bewegung insgesamt spielen?

AS: Literaturmessen haben immer diesen Forumcharakter, so daß man seine Ideen einem breiteren Publikum vorstellen kann. Man muß sich nicht auf das Internet und die Printmedien beschränken. Die Literaturmesse eröffnet die Möglichkeit, über die ohnehin Interessierten hinaus mehr Menschen zu erreichen und Fragen zu debattieren, zu denen man selber vielleicht noch nicht vorgedrungen ist. So haben wir nach meinem Vortrag beispielsweise über abschreckende Beispiele des kurdischen Nationalismus wie Barzani diskutiert, der ursprünglich weit links stand und 1989 ein guter Kommunist war, sich jedoch nach dem Untergang der Sowjetunion und natürlich aufgrund schlichter machtpolitischer Fragen zum strammen Nationalisten gewandelt hat. Er kontrolliert die Gesellschaft nicht zuletzt durch die Unterdrückung der Frauen, mit der er die Männer zu seinen Komplizen macht. Es gibt sehr gute Texte der Frauenbewegung im Iran, die dieses Mißverhältnis darstellen: Wenngleich alle unterdrückt werden, hat der Mann immer noch die Möglichkeit, seine Frau zu unterdrücken.

Während sich deutsche Debatten relativ schnell um Islam und Religion drehen, spielen in den Diskussionen im Nahen Osten eher Fragen nach der Ideologie, nach der Vorherrschaft in der Gesellschaft und dem Zugriff auf die Ressourcen eine Rolle. Was ich bei Literaturmessen oder linken Bewegungen in Deutschland vermisse, ist das Zusammentreffen mit kritischen Menschen aus Nahost. Allerdings würden sich diesen bei der Rezeption der linken Bewegung in Deutschland und deren Debatten vermutlich oftmals die Fußnägel aufrollen.

SB: Attila, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] Ismail Küpeli (Hg.): Kampf um Kobane - Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens. Edition Assemblage, Münster 2015, ISBN 978-3-942885-89-8


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10. Februar 2016


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