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INTERVIEW/065: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Rückbesinnung nach vorn ...    Ingar Solty im Gespräch (1) (SB)


Großes Interesse an literarischer Kapitalismuskritik

Interview am 19. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin Mitte (1. Teil)



I. Solty in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ingar Solty
Foto: © 2016 by Schattenblick

Spätestens seit mit der sogenannten Weltwirtschaftskrise der Kitt des gesellschaftlichen Zusammenhalts bröckelig geworden ist, kann nicht mehr widerlegt werden, daß die vorherrschenden kapitalistischen Produktions- und Verfügungsverhältnisse das Überleben einer immer kleiner werdenden Elite zu Lasten anwachsender Mehrheiten organisieren und zuspitzen. Die zunehmende Nicht-Akzeptanz des Kapitalismus hat in den hochentwickelten Informationsgesellschaften allerdings noch nicht dazu geführt, daß die faktische Marginalität effektiver Gegenwehr überwunden werden konnte. Für eine solche Gegenkultur, deren Akteure sich nicht davon abbringen lassen, gerade in Zeiten wie diesen die Machtfrage zu stellen, könnte sich der Kulturbereich ungeachtet seiner Kommerzialisierung als konstruktives Medium erweisen, so seine Ausdrucks- und Kommunikationsfreiräume ungeachtet der ihnen womöglich zugedachten Befriedungsfunktionen in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Da dies selbstverständlch auch für die Literatur gilt, stellen Veranstaltungen wie die vom 19. bis 21. Mai im Literaturforum im Berliner Brecht-Haus bereits zum zweiten Mal durchgeführte Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" für Interessierte eine willkommene Gelegenheit zur Schärfung der Positionen im konstruktiv-kritischen Dialog dar. Unter der Projektleitung von Ingar Solty und Enno Stahl und mit reger Beteiligung zahlreicher Autorinnen und Autoren wie auch Literatur- und Kulturwissenschaftler wurden viele Fragen gestellt und diskutiert, die all jenen, die - schreibend - die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollen, unter den Nägeln brennen. Ausgehend von der Feststellung, daß die Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Abbau von Demokratie und Freiheitsrechten einhergeht, hatten die Organisatoren danach gefragt, welche Rolle Literatur und Literaten dabei spielen könnten, dieser Realität etwas entgegenzusetzen.

Kurz vor der Auftaktveranstaltung konnte der Schattenblick die Gelegenheit wahrnehmen, mit dem Publizisten und Politikwissenschaftler Ingar Solty ein längeres Gespräch rund um die Tagung(en) und die im Raum stehenden Fragen zu kritischer Literatur, politischer Ästhetik, Rebellion und Zukunftsgestaltung zu führen. Dabei kam die Entstehungsgeschichte der "Richtigen Literatur im Falschen?", die Bedeutung von Begriffen wie Realismus und Welthaltigkeit im Zusammenhang mit Literatur ebenso zur Sprache wie die verschiedenen Theorieansätze, die auf der Tagung zusammentreffen, der Sicherheitsdiskurs in der Linken, die Transformationsdebatte sowie die Renaissance des Revolutionsbegriffs. Das Interview erscheint wegen seines Umfangs in zwei Teilen.


Schattenblick (SB): Uns würde die Vorgeschichte der Vorgeschichte interessieren. Wie kam es eigentlich zu dieser Veranstaltungsreihe? Wer hat sie organisiert, wie ist die Idee entstanden?

Ingar Solty (InS): Es war zunächst meine lose Idee, gerade jetzt im Kontext der Krise einen Austausch zwischen sozial-realistischen bzw. im weitesten Sinne die Krise ästhetischen verhandelnden SchriftstellerInnen und Sozial- und LiteraturwissenschaftlerInnen einen Austausch zu organisieren. Diese Idee war selbst wiederum inspiriert durch sehr positive Erfahrungen im "North-Atlantic Left Dialogue" - einem Zusammenschluss von kritischen Intellektuellen diesseits und jenseits des Atlantiks, an dessen Gründung ich 2008 beteiligt war und der bis 2013 existierte und sich 1-2 Mal jährlich alternierend zwischen Berlin, Toronto und New York traf, um strategische Fragen einer gesellschaftlichen Linken zu diskutieren. Mit dieser losen Idee bin ich dann an Enno Stahl herangetreten. In Kontakt gewesen waren wir dabei schon vorher. Ich hatte einige Zeit davor "Diese Seelen", Stahls ersten multiperspektivischen Roman über den Neoliberalismus gelesen, und war hiervon und von einigen seiner Interviews sehr angetan, und bin darüber mit ihm in Kontakt getreten. Das fiel in die Zeit meiner zehnjährigen Redakteurstätigkeit bei der Zeitschrift "Das Argument", die ja von ihren Anfängen in den späten 1950er Jahren immer ein sehr enges Verhältnis zur Literatur und zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern gepflegt hat, von Günther Anders über Erich Fried, Christa Wolf und Peter Weiss bis heute Elfriede Jelinek und Volker Braun. Seinerzeit wollten wir Enno Stahl eigentlich bei unserem 50jährigen Jubiläums-Buch über "kritisch-intellektuelles Engagement" mit seiner Kurzgeschichte über den "Pförtner Barnik" dabei haben, aber daraus wurde dann leider nichts. Das änderte sich mit einem Aufsatz, den ich nach Erscheinen zu seinem - ja immer noch aktuellen - Roman "Winkler, Werber" [1] über die Werbebranche in der Krise schrieb und den ich ihm schickte, von dem er wiederum meinte, ich wüßte ja, daß ich ihm sehr schmeichle, und fügte hinzu, ich hätte "ziemlich genau bis in viele Details hinein die Absicht des Buches erkannt". Das schmeichelte natürlich mir wiederum und nach soviel gegenseitiger Schmeichelei wurde dann aus dieser losen Idee das Projekt "Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik". Nun und dann haben wir ein Brainstorming gemacht, welche Leute dafür in Frage kämen und natürlich auch Partner gesucht.

Denn ohne das Literaturforum im Brecht-Haus, das als institutionelle Schirmherrin und Mitorganisator der Veranstaltung in Erscheinung getreten ist, und ohne die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die die Veranstaltung ideell begleitet und finanziert hat, wäre das alles natürlich nicht möglich gewesen. Und so ist das Ganze also entstanden. Wir wußten auch nicht so genau, was uns erwartete, weil die Gruppe recht heterogen war, was ja auch bewußt von uns so gewählt worden war. Das reichte dann von denjenigen, die von Schriftstellern ein wirklich politisches Engagement im klassischen Sinne engagierter Intellektueller präferierten - Erasmus Schöfer steht vielleicht am meisten für diese Art politischer Schriftsteller -, bis hin zu denen, die das Politische eher im Schreiben selbst sehen, das heißt in der Art und Weise, wie sie Realität und Gegenwart im Kapitalismus verhandeln. Da gab es ein breites Spektrum ästhetischer und theoretischer Ansätze.

SB: Hat es in der Vorbereitung Diskussionen darüber gegeben, ob man ein gemeinsames Konzept vertreten möchte oder von vornherein eher sagt, wir wissen ungefähr, wo jeder so steht, und dann können die Teilnehmenden zu ihren jeweiligen Fachgebieten etwas machen?

InS: Es war klar, daß es heterogen werden würde. Das ergab sich schon aus der Auswahl der Personen, was teilweise auch davon abhing, wer gerade Zeit hatte. Einige Autoren, die wir einladen wollten, wie zum Beispiel Dietmar Dath konnten nicht kommen, bei anderen, die sofort auf der Zunge liegen, wenn man über Ästhetik und Politik und die Literatur der Krise nachdenkt, ist vielleicht auch bekannt, daß sie für diese Art öffentliche Veranstaltung aber nicht kommen würden. Es hätte also ein noch breiteres Spektrum geben können. Auch so war klar, daß hier unterschiedliche Auffassungen über die Art und Weise, wie Schriftsteller Kritik am Kapitalismus üben können, zusammentreffen würden und daß es am Ende kein Manifest geben würde und keine Gruppe 15, wie das teilweise noch zirkuliert hatte in Anlehnung an die Gruppe 47 oder Gruppe 61. Auch war von Anfang an klar, daß wir alle aus doch recht unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen - aus der Theaterarbeit, die sich ja doch sehr von der Lyrik- oder Erzählungsproduktion unterscheidet, aus der Hochschule und hier wiederum aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen etc. - kommen. Ich zum Beispiel habe zwar als Amerikanist auch einen literaturwissenschaftlichen Background, arbeite aber heute hauptsächlich als Sozialwissenschaftler und Politökonom und Enno eher als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Von daher war also klar, daß - in vielerlei Hinsicht - Übersetzungsarbeit zu leisten sein würde.

SB: Du hattest schon angedeutet, daß das Presseecho im letzten Jahr größer als erwartet war.

InS: Das stimmt. Wir hatten schon im Vorfeld bemerkt, als so viele Anfragen nach Platzreservierungen kamen, daß wir mit dieser Tagung offenbar einen Nerv der Zeit getroffen hatten. Trotzdem waren sowohl wir als die Organisatoren als auch das Brecht-Haus überrascht, wie groß das Medieninteresse dann am Ende war. Außer der FAZ und der NZZ haben eigentlich alle großen Tageszeitungen ausführliche Berichte gebracht: die Süddeutsche, die ZEIT, die Welt, auch die tageszeitung, der Freitag, das Neue Deutschland, die junge Welt, die jungle world etc. Daß der Deutschlandfunk, der diesmal wieder mit dabei ist, ein einstündiges Feature brachte, war für uns auch überraschend. Auf der anderen Seite sollte es uns eigentlich nicht wundern, daß es in Zeiten tiefer Dauerkrisen - von der Finanz- und Wirtschaftskrise bis zur Klima-, der sozialen und der Demokratiekrise - ein breites gesellschaftliches Interesse an diesen Fragen gibt und daß auch die Literatur das verhandelt und sich nicht in Phantasiewelten oder das sogenannte Private flüchtet.

SB: Daran möchte ich die Frage nach dem Übertrag anschließen. Hattet ihr euch vorher überlegt, wen ihr ansprechen wollt und welche Wirkungen die Diskussionen haben könnten?

InS: Ich kann da im Grunde nur für mich sprechen. Ich habe in der Tradition der Marburger Schule studiert und bin dann sozusagen Teil der Torontoer Schule in der Politikwissenschaft geworden und stieg noch während des Studiums in Marburg als Redakteur bei der Zeitschrift "Das Argument" ein, die, wie gesagt, eine sehr starke Orientierung auf Ästhetik und Literatur hat. Es gab also schon vor der ersten Tagung eine Verständigung darüber, wie bedeutsam eine Politik des Kulturellen für gesellschaftliche und politische Prozesse ist.

Die Diskussionen, die wir dann geführt haben, betrafen unter anderem die Frage, ob Literatur ein eigenständiges Erkenntnismedium der Wirklichkeit sein kann. Ich vertrete diese Position sehr stark. Im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften ist die Literatur nicht gezwungen zu abstrahieren. Sie kann die Lücke schließen zu der Frage, wie die sozialen Verhältnisse auf die Psyche - Motivation, Emotion und Kognition - der Individuen wirken. Wo die Sozialwissenschaften immer weiter abstrahieren, kann die Literatur diese Fragen ans konkrete Subjekt rückbinden, das in diesen Strukturen nach Handlungsfähigkeit strebt, lebt, liebt, leidet und sie zugleich auch durch aktives Handeln mitgestaltet, verändert, kollektiv verändert. Das macht die Literatur für mich so essentiell, um der Wirklichkeit ihre Wirklichkeit abzuringen - im permanenten Erkenntnisspagat zwischen handelndem Subjekt und gesellschaftlicher Struktur. Denn dass es eine solche Wirklichkeit gibt, daran sollten wir festhalten, und die Theorien, die sie aufgaben, haben vor allem Konfusion gesät, verrätselt und verdunkelt, was zu erhellen wäre.

SB: Welche Qualitäten müßte die Literatur wohl erfüllen, wollte sie der Beliebigkeit, die gesellschaftlich vorzuherrschen scheint, etwas entgegensetzen?

InS: Das ist eigentlich die Frage nach der Welthaltigkeit von Literatur. Natürlich kann viele Literatur einschließlich populärer Genres wie Fantasy- oder sogar die Horror-Literatur durchaus politisch sein, aber eben allein parabelhaft oder allegorisch, also auf eine sehr vermittelte Weise. Wir haben deshalb ganz bewußt versucht, den Begriff des Realismus wieder einzuführen, auch wenn mit ihm historisch viel Schindluder getrieben worden ist. Das war auch als Provokation gedacht. Wir wollten an ihm als offenes Programm festhalten, ihn aber auch immer wieder neu definieren als ein Ringen um die Frage, was welthaltige Literatur sein kann und wie Welthaltigkeit in die Literatur kommt - ein Programm, die Welt mit ästhetischen Mitteln besser verstehbar und erkennbar zu machen, um sie dann besser verändern zu können.

Zu der Frage, wie Literatur diesem Anspruch genügen könnte, gibt es dabei viele verschiedene Vorstellungen. Früher wurde gesagt, daß die moderne, avantgardistische Literatur, also das, was Joyce mit dem Bewußtseinsstrom gemacht hat oder John Dos Passos mit den Newsreels und dem Kamera-Auge, auch Franz Kafka, keine realistische Literatur sei. Hiergegen gesetzt hat Lukacs den klassischen bürgerlich-realistischen Roman des 19. Jahrhunderts: Balzac etwa. Und natürlich den sozialen und sozialistischen Realismus. Meine Haltung dazu ist, daß Literatur Wirklichkeit nicht einfach nur abbildet oder widerspiegelt, sondern besser verstehbar machen kann, indem sie sie - um mit Brecht zu sprechen - auch verspiegelt und die Wirklichkeit in ihrer Grundstruktur auch durch Verfremdung kenntlich machen kann, ja teilweise besser entlarven kann. Die alte Entgegensetzung zwischen klassischer und avantgardistisch-moderner Literatur geht hieran vorbei.


I. Solty vor einer Infotafel mit einem Brecht-Plakat - Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Literaturforum im Brecht-Haus
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Was würdest du unter einem politischen Roman verstehen? Gibt es deiner Meinung nach literarische Ausdrucksformen, die die Möglichkeiten anderer, auch politischer Publikationsfelder übersteigen?

InS: Es gibt eine lange Debatte über die Nutzlosigkeit der Literatur und darüber, daß sie zwar keinen politischen Mächten oder Zwecken dient - was sie natürlich tut, denken wir an das quasifeudale Stipendiensystem im heutigen Literaturbetrieb -, aber daß sie sozusagen das Gute, Wahre und Schöne einfängt. Deshalb können Autoren den Anspruch in sich fühlen - der ja auch an sie herangetragen wird -, von der Warte des Guten, des Wahren, des Schönen, der Warte der Aufklärung in die Gesellschaft einzugreifen, zeitgeschichtliche Konflikte zu kommentieren, zu bewerten. Natürlich hat sich die Öffentlichkeit heute sehr verändert, da muß man ganz anders drüber sprechen. Eine Literatur kann auch dann, wenn sie der Vorstellung entspricht, quasi selbstgenügsam zu sein, mit den Mitteln der Ästhetik selbst Aussagen über die Gesellschaft machen vor allem dann, wenn sie die Produktionsverhältnisse reflektiert, in denen sie entsteht, was ja Walter Benjamins Forderung an die Literatur war - als Voraussetzung ihrer Politisierung.

Die vermeintliche Nutzlosigkeit der Literatur macht sie potenziell zu einem breitenwirksam glaubwürdigen Medium. Die Figuren aus der Weltliteratur begleiten uns, sie stellen gewisse Weg- und Orientierungsmarken dar, um Haltung anzunehmen, Haltungspunkte. Auch lässt Literatur von einem besseren Leben träumen; neben ihrer analytischen Kraft, dem "Kältestrom", wie es Ernst Bloch nannte, wohnt ihr ja auch dieses Hoffnungsvoll-Sehnsüchtige, das, was Bloch den "Wärmestrom" nannte, inne. Dieser emotionale und utopische Überschuß wird dabei an literarische Figuren und Ästhetisches geknüpft, aber nicht unbedingt beispielsweise an sozialwissenschaftliche Texte. Die symbolische Bedeutung des Pergamon-Altars bei Peter Weiss, also die sich in der Kunst niederschlagenden und festgehaltenen Klassenkämpfe von unten, oder die symbolische Wirkung des Bethesda-Brunnens in Tony Kushners Drama "Angels in America", der Pflaumenbaum bei Brecht und Franz Josef Degenhardt, sie alle verkörpern ja mehr als sie physisch darstellen, sie sind mächtige Symbole der Befreiung, im Falle des Bethesda-Brunnens ja sogar eine Art kommunistische Erlösungsvorstellung. Hier kann sich die politische Literatur trauen, Sehnsüchte, Träume und Wünsche zu artikulieren, die sich beispielsweise in politischer Sachliteratur nicht schreiben lassen. Aber ohne das Träumen verkümmert der Mensch und ohne einen Kompass, woher er kommt und wohin er will, kann er und können Menschen, die die Welt verändern wollen, nicht handeln. Von daher kann Literatur meiner Meinung nach auch in dieser Hinsicht sehr viel leisten. Häufig wird dabei der Roman ja als grundbürgerliche ästhetische Form dargestellt, weil er eben vom Individuum ausgeht, während ja die Aufgabe kritischer Literatur es - mit Bernd Stegemann gesprochen - wäre, die vielen Fäden offenzulegen, in denen Menschen verstrickt sind, d.h. Individuen als gesellschaftlich vermittelt aufzuzeigen. Aus diesem Grund ist ja immer wieder die Position vertreten worden, das Drama sei eher geeignet, Grundstrukturen der Gesellschaft, gesellschaftliche Verhältnisse erkennbar zu machen, die weil sie Verhältnisse sind, eben auch verändert werden können. Aber natürlich wäre es vermessen zu glauben, der Roman könne nicht in diesem Sinne fortschrittlich politisch sein.

SB: Welchen Stellenwert hat denn deiner Meinung nach der Realismus-Begriff bei einem Roman?

InS: Da haben Enno Stahl und ich, was die deutschsprachige Literatur betrifft, einen kleinen Dissens. Er ist da in meinen Augen teilweise recht harsch bei dem, was er Pseudorealismus nennt. Der Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum fehlt seiner Meinung nach selbst dort, wo sie Wirklichkeit zu beschreiben versucht - er macht das unter anderem am Beispiel von Nora Bossongs "Gesellschaft mit begrenzter Haftung" kenntlich -, die Kraft und der Wille zur Analyse. Entsprechend will er einen analytischen vom Pseudorealismus getrennt wissen. Ich würde sagen, daß das natürlich immer auch die Frage ist, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Ich glaube, daß es viel Literatur gibt, die den Anspruch erhebt, nicht unreflektiert zu schreiben und nicht etwa immer nur das Milieu von Schriftstellern und Kreativarbeitenden der urbanen Mittelklassen widerzuspiegeln, so wie es Florian Kessler der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vorwirft. Natürlich sind auch Schriftsteller einer unglaublichen Prekarisierung ausgesetzt, Carolin Amlinger hat dazu sehr gute Arbeiten gemacht. Und das wirft ja für sich genommen schon viele Fragen auf in Bezug auf die Politisierung der Kunst, also Prekarisierung und Abstieg der Schreibenden selbst. Was zum einen ja die Abhängigkeit und damit den Konformismusdruck erhöht, aber zugleich ja auch viel stärker in die Wirklichkeit zwingt.

Jedenfalls erheben viele Autoren ja sehr wohl den Anspruch, den allgemeinen Veränderungen des Kapitalismus seit der neoliberalen Wende und den besonderen seit der Krise ihre zentralen Tendenzen abzuringen, womöglich ja sogar eine Art Gesellschaftspanorama des Neoliberalismus zu entwerfen. Vielleicht wäre Anna Katharina Hahns "Kürzere Tage" ein solcher Roman. Ich glaube aber, daß - wenigstens im deutschsprachigen Raum - die dominante Tendenz in den heutigen sozialrealistischen Romanen, wenn man sie denn so bezeichnen möchte, die einer Tragödie des Leistungsträgers ist, wie ich das in meinem im Herbst erscheinenden Buch "Ästhetik im Wandel des Kapitalismus" nenne. Also eine Literatur, die vor allem den Absturz von Mittelklassenangehörigen zum Inhalt hat: Christoph Heins "Weisskerns Nachlass", Annette Pehnts "Mobbing", Stephan Thomes "Grenzgang", sowas. Diese Literatur lenkt die Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen, lenkt nicht ab. Das ist ja gut. Denn gerade viele, die diesen Abstieg selbst erleben, flüchten sich ja in ihrem Kulturkonsum am liebsten vor dieser Wirklichkeit, weil sie ihnen alternativlos erscheint und sie nicht auch noch in ihrer Freizeit mit dieser angsterfüllten Wirklichkeit konfrontiert werden möchten. Deshalb sicherlich auch der Boom von Fantasy, "Game of Thrones" etc. Meine Frage ist jedoch: Wie stark ist das befreiende Element, Menschen im sozialen Abstieg zu erleben, wie das beispielsweise in "Winkler, Werber" verhandelt wird, wo dann im Abstieg zunehmend die Ellenbogen ausgefahren werden? Der Leser kann auf Distanz zu diesen Personen und damit auch diesen Prozessen gehen und sagen: So möchte ich nicht sein, ich möchte mich dagegen solidarisch verhalten etc.

Ich glaube, daß es dieses befreiende, kathartische Moment auch in der Tragödie des Leistungsträgers, der Abstiegsliteratur gibt, glaube aber auch, daß sie die Gefahr birgt, daß sie die gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme sozusagen verdoppelt. Denn das Bewußtsein, in einer Abstiegsgesellschaft zu leben, ist ja weit verbreitet und gerade die Allgemeinheit dieses Bewusstseins, auch des Zerfalls der öffentlichen Infrastruktur, also vieles, was antineoliberal ist, ist ja zugleich Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus, wenn es gefühlt keine solidarischen Alternativen gibt, keine Vorstellung, wie es besser werden könnte, wie man aus der Ohnmacht des Abstiegs oder der Abstiegsangst heraus kommt. Denn der Neoliberalismus ist ja längst nicht mehr hegemonial, die Mitte zerbröselt, die Gesellschaft polarisiert sich. Und das geht dann nach rechts, weil und wenn es an konkreten Erfahrungen mangelt, wie man auch politisch anders leben und handeln könnte. Häufig fehlen aber gerade in der deutschsprachigen Literatur diese politischen Dimensionen oder Ansätze für kollektiv-solidarisches Handeln auch im Kleinen. Das ist für mich der Knackpunkt, wie man politische Literatur heute diskutieren müsste.

Z.B. gibt es Literatur, die durchaus sehr gegenwarts- oder welthaltig ist, wie zum Beispiel "Grenzgang" von Stephan Thome, ein Roman, der sozial sehr glaubwürdig, weil psychologisch eindrucksvoll präzise ist. Weil man weiß, dass viele Menschen genauso fühlen, denken und handeln. "Grenzgang" beschreibt einen habilitierten Historiker, dessen Stelle nicht verlängert wird. Er wirft mit einer letzten Geste des Widerstands einen Stein durch das Fenster seines Instituts, geht zurück in seine hessische Heimatstadt, wo er das Fest Grenzgang mitfeiert, und eine Frau trifft, die von ihrem Mann verlassen wurde, deren Träume also auch gescheitert sind. Die beiden kommen zusammen und finden trotz ihrer unterschiedlichen Lebenswege und Unzufriedenheiten eine Form des Glücks. Ein solcher Roman ist sehr glaubwürdig und nah an der Realität, denn es gibt diese Lebensläufe in dieser oder jener Weise zuhauf, aber zugleich hat er eine sehr konservative Tendenz, weil er die Option bietet, sich in einer Welt abgesenkter Erwartungen einzurichten und wie der kanadische marxistische Theoretiker Sam Gindin einmal gesagt hat: Der größte Sieg des Neoliberalismus sei die Senkung unser aller Erwartungen an das Leben gewesen. Also in Bezug auf ein sicheres und gutes Leben. Welthaltigkeit und Glaubwürdigkeit können also auch eine melancholisch-konservative Grundtonalität beinhalten.

SB: Wenn es in der Intention der Autoren liegt, über eine soziale Realität aufzuklären, von der vielleicht viele Menschen nichts wissen und noch nicht betroffen sind, könnten diese Schilderungen vom Staat und den im Kapitalismus herrschenden Kräften dankbar aufgenommen werden, weil damit Abstiegsängste und ihre disziplinierenden Wirkungen noch verstärkt werden. Läuft ein engagierter Autor nicht Gefahr, unwillentlich dazu beizutragen, Angst und Schrecken zu verbreiten? Habt ihr in der Vorbereitung der Tagung über solche Probleme gesprochen?

InS: Konkret über diese Fragestellung nicht. Wir haben aber über eine unter den Schriftstellern, die im letzten Jahr dabei waren, verbreitete Wahrnehmung gesprochen, nämlich daß Literatur, wie wir sie diskutieren, durch die Veränderungen der Öffentlichkeitsstrukturen keine Breitenwirksamkeit mehr hat und auch nicht mehr erleben wird. Und das und nicht nur die Angst vor dem Damoklesschwert "Tendenzliteratur" ist ja auch ein wesentlicher Grund, warum viele Schriftsteller heute zögern, sich das Etikett "engagierte Literatur" anzuheften - nach dem Motto: Wer bin ich? Denn selbst die Feuilleton-Lieblingsromane, die Literaturpreise abgreifen und sich fünfstellig, vielleicht auch sechsstellig verkaufen, haben verglichen mit Blockbuster-Filmen oder nicht-realistischen Romanen wie "Fifty Shades of Grey" oder den Büchern von Autoren wie David Baldacci oder Stephen King ja einen sehr geringen Einfluß auf das Massenbewusstsein. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Wirkung, die du eben beschrieben hast, überhaupt von Romanen ausgeht oder nicht eher von den Reichtums- und Armutsberichten, die über Spiegel Online oder Zeit Online Millionen Menschen in Deutschland vermitteln, daß sie in einer Abstiegsgesellschaft leben. Manche ziehen daraus den Schluß, die Ellenbogen auszufahren und irgendwie noch durchzuschlüpfen, während es links und rechts von ihnen schon gluck, gluck, gluck macht. Andere verfolgen politische, kollektiv-solidarische Lösungsansätze oder treten - dritte Möglichkeit - den Rückzug ins Private an. Daß Zeitschriften wie "Landlust", die mit dem ganzen Yoga-Achtsamkeitskram individuelle Entschleunigung im kollektiven Beschleunigungskapitalismus versprechen, binnen weniger Jahre zu einer höheren Auflage kommen als der Focus oder annähernd mit dem Spiegel gleichziehen, kennzeichnet eine starke Tendenz sozusagen zu einem privatisierten, anti-neoliberalen Verhalten. Es ist in gewisser Weise oppositionell, aber nicht nur folgenlos, sondern verstärkt das System noch, das die Menschen bedrängt. Wie "Rage Against the Machine" einmal sangen: "There'll be no shelter here - the frontline is everywhere."

Die Möglichkeiten der Literatur werden da also vielleicht grundsätzlich überschätzt. Ich glaube, daß kritische, eine revolutionäre Literatur letztlich entsteht, wenn auch Bewegungen existieren, die auf die Veränderung der Verhältnisse drängen. Die Vorstellung, daß Literatur selbst die Welt verändern könnte und nicht ein Teil, ein wesentlicher Teil dieser Veränderung ist, halte ich für überzogen. Überspitzt formuliert: Erst mit sozialen Bewegungen und neuen politischen Kräften wird auch die Literatur kritischer. In Spanien und Griechenland beispielsweise sind durch die Bewegung neue Formen der ästhetischen Artikulation entstanden. Ich denke an die vielen proletarischen Rapper, die sich wieder an nicht-gerappten poetischen Formen versuchen, wie es jetzt unter dem Stichwort neue griechische Poesie andiskutiert worden ist. Darin sehe ich eine Reflexion tieferer gesellschaftlicher Prozesse und Mobilisierungen, die zu dieser Entwicklung beitragen können, aber Literatur kann meiner Meinung nach solche Bewegungen nicht von sich aus hervorrufen.

(Fortsetzung folgt)


Fußnote:

[1] Der Roman "Winkler, Werber" von Enno Stahl ist 2012 im Verbrecher Verlag, Berlin erschienen. Der Artikel von Ingar Solty ist unter dem Titel "Die Tragödie des Leistungsträgers. Enno Stahls literarische Kritik des Neoliberalismus im Kontext des neuen sozialen Realismus" in der Zeitschrift "Z - Marxistische Erneuerung", Bd. 101, März 2015 veröffentlicht worden.


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16. Juni 2016


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