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INTERVIEW/068: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - gedruckte und gelebte Utopie ...    Raul Zelik im Gespräch (SB)


Die revolutionäre oder zumindest radikale Klaviatur spielen

Interview am 20. Mai 2016 im Brecht-Haus in Berlin Mitte



R. Zelik in Großaufnahme - Foto: © 2016 by Schattenblick

Raul Zelik
Foto: © 2016 by Schattenblick

Raul Zelik, 1968 in München geboren, ist Schriftsteller, Publizist und Sozialwissenschaftler und lebt nach längeren Aufenthalten in Lateinamerika seit 2013 wieder als freier Autor in Deutschland. Von 1990 bis 1995 studierte er Politikwissenschaft und Lateinamerikanistik an der FU Berlin und promovierte 2008 mit einer Studie über Paramilitärs in Kolumbien. Im selben Jahr erhielt er eine Gastprofessur am Institut für Politische Studien und Internationale Beziehungen in Bogotá, von 2009 bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland war er als Professor für Politikwissenschaften an der Nationaluniversität Kolumbiens tätig.

Publizistisch ist Raul Zelik für deutschsprachige Medien wie den Freitag, die Zeit und die Schweizer Wochenzeitung tätig, desweiteren hat er Hörfunk-Features für den WDR, den Deutschlandfunk und weitere öffentlich-rechtliche Sender produziert. Seine Romane und Sachbücher, die sich nicht selten auf Lateinamerika, wo er sich bereits seit Mitte der 1980er Jahre häufig aufhielt, beziehen, erschienen bis Anfang 2012 im Blumenbar-Verlag, seitdem ist er bei Suhrkamp.

Wie schon im vergangenen Jahr gehörte er auch bei der zweiten Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" zu dem geladenen Kreis engagierter Autoren und Autorinnen wie auch Literatur- und Kulturwissenschaftler, die sich im Literaturforum im Brecht-Haus zusammenfanden, um die brennenden politischen Fragen ihrer Zunft ebenso offensiv wie konstruktiv zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Welche Rolle eine kritische Literatur einnehmen könne angesichts einer gesellschaftlich massiv zugespitzten Entwicklung, die von anwachsender sozialer Ungleichheit sowie dem Abbau von Demokratie und Freiheitsrechten gekennzeichnet ist, war die zentrale Frage der dreitägigen Tagung. Am Rande der Veranstaltung erklärte Raul Zelik sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.

Schattenblick (SB): Es geht hier auf der Tagung auch um die Frage, wie politisch ein Roman heute noch sein kann. Enno Stahl hat gesagt, der politische Roman wäre tot. Sie sind, nicht zuletzt mit dem Roman "Der bewaffnete Freund" [1], im Grunde ein Gegenbeispiel. Ein FAZ-Rezensent hat bei diesem Roman vermutet, daß Sie mit der Figur des Max eine bewußte Entscheidung gegen die Innerlichkeitsprosa unserer Tage getroffen hätten. Wo sehen Sie die Chancen, aber vielleicht auch die Grenzen der Möglichkeiten, auf literarischen Wegen politisch Stellung zu beziehen und Einfluß zu nehmen?

Raul Zelik (RZ): Ich würde gar nicht als Ziel formulieren, da Einfluß nehmen zu wollen. Ich glaube, daß es in erster Linie darum geht - zumindest bei der Art zu schreiben, die mich interessiert -, daß man gesellschaftliche Verhältnisse thematisiert. Das hat natürlich immer auch eine Dimension des individuellen Leids, wenn man über gesellschaftliche Verhältnisse meint reden zu müssen, weil man zum Beispiel ihre Ideologisierung und Naturalisierung nicht erträgt und sie aufbrechen oder zumindest Risse aufmachen will. Das ist natürlich auch immer davon abhängig, ob es einen Resonanzkörper gibt. Es gibt einfach nur einen sehr begrenzten Kreis von Leuten, die sich solchen politischen oder gesellschaftskritischen Fragen stellen wollen, vor allem auch aus einer Innenperspektive.

In den Büchern, die ich geschrieben habe, wurde immer auch die Frage gestellt: Wie ist das eigentlich aus der Perspektive von Aktivisten? Das ist für viele Leute schon so weit weg, daß es für sie schwer nachvollziehbar ist. Am besten funktioniert das noch, wenn es aus der Perspektive anpolitisierter Jugendlicher erzählt wird, dann ist das vielleicht noch so eine Art Bildungsroman. Ansonsten funktioniert so ein Sujet nur sehr schwer, wenn es dazu nicht auch die entsprechenden Bewegungen gibt. Deswegen würde ich sagen, der politische Roman ist vielleicht nicht tot, aber er hat es natürlich sehr schwer.

SB: Ist das nicht auch so ein bißchen die Frage, wie man "politisch" überhaupt definieren will?

RZ: Auf jeden Fall. Es gibt sicherlich viele Facetten der Gesellschaftskritik, aber jetzt bei einem politischen Roman im engeren Sinne, der sich tatsächlich mit politischen Bewegungen und ihren Akteuren auseinandersetzt, hat das natürlich in Deutschland konkrete Grenzen, weil es hier gar nicht so viele Bewegungen gibt, in denen tatsächlich viel passiert - was sich vielleicht auch wieder ändert, in Europa sind ja in den letzten Jahren schon mehr entstanden. Auf jeden Fall ist klar, daß so eine Literatur einen Bewegungshintergrund braucht.

SB: Haben Sie denn, was die Resonanz betrifft, Erfahrungen gemacht, daß Menschen, vielleicht gerade auch jüngere, durch Romane dieser Art politisiert wurden? Daß sie also durch das Lesen, und sei es auf der Unterhaltungsebene, dazu gekommen sind, sich mit einer gesellschaftlichen Realität auseinandersetzen, die ihnen bis dahin völlig fremd war?

RZ: Nein. Literatur hat ja auch keinen Erziehungsanspruch, und ich finde auch nicht, daß sie ihn haben sollte. Aber für mich selber kann ich sagen, daß für mich die Politisierung auch verzahnt war mit Büchern, die ich gelesen habe. Döblins "1918" [2] zum Beispiel war für mich ein wichtiges Buch. Historische Bücher, Biographien und Autobiographien waren für mich auch sehr wichtig, weil sie gesellschaftliche Fragen aufwerfen und das Verhalten einzelner in bestimmten Situationen beschreiben, was dann natürlich etwas mit meiner Politisierung zu tun hatte. Und es gibt schon auch Leute, die mir gesagt haben, daß die Lektüre meiner Bücher für sie in bestimmten Phasen wichtig war. Aber es wäre meiner Ansicht nach eine Überforderung zu glauben, daß Literatur, Film oder Kunst eins zu eins einen politischen Bildungsauftrag hätte. Das glaube ich nicht.


R. Zelik spricht - Foto: © 2016 by Schattenblick

Politisierung versus politische Bildung
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Hier auf der Tagung geht es unter anderem auch um die Frage "Futuring oder Akzeleration?". Sie haben sich bereits intensiv mit dem Akzelerationistischen Manifest von 2013 beschäftigt. Können Sie für den Laien die Kernthesen zusammenfassen und Ihre Stellung dazu deutlich machen?

RZ: Ich habe mich vor allem mit dem neuen Buch von Nick Srnicek und Alex Williams "Inventing the Future" beschäftigt. [3] Ihre Hauptthese ist, daß Linke wieder stärker damit argumentieren müßten, daß der technische Fortschritt etwas Positives sei. Sie sagen, die Linke hätte sich in Kleinprojekte zurückgezogen, was sie "folk politics" nennen. Den Linken ginge es also um lokalistische Basisprojekte, ökologischen Landbau und gesundes Essen, um das einmal zu ironisieren, und darüber hätten sie die gesellschaftlichen Gesamtverhältnisse aus dem Blick verloren. Srnicek/Williams meinen, wir müßten viel stärker auf den technischen Fortschritt setzen, weil der das Potential habe, uns aus einer Gesellschaft der Unmündigkeit und der Lohnarbeit zu befreien und in eine Gesellschaft des Überflusses und der Freiheiten überzuführen.

Meiner Ansicht nach ist das eine eigenartige Verkürzung. Es gab ja nicht von ungefähr eine Abkehr von solchen Vorstellungen und im 20. Jahrhundert ein Scheitern dieses Befreiungsversprechen durch Technik aufgrund der traumatischen Erfahrung, daß technologischer Fortschritt nicht zu Emanzipation, sondern zu einer Verschärfung von Herrschaft und Vernichtung führt. Das war auch die Kritik der Frankfurter Schule. Dann wurde die Frage gestellt, was der technische Fortschritt mit Auschwitz zu tun hat, und danach gab es eine sehr breit aufgestellte Debatte, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kam und bei der gefragt wurde, inwiefern Technik nicht auch Machtverhältnisse verfestigt oder materialisiert.

Bestes Beispiel ist das Fließband. Das Fließband ist nicht dazu da, die Menschen in eine Überflußgesellschaft zu führen, sondern ist in erster Linie erfunden worden, damit die Arbeiter nicht mehr selbst entscheiden können, welche Handgriffe sie machen, sondern durch die Taktung des Fließbands leichter diszipliniert werden können, weil schnell sichtbar wird, wenn jemand faul ist. Da zeigt sich, daß es keine neutrale Technik gibt, zumindest war das die Erkenntnis der 60er Jahre in der Kritik der Linken, vor allem in der Technikkritik. Sie haben gesagt, daß sich in der Technik eigentlich Herrschaftsverhältnisse vergegenständlichen.

Ich glaube, auf diese Diskussion müßte man sich auch heute beziehen. Das ist auch eine Kritik, die ich an Dietmar Daths und Barbara Kirchners Buch "Implex" [4] hätte, denn das geht in eine ähnliche Richtung und hat auch einen sehr positiven Bezug auf technischen Fortschritt. Ich finde es dabei wichtig zu sagen, daß wir uns wieder einen sozialen Fortschrittsbegriff aneignen müssen. Wir müssen auch darauf setzen, daß es eine Zukunftserzählung gibt, wir müssen die Zukunft wieder neu erfinden.

Eigentlich bin ich sehr froh darüber, daß es überhaupt wieder eine Debatte gibt, die über den Kapitalismus hinausreicht. Aber ich finde, sie müßte schon ein bißchen geschichtsbewußter sein und vor allen Dingen sich selber kontextualisieren, sich also in die historischen Kontexte und gesellschaftlichen Zusammenhänge stellen. Wer nicht der Meinung ist, daß diese Argumente Gewicht haben, sollte sie widerlegen, dann könnte man auch mit ihnen abschließen. Das Problem ist nur, daß viele sich einfach gar nicht auf diese Argumente beziehen und so tun, als hätte es sie nie gegeben. Sie lassen sozusagen 50 Jahre Diskussionen und Auseinandersetzungen einfach hinten überkippen.

SB: Wie erklären Sie sich das?

RZ: Ich glaube, die Akzelerationisten sind junge Leute, die eigentlich gar nicht wirklich aus der aktivistischen Linken kommen, zumindest teilweise, und sich jetzt eine bestimmte, sehr geschichtsoptimistische Lesart von Marx aneignen, was ich ja prinzipiell ganz gut finde, aber eben auch ein bißchen ahistorisch. Der Akzelerationismus ist in Deutschland ohnehin noch einmal etwas ganz anderes, weil es dabei eigentlich gar nicht mehr um diesen politischen Kern geht, sondern eher darum, im Feuilleton eine neue Philosophieschule zu etablieren, was ich für eine Vermarktungsstrategie halte. Davon abgesehen denke ich, daß diese Debatte jetzt noch einmal neu aufgetaucht ist im Zusammenhang mit dem Buch von Paul Mason über Postkapitalismus, in dem gesagt wird, in der technischen Entwicklung würden mehr Möglichkeiten der Emanzipation stecken. [5]

Davon bin ich nach wie vor nicht so ganz überzeugt, weil die technische Entwicklungen, die es in den letzten fünf Jahrtausenden gegeben hat, nicht unbedingt die Emanzipation vorangetrieben, sondern eigentlich immer die Klassenverhältnisse verschärft haben. Es gibt also zumindest beide Elemente darin. Man müßte meiner Meinung nach eigentlich eine Strategie entwickeln oder zumindest sagen, wie eine solche Strategie aussehen könnte, damit wir die emanzipatorischen Momente nutzen und die autoritären blockieren können.

SB: Die Degrowth-Bewegung, in der aufgrund der Klimaproblematik gesagt wird, es müsse eine sozial-ökologische Transformation geben, stellt Technik und Technolgieentwicklung sehr in Frage. Könnte es sein, daß dieses Neuaufkommen technikgläubiger Vorstellungen auch damit zu tun haben könnte, diesen Diskurs beiseite zu drängen, obwohl er ohnehin nicht besonders stark wahrgenommen wird?

RZ: Das kommt vielleicht darauf an, von welcher Degrowth-Debatte man spricht. Wenn es darum ginge, technik-feindliche Degrowth-Bewegungen zur Seite zu drängen, würde das ja für mich ein bißchen mehr Sinn machen. Degrowth heißt ja nicht, aus einer Entwicklung auszusteigen, die technische Neuerungen hervorbringt, sondern daß in den industrialisierten Staaten und vor allen Dingen in den globalen Mittel- und Oberschichten der materielle Reichtum sinken muß, was sowohl eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse bedeuten würde als auch eine Befreiung aus den Wachstumszwängen des Kapitalismus.

Es stimmt allerdings, daß es zur Zeit eine sehr starke Postwachstumsdebatte gibt, die nicht diese antikapitalistische Perspektive hat, sondern bei der es nur darum geht sich vorzustellen, wie eine Wirtschaft aussehen könnte, die nicht mehr wächst. Aber in der eigentlichen Degrowth-Theorie, so wie Serge Latouche sie entwickelt hat, gibt es eine sehr starke kapitalismuskritische Komponente. Meiner Ansicht nach heißt das eben nicht zu sagen, wir brauchen keine technischen Neuerfindungen mehr, sondern daß wir mit den Wachstumszwängen brechen sollten. Daß die ökonomische Entwicklung und Ausweitung der Produktion nicht an dem interessiert ist, was Menschen brauchen, sondern daran, wie sich das Kapital vermehren und der Profit vergrößern läßt, ist ja eine alte linke Kritik.

SB: Sie haben 2010 mit Elmar Altvater ein Gesprächsbuch über die Chancen nicht-kapitalistischer Staaten herausgebracht. Sind darin auch ideologische Konzepte aus Lateinamerika eingeflossen? Konzepte wie Buen Vivir sind ja auch hier in Europa ein bißchen, wenn man das so sagen kann, in Mode gekommen. Lassen sich Ihrer Meinung nach solche Vorstellungen überhaupt in eine andere Kultur übertragen? Wie sinnvoll ist das?

RZ: Das Buch ist im April 2015 neu erschienen. Da geht es aber eher um eine allgemeine Kritik der bestehenden Verhältnisse und das Aufzeigen von Veränderungsperspektiven oder postkapitalistische Horizonte. Buen Vivir spielt in dem Buch nicht so eine große Rolle. Ich glaube, es ist auch in Lateinamerika gar nicht so klar, was damit eigentlich gemeint ist. In indigenen Gemeinschaften gibt es das Konzept von Sumak Kawsay oder Suma Kamanja, das sind bei den Ketschua- und Aymara-Indianern zwei unterschiedliche Begriffe. Das steht in der Verfassung mancher Länder mit den indigenen Begriffen, die eigentlich "Leben in Harmonie mit Gemeinschaft und Natur" bedeuten. Wenn man sich dann aber ansieht, was als "gutes Leben" von den Regierungen Boliviens und Ecuadors umgesetzt oder verstanden wird, dann ist das letztlich doch nur die klassische Wohlstandspolitik bzw. Erweiterung von Konsummöglichkeiten.

Ich glaube aber, die Debatte ist nichtsdestotrotz ganz interessant, weil sie eine Frage aufwirft, die für uns ganz zentral werden wird, wenn wir über Postkapitalismus nachdenken, nämlich wie wir Imaginarien entwickeln, uns also über ein Begehren und auch Wünsche verständigen können, die außerhalb der kapitalistisch geprägten Verhältnisse liegen. Solange wir alle glauben, ein "gutes Leben" würde sich im individuellen Zugang zu Shopping Malls ausdrücken und einer bestimmten Konsum- und Lebensweise, die es schon gibt und die von Markt und Profit, also den Kapitalverwertungsinteressen des Kapitalismus, geprägt ist, können wir keine andere Gesellschaft schaffen. Der US-amerikanische Marxist und Stadtgeograph David Harvey hat das einmal sehr schön beschrieben, als er gesagt hat: Es ist so absurd, ich komme nach Ecuador, wo so viel vom "guten Leben" die Rede ist, und stehe auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt erst einmal drei Stunden im Stau, weil das "gute Leben" darin besteht, daß alle neue Autos haben wollen.

Was in den letzten Jahren dabei sichtbar geworden ist, sind Shopping Malls für neue Konsumentenschichten. Es wurde mehr Leuten ermöglicht, an der bestehenden kapitalistischen Lebensweise teilzuhaben. Daran zeigt sich ziemlich deutlich - das war auch die Schlußfolgerung von David Harvey -, daß wir radikal andere Konsummodelle brauchen. Das bedeutet natürlich auch, daß wir uns kollektiv darüber verständigen müssen, was eigentlich ein "gutes Leben" wäre, das uns Freude bereiten würde. Zu klären wäre auch, daß die Verringerung bestimmter Formen des Konsums keinen Verlust an Lebensqualität und -freude bedeuten würde und daß das nichts mit Verzicht zu tun hat. Das ist eigentlich die große kulturelle Herausforderung, weil es darum geht, neue Imaginarien des "guten Lebens" zu schaffen. Die Diskussion wäre eigentlich ganz gut geeignet, um zu sagen, daß es natürlich ein "gutes Leben" gibt, das radikal außerhalb dessen liegt, was uns die kapitalistische Konsumgesellschaft vorgibt.

SB: Lassen Sie uns noch einmal zurückkehren nach Europa. Sie haben vor einigen Monaten die Gründungserklärung von DiEM 25, eine neue Bewegung für Demokratie in Europa, mitunterschrieben. [6] Viel Bewegung ist nach meinem Eindruck bislang daraufhin nicht entstanden, es wirkt ein bißchen so, als wenn da eine Oppositionsführung wäre, der die Basis noch fehlt. Wie schätzen Sie das ein?

RZ: Der Einwand, daß Bewegungen nicht durch die Initiative einzelner Prominenter geschaffen werden, ist natürlich richtig, aber das trifft auch auf andere Sachen zu. Eine Bewegung wird nicht dadurch geschaffen, daß sich irgendeine Gruppe etwas vornimmt. Bewegungen haben immer auch ein eher völlig zufälliges Moment. Woran sie sich entzünden, ist im Vorfeld schwer vorherzusagen. Aus diesen Gründen habe ich nie geglaubt, daß aus DiEM25 tatsächlich eine breite, wichtige Bewegung werden wird. Trotzdem finde ich den Versuch von Varoufakis und anderen, Leute aus ganz unterschiedlichen Spektren zusammenzubringen und noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, daß wir eine radikale Demokratisierung der Europäischen Union und radikal andere gesellschaftspolitische und soziale Inhalte in Europa brauchen, total richtig. Deswegen finde ich diese Initiative gut und bin auch hingegangen.

Es wäre natürlich wünschenswert, wenn sich da mehr täte. Es gab zum Beispiel eine Plan-B-Konferenz in Madrid. Da merkt man schon, daß in vielen europäischen Ländern über Alternativen zur EU oder auch außerhalb der EU diskutiert wird. Das alles sind meines Erachtens wichtige Debatten, auch um unsere Vorstellungswelt zu erweitern, daß außerhalb des Bestehenden Alternativen denkbar sind. Aber was das dann genau sein wird, weiß ich natürlich auch nicht zu sagen, oder welche dieser Initiativen jetzt wirklich einmal zünden könnte. Ich finde, man sollte das alles ausprobieren und alles, was ausprobiert wird, auch erst einmal würdigend begrüßen.

SB: Wenn wir jetzt schon so viel über Zukunftsfragen gesprochen haben, möchte ich auch noch einmal auf Ihren Essay "Vergesellschaftung der Macht" zurückkommen, um - ein bißchen theoretisch-grundsätzlich vielleicht - von Ihnen noch eine Stellungnahme zu Reformismus, Transformation, Revolution zu erfragen.

RZ: Ich glaube, daß es ganz hilfreich ist, was Eric Olin Wright dazu geschrieben hat. Er sagt, daß die klassischen Transformationsstrategien des 20. Jahrhunderts - der Reformismus, die Revolution und die Nischen, worunter Genossenschaften, Landkommunen oder so etwas verstanden werden - allesamt gescheitert oder an ihre Grenzen geraten sind. Er meint, man müßte eigentlich die Frage stellen, wie man sich die bestehenden Strategien wenn nicht ganz neu ausdenken, so doch vielleicht komplementärer zusammensetzen kann. Ich glaube, daß das schon einmal ein guter Hinweis ist und daß sich das Verhältnis von Reform und Revolution viel weniger entgegengesetzt darstellt, als das im 20. Jahrhundert lange Zeit zu sein schien.

Rosa Luxemburg hat schon am Anfang des 20. Jahrhunderts den Begriff der "revolutionären Realpolitik" geprägt. Seit den 90er Jahren ist der wieder in der Debatte. Es wird von Reformen gesprochen, die nicht in erster Linie als Verwaltungstechniken von oben begriffen werden, sondern als eine subversive, transformatorische Strategie von unten. Wesentlich ist dabei, glaube ich, daß es natürlich um eine Verbesserung der Lebens- und Kampfbedingungen geht, aber daß dies sozusagen von unten vorangetrieben wird - nicht als Verwaltungstechnik, sondern als entwickelte Gegenmacht aus der Gesellschaft heraus. Der Schwerpunkt verlagert sich raus aus der Regierungs- und Staatsperspektive hin zur Gesellschaft oder - wenn man so will - zu den Subalternen, den Unterdrückten und den Machtfernen.


R. Zelik im Interview - Foto: © 2016 by Schattenblick

Gegenmacht kommt von unten
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ich glaube, daß sich, wenn man so denkt, sehr schnell und sehr viele Handlungshorizonte auftun, weil es dann einfach darum geht, all jene Ansätze stark zu machen und an ihnen zu arbeiten, die die herrschenden Machtverhältnisse zurückdrängen zum Beispiel durch die Verschiebung der Eigentumsverhältnisse. Alles was Gemeineigentum stärkt, hätte insofern einen transformatorischen Charakter, alles was Privateigentum zurückdrängt, die Grundversorgung der Menschen sicherstellt - Gesundheit, Bildung, öffentliche Dienste, Nahverkehr - und den Druck rausnimmt für die Leute von unten, die Angst haben müssen.

Das heißt, daß alles, was in der Gesellschaft Empathie und Solidarität befördert, was es ermöglicht, daß Leute jenseits kommerzialisierter Räume zusammenkommen und gemeinsame Praktiken entwickeln, und alles, was demokratische Prozesse von unten stärkt und die Leute zu agierenden Subjekten macht, etwas Ermächtigendes hat. Meiner Ansicht nach hat das alles einen revolutionären oder radikal verändernden Charakter, trotzdem wären das einzelne Veränderungen. Insofern könnte man von einer reformistischen Strategie mit revolutionären Zügen sprechen. Auf der Ebene von Regierung und Staatlichkeit, die selbstverständlich nicht der Schwerpunkt linker Politik ist, aber hier auch eine Rolle spielt, ist es tatsächlich so, daß es auch etwas bringen kann, wenn von den Institutionen und Regierungen Gesetze erlassen werden, die zum Beispiel Genossenschaften, den ökologischen Umbau der Gesellschaft oder die Energiewende fördern.

Das ist gut und wichtig. Zumindest im Stromsektor ist das gar nicht so schlecht, was sich da in Deutschland durch die Energiewende verändert hat. Trotz aller Einwände, die es dagegen gibt, ist das bemerkenswert. Man kann beobachten, wie das die Struktur in Deutschland verglichen auch mit anderen europäischen Ländern verändert hat. Aber ich glaube, daß ein solcher Reformismus nicht dadurch funktioniert, daß gute Leute in die Regierung gewählt werden, sondern weil es Druck von unten und gesellschaftliche Drohungen gibt, wenn also sozusagen auch die revolutionäre oder zumindest die radikale Klaviatur gespielt wid.

Interessant ist ja auch, daß solche linken Reformen von Staatsseite und progressive Gesetze bisweilen auch von rechten Regierungen erlassen werden, wenn der gesellschaftliche Druck groß genug ist. An der Energiewende ist bemerkenswert, daß sie von der Unionsregierung beschlossen wurde, als der gesellschaftliche Druck groß genug war. Daran kann man sehen, daß die institutionelle Festschreibung einer bestimmten Politik wichtig ist, weil sie Spielräume eröffnet und auch die Mittel bereitstellt, aber daß das nicht gleichbedeutend damit ist, daß Linke auch an der Regierung beteiligt sind. Vor allen Dingen ist es Ausdruck einer Dynamik, die für die Eliten außer Kontrolle zu geraten droht, weshalb es dann eine gewisse Bereitschaft gibt, Zugeständnisse zu machen.

SB: Vielen Dank, Herr Zelik, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Der Roman "Der bewaffnete Freund" von Raul Zelik erschien 2007 im Blumenbar-Verlag und thematisiert den baskischen Konflikt anhand der Freundschaft zwischen zwei recht verschiedenen Menschen.

[2] Alfred Döblin, "November 1918. Eine deutsche Revolution", Erzählwerk in vier Bänden von 1949/50

[3] Die britischen Theoretiker Nick Srnicek und Alex Williams haben 2013 ihr "Manifesto for an Accelerationist Politics" veröffentlicht (auf deutsch: "Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik", herunterzuladen auf der im Aufbau befindlichen Webseite http://akzelerationismus.de). Ihr neues Buch heißt: "Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work".

[4] Dietmar Dath und Barbara Kirchner, "Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee"

[5] Paul Mason, "Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie"

[6] Am 9. Februar 2016 wurde das Projekt "Democracy in Europe - Movement2025", kurz DiEM25, in einem feierlichen Akt in der Berliner Volksbühne aus der Taufe gehoben. Zu den Initiatoren dieses Projekts gehört unter anderem auch der frühere Finanzminister Griechenlands, Gianis Varoufakis. Primäres Ziel ist die Demokratisierung Europas bzw. der Europäischen Union, wobei mit der Zahl 25 das Jahr 2025 als Zeithorizont für den im Umbau begriffenen Kontinent gemeint ist. Unter dem Titel "Die EU wird entweder demokratisiert, oder sie wird zerfallen!" wurde "Ein Manifest für die Demokratisierung Europas" verfaßt, das als Gründungsdokument von DiEM25 gilt.
https://diem25.org/manifesto-lange-Version/


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21. Juni 2016


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