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INTERVIEW/077: 21. Linke Literaturmesse - Debattenknigge ...    Walter Bauer im Gespräch (SB)


Vielfalt aushalten, Kontroversen ausdiskutieren

Interview am 6. November 2016 in Nürnberg


Die diesjährige Linke Literaturmesse in Nürnberg [1] sah sich eines Angriffs ausgesetzt, der zum Verbot einer im Begleitprogramm geplanten Ausstellung seitens der Stadtverwaltung führte. Gezeigt werden sollte die Ausstellung "Überall zuerst den Schwächsten dienen - Walter Herrmann und die Kölner Klagemauer für Frieden, Völkerverständigung und Menschenrecht" [2]. Dagegen wurde von anonymer Seite der Vorwurf erhoben, es würden darin antisemitische Positionen vertreten. Ohne die Inhalte zu kennen und den Vorwurf auf seine Stichhaltigkeit zu prüfen, untersagte Oberbürgermeister Maly daraufhin die Ausstellung.

Eine zweite und in diesem Fall interne Kontroverse betraf den Ankündigungstext einer Veranstaltung zum Spanischen Bürgerkrieg, in dem es unter anderem hieß, die antifaschistische Volksfront sei ein Klassenfeind des Proletariats und nicht das kleinere Übel zum Franquismus gewesen. Daran hatten zahlreiche Verlegerinnen und Verleger Anstoß genommen und teils einen Ausschluß dieser Position gefordert. Sie kamen dann jedoch auf einer eigens dazu einberufenen Versammlung in Anwesenheit der betreffenden Gruppe überein, die Veranstaltung zuzulassen und einer kontroversen Diskussion Raum zu geben.

Walter Bauer vom Literatur- und Kulturverein Libresso gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Linken Literaturmesse, deren Mitorganisator er seither ist. Neben seinen vielfältigen Verpflichtungen während der Messe bot er eine Veranstaltung zu der von ihm und Raphael Fleischer verfaßten Broschüre "60 Jahre KPD-Verbot und politische Justiz" an. In einer im Grunde gar nicht vorhandenen Pause seines Engagements im Künstlerhaus nahm er sich die Zeit, dem Schattenblick einige Fragen zu den oben genannten Kontroversen und seinem Umgang damit zu beantworten.


Schattenblick: Die diesjährige Linke Literaturmesse sieht sich gewissen Anfeindungen und Kontroversen ausgesetzt. Wie sind diese Angriffe und Konflikte aus deiner Sicht einzuschätzen?

Walter Bauer: Seit wir vor acht Jahren den ca ira-Verlag von der Linken Literaturmesse ausgeschlossen haben, stehen wir mehr oder minder unter einem Dauerangriff. Auf uns wurde starker Druck ausgeübt, die jüdische Gemeinde und der Stadtrat wurden informiert und aufgefordert, Protest gegen diesen Ausschluß einzulegen und etwas zu unternehmen. In der politischen Szene der Stadt Nürnberg fand diese Intervention jedoch keine Zustimmung. Seit neuestem tauchen vermehrt anonyme Einzelpersonen auf, die versuchen, der Linken Literaturmesse Antisemitismus vorzuwerfen, indem Verlage, die Israel-kritische Bücher herausgeben, als antisemitisch bezeichnet werden, um auf diese Weise Stimmung zu machen. Dieses Jahr wurde behauptet, bei einem Teil der geplanten Dokumentationen handle es sich um eine antijüdische Ausstellung, die in städtischen Räumen stattfinde. Wie kaum anders zu erwarten haben die jüdische Gemeinde, die Kulturverwaltung und der Oberbürgermeister auf diesen Vorwurf etwas panisch reagiert, weil die Stadtverwaltung in Nürnberg angesichts der historischen Vorbelastung durch Reichsparteitage und Rassengesetze wieder in den Ruch zu kommen fürchtet, hier könne sich Antisemitismus ungehindert verbreiten.

Das Problem war jedoch, daß die Stadtverwaltung heftig reagiert hat, ohne zuvor genau nachzuforschen, worum es eigentlich geht. Es wurde natürlich im Internet nachgesehen, wo dann Bilder moniert wurden, die nicht nur kritisch, sondern auch antisemitisch waren. Klar, wenn man eine Straßenausstellung macht und die Bevölkerung befragt, kommen auch rechte Positionen dabei zum Vorschein. Ich mußte mir auch erst einmal selber ein Bild machen, da ich diese Klagemauer vorher nicht kannte. Bei der fraglichen Dokumentation, die gezeigt werden sollte, ging es aber lediglich um einen bestimmten Ausschnitt, der mit den erhobenen Vorwürfen gar nichts zu tun hatte. Er ist insofern Israel-kritisch, als der Ruf nach Frieden an die Bundeskanzlerin, aber auch an den israelischen Regierungschef adressiert wird. Das war mitunter etwas naiv, aber mehr auch nicht.

Als wir das der Stadt klargemacht haben, war da schon eine gewisse Entspannung zu spüren, aber das Verbot der Ausstellung wurde nicht mehr rückgängig gemacht. Unsere Position dazu ist: Wenn das so weitergeht und die Stadt unter diesen moralischen Druck gesetzt wird, ist sie nicht mehr Herr ihrer eigenen Veranstaltungsreihe. Die Überempfindlichkeit ist natürlich gerade in Nürnberg durchaus verständlich, wird aber auch gezielt ausgenutzt. Das alles hat uns sehr lange beschäftigt, weil es uns darum ging, uns zunächst mit der Kontroverse vertraut zu machen, um dann sachlich argumentieren zu können. Nach einem längeren Prozeß gelangten wir zu der Auffassung, daß es dazu im Programm eine Veranstaltung geben soll, auf der darüber diskutiert werden kann. Wenngleich es sich beim Verbot der Ausstellung offenbar um eine Überreaktion der Stadt gehandelt hat, findet damit doch Zensur statt. Wir sollten zum einen diskutieren, was Dokumentationen leisten können, und zum anderen dem Selbstverständnis dieser Ausstellung entsprechen, die eine Situation dokumentieren will, zu der man dann seine eigene Meinung bilden kann. Wenn auch das verboten ist, wird einer offenen Diskussion die Grundlage entzogen.

Das ist unsere Auffassung, wobei wir natürlich rechtlich in einer schwachen Position sind, da wir in den Gängen und Räumen nur bedingt das Hausrecht haben. Einen Prozeß gegen das Verbot zu führen, macht insofern keinen Sinn, weil das erst nachträglich geschehen würde. Ich glaube ohnehin, daß dies keine juristische, sondern eine politische Frage ist. Wir müssen kämpfen und den Leuten sagen, laßt euch nicht in etwas reindrängen, was ihr dann ungeprüft übernehmt. Das ist unsere Grundposition.

SB: Wie argumentiert ihr intern, wenn beispielsweise jemand problematische oder kaum hinnehmbare Aussagen auf der Literaturmesse vertritt? Gibt es da eine Grenze?

WB: Es gibt eine Grenze: Weder sexistisch noch antisemitisch, nicht für Ausbeutung und imperialistischen Krieg - das sind Begriffe, die symbolisieren, welche Richtung für uns nicht tragbar ist. Manche hier verstehen jedoch nicht, daß es sich um einen Prozeß der Auseinandersetzung handelt. Als wir vor 20 Jahren erstmals mit Verlagen über bestimmte Bücher geredet haben, die wir problematisch fanden, ging es vorwiegend um die rechte Öko-Szene. Wir haben niemandem verboten, an der Messe teilzunehmen, aber deutlich gemacht, daß wir bestimmte Bücher oder Autoren lieber nicht dabeihaben wollten, weil das nur zu unzumutbaren Kontroversen führen würde. Verlagen, die unbedingt neben ihren Büchern auch Politik machen wollten, haben wir in einem meist längeren Prozeß nahegelegt, sich zu überlegen, ob sie überhaupt noch zu dem hier vertretenen Bereich dazugehören. Manche haben sich dann mit einem bitterbösen Brief verabschiedet, den wir abgeheftet haben.

Das hat immer ein, zwei Jahre gedauert, weil wir gesagt haben, ihr müßt selber entscheiden. Wir haben versucht, ihnen zu erklären, daß sie keine linken Verlage sind und das dann aber auch offen sagen sollten. Der einzige größere offizielle Ausschluß betraf den ca ira-Verlag der Antideutschen, dem aber auch drei Jahre Diskussion vorangegangen waren. Wir haben es mehrfach hinausgezögert, weil sie versichert haben, sie würden dieses und jenes nicht mehr machen. Das ging hin und her, bis schließlich die Mehrheit der anwesenden Verlage erklärt hat, nein, so geht das nicht mehr, weil uns das ständig beschäftigt und blockiert. Wir haben damals einen Schlußstrich gezogen, gehen aber davon aus, daß wir uns noch länger mit den Antideutschen beschäftigen müssen.

Klar ist auch, daß die Breite dieser Messe viel Sprengstoff gerade hinsichtlich historischer Konflikte birgt. Wenn ich die Titel und Inhaltsangaben mancher Bücher lese, frage ich mich schon, ob das wirklich sein muß. Es ist aber so. Ich persönlich habe häufig erlebt, daß Gruppen, die Zeitschriften oder Bücher herausgaben, eine Entwicklung nach links oder rechts einschlugen. Es handelt sich um einen Prozeß, weshalb ich nicht wegen eines einzigen Buchs gleich losschreie: "Hilfe, da kommt was!" Nach meiner Erfahrung muß man diesen Prozeß erst einmal begleiten und darüber diskutieren.

Im aktuellen Fall muß man natürlich schlucken, wenn man im Programmtext die erhobenen Beschuldigungen liest. Hinzu kommt, wie man diese Aussage einschätzt: Als Provokation, Beleidigung oder hintergründige Rechtsentwicklung? Oder wie mancher gesagt hat: Dummheit ist eigentlich nicht verboten. Aber auch wenn man es blödsinnig oder grenzwertig findet, was da zu lesen ist, sollte man es aushalten. Führt man die Auseinandersetzung mit großem Trara, wertet man Dinge auf, die sich im Grunde am Rand abspielen. Ich habe als Begleiterscheinung, um es einmal mit einer Verniedlichung auszudrücken, viele Gruppen erlebt, die im Prinzip nur lästig waren und sich dann aufgelöst haben - lästig, weil man ständig über solche Dinge diskutieren muß, aber politisch ohne Relevanz.

Ich beschäftige mich jetzt schon seit vier Wochen mit der Klarstellung: Leute, was ist wichtiger, die Linke Literaturmesse oder jemandem mit der Forderung, ihr müßt sie verhindern, oder wir verhindern sie, die Pistole auf die Brust zu setzen? Spitzt sich die Kontroverse zu, muß man natürlich eine Entscheidung fällen, wie wir das heute getan haben. Dummheit kann lästig sein oder auch gefährlich werden, das muß man abschätzen. Aber wir können nicht jede Dummheit verbieten, sondern müssen darüber so diskutieren, daß diese Kontroverse produktiv ist. Es kann allerdings in der Diskussion mit solchen Gruppen schon so weit kommen, daß wir sagen, wenn euch das nicht paßt oder ihr andere Verlage kritisiert, müßt ihr überlegen, ob ihr hier überhaupt noch richtig am Platz seid. Wenn ihr es nicht ertragen könnt, daß neben euch Marxisten, Trotzkisten, Anarchisten oder bürgerliche Linke sitzen, müßt ihr sagen, daß ihr nicht dazupaßt. Das ist schwierig und ein langfristiger Prozeß, doch alles andere wäre eine Eskalation. Bislang ist es uns immer gelungen, klar Position zu beziehen und einen Klärungsprozeß herbeizuführen, der schließlich zu einer Bereinigung geführt hat.

Wenn ich der teilweise hier erhobenen Forderung stattgebe und eine bestimmte Veranstaltung verhindere, verhindere ich auch eine Diskussion. Mich haben junge Leute angesprochen und gefragt, was sie machen sollen. Ich habe ihnen gesagt: Wenn euch das nicht gefällt, geht hin und sagt eure Meinung. Die Veranstaltung ist eine Einladung zu diskutieren. Ich selber gehe aber nicht hin, sonst rege ich mich bloß auf. Sollte eine solche Kontroverse zu einem Hindernis werden, das alle lähmt, weil nur noch darüber diskutiert wird, ist das natürlich ein Störfaktor. In diesem Zusammenhang würde ich nicht so sehr über Demokratie diskutieren, sondern als eine Überlebenschance der Linken Literaturmesse ausweisen, daß sie diese Breite aushält.

Ich bin schon vor 1968 Marxist gewesen, habe vieles erlebt, rauf, runter, auch was meine eigene Partei betrifft. Da muß ich nicht noch einen Kleinkrieg führen, der auch mich zerlegt, weil er nicht produktiv ist. Manche Leute kann ich nicht überzeugen, das akzeptiere ich auch. Es gibt viele Menschen, mit denen ich gut diskutiere, obgleich klar ist, daß wir uns über wesentliche Fragen nie einig werden. Historisch sind wir sogar Feinde, jeder hat hier Blut am Stecken. Aber das ist eine historische Diskussion, während ich hier darüber rede, was aktuell produziert wird. Hier diskutiere ich, was jetzt auf dem Tisch liegt. Das ist meine persönliche Meinung. Bisher bin ich damit insofern zurechtgekommen, als ich auch Leute überzeugt habe. Natürlich kann ich auch ausrasten, aber das ist ziemlich unproduktiv.

SB: Die Linke hat ja in ihrer Geschichte zahllose
Selbstspaltungsprozesse durchlaufen.

WB: Das ist wahrscheinlich ein Naturgesetz. (lacht) Nein, es ist kein Naturgesetz. Aber es sieht so aus, als könnten die Linken ohne ständige Spaltungen einfach nicht auskommen.

SB: Die Ideologie des Totalitarismus setzt links und rechts gleich. Seither greift die Kontroverse um sich, wo linke Positionen enden und in rechte übergehen. Wo würdest du die Grenze ansiedeln?

WB: Früher war das ein Satirespruch: "Der steht so weit links, daß er schon rechts ist." Damals war es eine Spitze zu sagen: Leute, überlegt euch, wo ihr steht. Inzwischen ist das eine Realität, die sich organisatorisch verfestigt hat. Ich habe zwar keine wissenschaftliche Untersuchung darüber gelesen, so daß ich eher auf Vermutungen und Theorien angewiesen bin. Meiner Meinung nach hat die Krise zu einer Verunsicherung der Linken geführt. Manche gehen den leichtesten Weg und sagen, wir suchen uns neue Verbündete. Manche finden dann ihren eigenen Henker, ich überspitze jetzt mal. Mit manchem kann ich nur ein ganz kleines Stück gemeinsam gehen, dann ist er auch schon mein Gegner. Wie sich ein Linker definiert und identifiziert, ist nicht statisch, denn man bleibt ja nicht stehen, sondern bewegt sich über die Zeit weiter. Daher ist nicht auszuschließen, daß sich jemand auf den Weg nach rechts macht, was ihm vielleicht nicht einmal bewußt ist. Wenn ich mich daher nicht immer wieder kontrolliere und frage, wie die Realität beschaffen ist und wo ich in ihr stehe, fehlt mir ein Korrektiv.

Die gesellschaftliche Realität weist eine massive Rechtsentwicklung auf, die ich aber nicht als Faschismus bezeichnen würde. Viele Kommunisten neigen leider zu der unwissenschaftlichen und unhistorischen Tendenz, jede Dummheit oder Provokation als faschistisch auszuweisen. Dadurch wird dieser Begriff entwertet, der doch eine ganz bestimmte Bedeutung hat. Deshalb kritisiere ich manche Kritiker und warne, daß Dummheit allenfalls eine Voraussetzung, aber für sich genommen kein Faschismus ist. Je stärker die Krise um sich greift und den Mittelstand zunehmend erfaßt, um so mehr nimmt die Hilflosigkeit zu. Das gilt nicht zuletzt für die Linke, die den Gegner teilweise in irgendwelchen Ausländern sieht oder ihre Staatskritik auf bestimmte Nationen beschränkt. Das ist eine vermeintlich linke Position, die gut mit den Rechten harmonisiert.

In Zeiten der Krise war das immer so. Selbst unter den Nazis gab es Nationalrevolutionäre, die einer völkisch linken Ideologie anhingen und gegen den bestehenden Staat eingestellt, aber in der Konsequenz doch Rechte waren. Die postulierte Reinheit linker und rechter Positionen ist ja meistens nicht gegeben. Damals gab es in der politischen Verarbeitung der Krise bis in die Familien hinein die Spaltung in SA und KPD, die mitunter eng beieinander zu liegen schienen. Die vermeintlich präzise Grenze zwischen links und rechts droht gerade in solchen Situationen zu verschwimmen, weil sich die Menschen verschiedene Elemente zusammensuchen und zu einer letztendlich rechten Position verknüpfen. Ich kann mir auch vorstellen, daß mancher aus einer rechten Positionen zu den Linken wechselt, weil er meint, diese habe denselben Hintergrund und mache kräftig Rabatz. Meiner Erfahrung nach ist die Grenze in der Realität nie so sauber, wie man es vielleicht gern hätte. Wie die Geschichte zeigt, haben manche Mitglieder der KPD im Grunde genommen rechte Positionen entwickelt. Es war aber ebenso historische Realität, daß SA-Mitglieder in Spanien gegen Franco gekämpft haben. Es handelt sich um einen Prozeß, der nach links oder rechts führen kann. Und in diesem Prozeß jemanden zu bezichtigen und zu beschimpfen, macht keinen Sinn. Man muß den Menschen, der sich entwickelt, in einem Prozeßverlauf sehen und nicht vorschnell und endgültig als Linken oder Rechten festschreiben. Meiner Erfahrung nach ist es nie festgeklopft.

SB: Walter, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.linke-literaturmesse.org/

[2] Zur Debatte um die Kölner Klagemauer siehe auch:
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0002.html
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0002.html


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
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BERICHT/059: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (1) (SB)
BERICHT/060: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (2) (SB)

14. November 2016


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