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INTERVIEW/108: Messe links - von oben verworfen ...    Achim Szepanski im Gespräch (SB)


Interview am 3. November 2018 in Nürnberg


Achim Szepanski hat in Frankfurt/Main Wirtschaftswissenschaften und Soziologie studiert. Ab 1991 gründete und leitete er international erfolgreiche Labels der elektronischen Musik wie Force Inc., Mille Plateaux und Ritornell. In dieser Zeit erschienen eine Reihe von Essays, Interviews und Statements zur Medientheorie, Deleuze/Guattari und Theorie der elektronischen Musik, u.a. 1995 die CD/Text-Compilation In Memoriam Gilles Deleuze, 2003 als Herausgeber mit Markus S. Kleiner das Buch Soundcultures. Danach schrieb er eine Roman-Trilogie (Saal 6, Pole Position und Verliebt ins Gelingen) - ein literarisches Monument zur Lage des gegenwärtigen Kapitalismus. In jüngerer Zeit hat er sich verstärkt mit Fragen von Kapital und Macht auseinandergesetzt und dazu publiziert.

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte Achim Szepanski zusammen mit Karl-Heinz Dellwo das von ihnen gemeinsam mit J. Paul Weiler herausgegebene Buch "Riot - Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion" [1] vor. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige vertiefende Fragen.


Schattenblick (SB): Achim, G20 war aus Sicht vieler Linker insofern eine Überraschung, weil wohl nur wenige mit dieser massiven Polizeigewalt gerechnet hatten. Deckt sich das mit deiner Einschätzung?

Achim Szepanski (AS): Geahnt hatte man es schon, aber vor Ort war es doch überraschend, daß die Polizei für mehrere Tage selbst die Funktion einer Exekutive einnehmen konnte. Uns war von vornherein klar, daß wahrscheinlich eine massive Polizeistrategie zum Einsatz kommen würde, um Hamburg in eine Art Labor zu verwandeln, in dem die staatlichen Apparate und insbesondere die Polizei überprüfen und exerzieren konnten, was machbar ist. Wo immer man die Gründe sucht, warum die Polizei am Freitagabend im Schanzenviertel für mehrere Stunden inaktiv wurde, bleibt unseres Erachtens doch hervorzuheben, daß sie anscheinend an einem Punkt getroffen wurde, der außerhalb polizeilicher Überlegungen und Taktiken lag.

SB: Du hast bei der Buchvorstellung ausgeführt, warum der Aufstand eine besondere Form des Widerstands darstellt, den man mit den Kriterien von klassischer Organisation und entsprechenden Kräfteverhältnissen schwer oder gar nicht erfassen kann. Was zeichnet in diesem Zusammenhang den Beitrag Joshua Clovers [2] aus, auf den du dich dabei insbesondere beziehst?

AS: Wie Clover anhand der frühen Aufstände darlegt, hat ein Teil der Bevölkerung gegen Erhöhung der Preise grundlegender Nahrungsmittel wie etwa der Brotpreise keine andere Möglichkeit, als sich auf dem Marktplatz zu wehren. Ähnliches gilt auch heute in der Zirkulationssphäre, wenn man die ökonomische Komponente einbezieht. Hinzu kommt vor allem die Frage der Rassifizierung, auf die ich bei der Buchvorstellung nicht näher eingegangen bin. Ein Großteil der Analysen Clovers bezieht sich auf die Aufstände in den USA seit den 1960er Jahren - der erste Aufstand in Los Angeles, dann später der Detroit-Aufstand - wobei es sich in den USA ganz explizit um eine Frage des doppelten Ausschlusses der Schwarzen handelt. So sind schwarze Jugendliche nach wie vor in den ökonomischen Verhältnissen als Arbeitslose weit stärker ausgeschlossen als weiße. Zum zweiten kommt die Frage der politischen Enteignung und des Rassismus hinzu, was natürlich in den US-Aufständen immer präsent und ein Unruheherd ist. Und zum dritten können diejenigen, die keine klassischen Lohnarbeitsverhältnisse mehr nachzuweisen haben, nicht ohne weiteres in den Streik treten oder sich vor die Fabriktore stellen.

Das heißt, sie müssen andere Orte der Logistik finden, und das sind in den letzten 20, 30 Jahren massiv wieder die Straßen und Plätze geworden, auf denen man sich aus den verschiedensten Gründen, aus den kurzfristigsten Anlässen einfindet, aber auch aus einer langfristigen Situation des Ausschlusses heraus, wie zum Beispiel in den Banlieus in Frankreich. Auch dort haben die jungen Menschen keine andere Möglichkeit, als auf die Straße zu gehen. Sie können sich nicht gewerkschaftlich organisieren, weil die Gewerkschaften diese Formen des Widerstands und generell diejenigen, die nicht in Lohnarbeitsverhältnissen stehen, nach wie vor aus ihrer Politik ausschließen. Es bleiben also nur diese, sagen wir mal, protopolitischen Formen der Artikulation übrig. Das macht den Aufstand im Gegensatz zum Streik heute unmittelbar politisch, weil er in den öffentlichen Räumen, dort, wo Massen konzentriert auftreten, sofort mit dem Staat und der Polizeigewalt konfrontiert wird. Deswegen hat für Clover, wie kurzfristig und wie auf kleiner Flamme gehalten auch immer, der Aufstand sofort dieses politische Moment.

SB: In der Traditionslinken richtet sich der Fokus auf die Arbeiterschaft und die Produktion als zentralen Ort der Auseinandersetzung. In welchem Maße geht die Linke damit deines Erachtens an den veränderten ökonomischen Verhältnissen vorbei?

AS: Ich bin Ökonom und habe mehrere Bücher zum finanziellen Kapital geschrieben, von den Transformationen des Kapitals in den 70er Jahren, das immer stärker von dem finanziellen Kapital dominiert wird. Es ist nicht abgetrennt vom Realsektor, schreibt aber vor, wo und wie investiert wird, wohin die Kredite verteilt werden. Die Finanzmärkte übernehmen sozusagen eine Oberaufsicht über das gesamte Kapital auch der Realökonomie. Diese Transformation, die sich auf internationaler Ebene im Kontext der Globalisierung vollzieht, hat zumindest kein großes Gewicht in der bundesrepublikanischen Diskussion. Das heißt natürlich nicht, daß das Proletariat verschwunden wäre, denn auf der globalen Ebene hat es sich durch den Zustrom der Arbeitskräfte in China sogar quantitativ vergrößert. Wir gehen davon aus, daß dieses globale Proletariat ungefähr 3 Milliarden Menschen umfaßt, worunter wir die lohnarbeitende Klasse, aber auch das Prekariat fassen, also diejenigen, die an den Rändern immer wieder in die Produktionsprozesse hineingeschoben oder rausgeschmissen werden. Was Marx die industrielle Reservearmee nennt, zählen wir zum globalen Proletariat. Eine über eine Milliarde zählende Surplus-Bevölkerung, also eine überflüssige Bevölkerung, der mehr oder weniger der Luxus, sich ausbeuten zu lassen, verwehrt wird und die sozusagen auf einem schmalen Grat zwischen Dahinvegetieren und Liquidierung existieren muß. Mitunter gelingt es ihr in Teilen, in die offizielle Arbeitswelt zu gelangen, doch größtenteils arbeitet sie unter nicht-kapitalistischen Bedingungen.

SB: Inwieweit ist der Blick aus deutscher Perspektive überhaupt noch bedeutsam und relevant, wenn man die weltweite Entwicklung verfolgt?

AS: Der Blick der deutschen Linken, speziell zum Beispiel Sahra Wagenknechts, ist insofern relevant, als sie die Position des Kapitals, der Eliten, aber auch eines Teils des Mittelstandes oder derjenigen, die in den Wohlfühloasen noch privilegiert sind, vertritt. Sie will jenen Teil der Surplusbevölkerung, der gar nicht mehr anders kann, als zu migrieren und in den Norden zu kommen, ausschließen, indem sie sagt, wir machen die Grenzen dicht, wir ziehen Zäune. Diese Frage der Surplus-Bevölkerung wird ja für uns als Linke relevant, wenn wir uns zur Migration und den Flüchtlingen stellen. Da taucht sie ganz konkret für uns auf, wobei sich ein größerer Teil der Linken auf zum Teil von der AfD kaum noch unterscheidbare Positionen bezieht. Da geht es um die Sicherung unserer Pfründe, aber unter Ausschluß dessen, daß die imperialistischen Staaten und Ökonomien seit 250 Jahren diese Peripherien immer ausgeplündert haben und die Nettokapitalflüsse zwar in diese Peripherien gehen, aber die Gewinne immer wieder in die Industriestaaten, in die entwickelten Kernländer zurückfließen.

SB: Wie bewertest du in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Nationalstaaten und überstaatlichen Institutionen oder Machtkomplexen?

AS: Das ist eine interessante Frage, die ich in meinem neuen Buch "Imperialismus, Staatsfaschisierung und Kriegsmaschinen des Kapitals" [3] diskutiere, wobei ich mich wieder stärker auf den Imperialismusbegriff unter neuen Bedingungen beziehe. Das heißt, ich würde der These von Negri und Hardt, wonach wir uns in einem Empire befinden, in dem die Nationalstaaten ganz an Einfluß verloren haben, nicht zustimmen. Ich würde sagen, daß der Weltmarkt gewissermaßen ein vernetzter Zusammenhang zwischen multinationalen Unternehmen und Finanzunternehmen ist, die meiner Ansicht nach aber - und da würde ich Negri zustimmen - die globalen Player sind. Aber weitere Player sind zum Beispiel die Zentralbanken, internationale Organisationen wie der IWF und eben auch nach wie vor die führenden imperialistischen Nationalstaaten. Die US-Finanzindustrie, die weltweit die Netze zieht und jetzt auch für die Abkopplung des Iran vom Weltmarkt verantwortlich ist, kann noch immer, auch wenn sich die USA auf dem absteigenden Ast befinden, nur deswegen funktionieren, weil die USA das Back-up des Dollars als globale Leitwährung und eben letztendlich auch die militärischen Macht innehaben.

Um es kurz zusammenzufassen: Ich würde es als ein hierarchisches Verhältnis sehen, als ein Netzwerk, in dem die Staaten nach wie vor eine gewichtige Rolle spielen, aber im wesentlichen den globalen Playern der Finanzmärkte und der multinationalen Unternehmen untergeordnet sind. Das zeigt sich bei den Staaten daran, daß sie sich immer stärker statt über Steuern über Staatsanleihen finanzieren und damit von den Finanzmärkten abhängig machen. Das sieht man an Griechenland - pariert ein Land nicht, gibt es eine Spekulation auf Staatsanleihen, worauf dann Länder wie Griechenland und andere sechs oder sieben Prozent zahlen müssen, und über dieses Instrument diszipliniert das Finanzsystem inzwischen auch einzelne Staaten.

SB: Wie würdest du das Verhältnis der westlichen Staaten untereinander bewerten, zwischen denen Konflikte und Risse in Bündnissen auftreten und scheinbar oder tatsächlich neue Strukturen angebahnt werden?

AS: Das zeigt sich an Trumps protektionistischer Politik und dem Aufkommen des Protektionismus insgesamt, wobei ich sage, daß es nicht eine Preisgabe der Globalisierung ist. Man kann diese Lieferketten nicht innerhalb von zehn oder zwanzig Jahren wieder umstrukturieren, da es sich um gewachsene Strukturen handelt. Aber es kann Reglobalisierung stattfinden, und in diesem Kontext verschärft Trump gegenwärtig mit seiner protektionistischen Politik der Strafzölle und anderen Maßnahmen die Konflikte zwischen den Staaten. In wenigen Tagen werden neue Sanktionen der USA gegen den Iran verhängt, um Teheran vom Zahlungssystem Swift abzukoppeln. Da ist es interessant, wie europäische Staaten zur Überbrückung Direktzahlungssysteme mit dem Iran aufbauen wollen. Grundsätzlich verschärfen sich die Brüche und die Konkurrenz zwischen den Staaten, vor allem zwischen den beiden Hauptplayern China und USA, wobei sich die USA meiner Ansicht nach mittelfristig gegenüber China nicht in einer Position der Stärke, sondern der Schwäche befinden. Gleichzeitig zirkuliert rund um die Uhr in Sekundenschnelle, Nanosekundenschnelle, weiterhin das finanzielle Kapital als wäre nichts geschehen. Das finanzielle Kapital ist stets darauf bedacht, daß es ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Staaten gibt. Es kann im Moment meines Erachtens an einer Verschärfung der Politik, wie sie Trump betreibt, nicht unbedingt interessiert sein.

SB: Es zirkulieren ungeheuere Geldwerte oder auch Schuldtitel, die mit realen Waren oder Produktionsleistungen nicht mehr eingelöst werden können. Ist das aus deiner Sicht eine Art finales Krisenszenario der Verwertung?

AS: Wenn man an bestimmte Positionen wie jene der Krisis-Gruppe denkt, haben meiner Ansicht nach Ernst Lohoff und Norbert Trenkle als einzige einen Blick auf diese Fragen gerichtet. Sie argumentieren dahingehend, daß diese Schuldtitel, Derivate, Optionen, Kredite ein Vorgriff oder Zugriff auf Zukunft, also auf kommende Verwertung sind, die dann irgendwann wieder durch reale Verwertung eingelöst werden müssen. Daß derzeit offenbar Derivate vom 760fachen Wert des weltweiten Bruttosozialprodukts zirkulieren, bedarf jedoch hinsichtlich der daraus gezogenen Schlußfolgerungen einer näheren Überprüfung. Man muß wohl inzwischen davon ausgehen, daß es Strategien des Kapitals im Finanziellen gibt, die selbstreferentiell laufen und nur noch in der Tendenz auf die Realökonomie bezogen sind, aber dort natürlich ihre Wirkung haben. Das zeigt sich an verschiedensten Phänomen wie auch daran, daß alle Big Player und großen Unternehmen, sei es BMW oder Apple, was viele nicht wissen, bis zu 70 Prozent selbst Finanzunternehmen sind. Apple hat einen der größten Hedgefonds weltweit. Alle diese Unternehmen machen nur noch 30 Prozent ihres Umsatzes mit dem Verkauf von Autos oder Gadgets. Viele haben eigene Strategien entwickelt, wie sie beispielsweise über Leasing bei Autos den Verkauf ihrer Waren forcieren, was vergleichbar für eine ganze Reihe anderer Unternehmen gilt.

Man kann also sagen, daß heute nicht nur die Extraktion des Mehrwerts in der Produktion entscheidend ist, sondern insbesondere eine finanzielle Macht des Kapitals, das Kredite an Unternehmen vergibt und damit entscheidet, was und wie produziert werden soll. Wie es David Harvey und andere ausgedrückt haben, ist das Finanzkapital gewissermaßen das Zentralnervensystem. Wird dieses wie 2008 außer Kraft gesetzt, müssen unter der Maßgabe "too big to fail" Banken unbedingt gerettet werden. Der Fall der Lehman Brothers hat eine weltweite Rezession ausgelöst und eben auch die Realindustrie nicht unbeschädigt gelassen. Wie auch Lohoff und Trenkle sagen, zeigen diese Geldströme, daß die Bewegung vom finanziellen Kapital zur sogenannten Realökonomie verläuft und nicht, wie klassische Marxisten behaupten, von der Realökonomie zur Finanzwirtschaft, indem sie postulieren, es werde Profit produziert, der sich dann in Zins und Unternehmensgewinn spaltet, wobei der Zins nie höher sein kann als der Mehrwert. Das funktioniert heute alles ein bißchen anders.

SB: Gibt es unter den verschiedenen Komponenten oder Elementen der Macht eine Art Hierarchisierung? Kann man den Staat nach wie vor als ideellen Gesamtkapitalisten ausweisen, und wie verhalten sich die verschiedenen staatlichen und ökonomischen Akteure zueinander?

AS: Bis hin zu den aktuellen personellen Verquickungen bei der Frage eines Friedrich Merz als Kandidat für den Parteivorsitz der CDU oder Mario Draghi bei der EZB oder Goldman Sachs zeigt sich, daß das finanzielle Kapital seine Leute direkt an die Leitstelle der Exekutive setzt. Es findet auch eine Transformation der Staaten statt, da das Parlament immer irrelevanter wird und die wesentlichen Entscheidungen in der Exekutive getroffen werden. Wie Carl Schmitt schon gesagt hat, ist die Exekutive ein motorisierter Gesetzgeber, und sie muß auch schnell reagieren, was sie damals in der Finanzkrise unter Beweis gestellt und Milliardenbeträge aufgetrieben hat. Hinzu kommt die strukturelle Veränderung, die ich bereits erwähnt habe, nämlich daß die Staatsausgaben immer mehr über Staatsanleihen finanziert werden und nicht nur über Steuern. Dadurch hat sich der Staat in eine strukturelle Abhängigkeit von den Finanzmärkten begeben und wird rund um die Uhr bewertet. Es werden die Konsumenten bewertet, es werden Unternehmen bewertet, aber es wird auch der Staat bewertet.

Das zeigt meines Erachtens zum einen eine Schwächung des Staates gegenüber dem Kapital, doch wird er andererseits in einer gewissen Weise stärker. Indem er als ideeller Gesamtkapitalist zwei wesentliche Aufgaben übernimmt, ist er für die Herstellung des Klassenkompromisses zuständig und zugleich nach wie vor eine soziale Polizei. Unter den heutigen Bedingungen in den letzten zehn, zwanzig Jahren der Austeritätspolitik, die auch Teil dieser Finanzialisierung ist, kann der Staat seine Aufgaben als ideeller Gesamtkapitalist vor allem hinsichtlich der Befriedung des Klassenantagonismus qua Sozialstaat nicht mehr ohne weiteres erfüllen und verschärft deswegen seine Rolle der sozialen Polizei. In diesem Kontext wird er wieder ein starker Staat, der aber aus verschiedenen strukturellen Gründen bis hin zu Verflechtungen, die man als tiefen Staat diskutiert, in einer gewissen, wenn nicht gar massiven Abhängigkeit vom finanziellen Kapital steht.

SB: Das bringt uns zurück zu G20. Danach herrschte zunächst ein Gefühl vor, daß gar nichts mehr geht. Inzwischen sind die großen Demonstrationen in München gegen das neue Polizeigesetz oder in Berlin über die Bühne gegangen. Läßt sich daraus schließen, daß sich plötzlich doch mehr Menschen auch eines breiten bürgerlichen Spektrums auf die Hinterbeine stellen?

AS: Gerade in München kam der Widerstand leider sehr spät. Die Polizeigesetze sind Ausdruck einer Präventivlogik, die der Staat betreibt. Er hat es in Hamburg auf der Straße ausprobiert, und er führt jetzt verschärfte Gesetze ein trotz fehlender sozialer Konflikte und eines ausbleibenden sozialen Widerstandes. Da stellt sich natürlich die Frage, warum er das macht. Es handelt sich um eine eingeschliffene Präventivlogik, welche die Antwort auf vielleicht kommende Aufstandssituationen jetzt schon gibt. Das drückt sich darin aus, daß der Feind immer unspezifischer bis hin zu einem virtuellen Gegner wird, wie das im Zuge der Terrorismusbekämpfung schon seit den 1990er Jahren umgesetzt wurde. In den neuen Polizeigesetzen drückt sich das in so harmlosen Worten wie "drohende Gefahr" aus. Aufgrund einer drohenden Gefahr, was immer das sei, kann jetzt im Vorfeld sanktioniert werden. Das wurde bei den Auseinandersetzungen in München von Rechtsanwälten problematisiert, doch meiner Ansicht nach kam das, wie gesagt, viel zu spät.

Das Problem nach Hamburg war, daß sich ein breiter Teil der Linken von dem Freitagabend distanziert hat. Die Interventionistische Linke hat zwar großspurig eine Aufarbeitung angekündigt, von der jedoch bis heute nichts zu erkennen ist. Daraus entsprang unsere Motivation, dieses Buch zu schreiben. Im Nachhinein kommt natürlich immer die Frage, ob es der Linken geschadet hat, was den Backlash seitens des repressiven Staates noch verstärkt. Da die Linke ruhig geworden ist und sich die Bild-Zeitung mit ihrer Hetze weitgehend durchsetzen konnte, muß man davon ausgehen, daß die negative Resonanz auch bei Teilen der Linken übrigbleibt und man sich wieder ganz auf die traditionellen Formen der Großdemonstration konzentriert. Das ist dann für viele ein schönerer Samstagnachmittagausflug in Berlin, der wirkungslos bleibt. Wenn die Reformisten ankommen und sagen, zeigt doch mal eure Erfolge, dann muß man historisch argumentieren und fragen, welche Erfolge die reformistische Linke denn in den letzten Jahrzehnten vorzuweisen hat. Genauso viele Erfolge wie die radikale Linke, nämlich keine! Dennoch wird der radikalen Linken vorgeworfen, sie zerstöre die Bewegung, als sei die reformistische Linke mit ihrer Ausrichtung auf Wahlen und klassische Mittel der Demonstration erfolgreich, was ja nicht der Fall ist.

SB: Achim, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Anmerkungen:

[1] Karl-Heinz Dellwo, Achim Szepanski, J. Paul Weiler: Riot - Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion, Laika Verlag Hamburg 2018, 270 Seiten, 16,00 Euro, ISBN: 9783944233918

[2] Joshua Clover: Riot. Strike. Riot - The New Era of Uprisings, Verso Books London/New York 2016, 224 Seiten, ISBN: 9781784780593

[3] Achim Szepanski: Imperialismus, Staatsfaschisierung und Kriegsmaschinen des Kapitals, Laika Verlag Hamburg 2018, 16,00 Euro, ISBN: 978-3-944233-92-5


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