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INTERVIEW/115: Messe links - Staatsorgane ungeprüft ...    Sylvia Köchl im Gespräch (SB)


Interview am 4. November 2018 in Nürnberg


Bei der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Sylvia Köchl aus Wien ihr Buch "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne. Wege von 'Berufsverbrecherinnen' in das Konzentrationslager Ravensbrück" [1] vor. Sie ist Aktivistin in der "Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen" wie auch in medienpolitischen, antifaschistischen und feministischen Projekten engagiert, darunter bei der Zeitschrift "Frauensolidarität", in der es um Feminismus aus dem globalen Süden geht und der von der Regierung in Österreich die Mittel gestrichen worden sind.

Im Anschluß an die Buchvorstellung beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zur Kriminalpolizei im NS-Staat, zum Verhältnis der Opfergruppen untereinander und zur Frage von Schuld und Unschuld.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Sylvia Köchl
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Sylvia, was hat dich zur Beschäftigung mit diesem Thema motiviert, das nicht gerade ein naheliegender Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist?

Sylvia Köchl (SK): Ich bin seit Ende der 1990er Jahre Mitglied bei der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück. Das war mein Einstieg in das Thema KZ-Geschichte und dann spezifisch auch das Frauen-KZ. Die Lagergemeinschaft ist wie die meisten derartigen allgemeinen Opferselbstorganisationen von ehemals politisch Verfolgten, von WiderstandskämpferInnen gegründet worden. Es hat zu der Zeit schon eine beträchtliche Öffnung und Veränderung stattgefunden, sie waren nicht mehr so abgeschlossen gegenüber anderen Opfern. Aber der Zugang beispielsweise für Roma- und Sintifrauen wurde nicht in der Weise offensiv beworben, daß alle Häftlinge gleichermaßen unter Kameradinnen aus dem Lager gefaßt worden wären. Daß es eine ganz spezifische Geschichte der Organisierung der Opfer gibt und auch die Nachkriegszeit in diesem Zusammenhang sehr interessant ist, wurde mir dort aufs Deutlichste bewußt. Bei der Beschäftigung mit KZ-Geschichte im allgemeinen ist mir und anderen irgendwann aufgefallen, daß es ganze Gruppen gibt, die nicht erwähnt werden und die nirgendwo vorkommen. Und dazu gehört auch die sehr große Gruppe der sogenannten Asozialen, aber auch die kleinere Gruppe der sogenannten BerufsverbrecherInnen.

Wir haben damals ein großes Ausstellungsprojekt von Überlebenden initiiert, die sich das gewünscht hatten, eine Ausstellung für Jugendliche. Wir hatten die Idee, für alle Opfergruppen repräsentativ eine Biographie zu erzählen und die Hintergründe zu erklären. Dabei ist uns klar geworden, daß es, was diese "BerufsverbrecherInnen" betrifft, keine Zugänge, keine Namen gibt. Ein einziger Name ist einmal gefallen. Die Recherche war denkbar schwierig, wir sind am Zugang zu Gerichtsakten gescheitert und haben das Projekt schließlich ohne diese Gruppe durchgeführt. Das war um die Jahrtausendwende. 2006/2007 habe ich dann zusammen mit einer Freundin aus dieser Arbeitsgruppe ein Projekt zu zwei Frauen gemacht, die wegen mehrfacher Abtreibungen vorbestraft waren und ins KZ Ravensbrück überstellt wurden. Uns hat diese Problematik nicht mehr losgelassen.

Es gibt bei mir persönlich wohl auch noch andere Hintergründe. Vielleicht ist es meine Herkunft aus der ArbeiterInnenschicht, zudem die Beschäftigung mit der Frage, was linke Geschichtsschreibung eigentlich ausmacht, welche Themen sie behandelt, die anderswo ausgeblendet werden. Nicht zuletzt auch die Geschichte der Kriminalität oder die politischen Debatten, die noch bis in die 80er, 90er Jahre etwa über eine gefängnislose Gesellschaft geführt wurden und die dann abgebrochen sind, die in mir den Wunsch weckten, mich politisch damit auseinanderzusetzen. Ich denke, es spielten viele Dinge eine Rolle dabei, daß ich es wirklich wissen wollte. Da ich selber nicht als Wissenschaftlerin gearbeitet habe und das nicht im Rahmen einer Anstellung oder einer akademischen Laufbahn machen konnte, war es am Ende meine private Entscheidung zu sagen, ich habe wirklich viel darüber herausgefunden und möchte jetzt ein Buch darüber schreiben.

SB: Du hast bei deiner Buchvorstellung ausgeführt, daß der NS-Staat auf bereits bestehende Bestrebungen in Kreisen der Kriminalpolizei zurückgreifen konnte, die gewissermaßen die Tätergruppen produziert hat. So waren auch bei den beiden Verhaftungswellen im Kontext der Aktion "Arbeitsscheu Reich" von 1938 die Kriminalpolizei und andere Behörden die treibenden Kräfte. Ist es nicht eine bestürzende Erkenntnis, daß weite Teile der Gesellschaft an dieser Verfolgung beteiligt waren?

SK: Das ist wirklich eine bedrückende Vorstellung. In der politischen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime in der Antifa wird häufig vor den Kontinuitäten rechtsextremer Seilschaften und Bestrebungen gewarnt. Da auch die Demokratie keineswegs davor gefeit sei, gelte es, wachsam zu bleiben und derartige Entwicklungen zu verhindern. In diesem Zusammenhang wird eine Diskussion um die Frage geführt, wie faschistisch unsere Demokratie denn tatsächlich ist. Es wird der Befund geltend gemacht, daß es sich bei dem "Faschismus" um einen Kampfbegriff handelt, der die historischen Realitäten verkennt, wenn man zu inflationär von einer einzigen Kontinuität spricht, die sich bis heute durch die Gesellschaft ziehe. Bei meiner Beschäftigung mit der Kriminalitätspolitik haben mich diese Kontinuitäten jedoch regelrecht angesprungen. Da hatte ich wirklich den Eindruck, daß eine drastische Verschärfung und ein mörderisches Programm von den Nazis durchgezogen wurde, aber wenn man sich mit einer Kapitalismusanalyse im Hinterkopf anschaut, was davor und danach geschehen ist und fragt, was Kriminalität in unseren modernen kapitalistischen Demokratien bedeutet und wofür die Polizei da ist, nämlich die Besitzenden vor den "Einbrechern" zu beschützen, dann zeichnen sich durchgängige Linien ab.

Nimmt man unter die Lupe, wie die NS-Justiz agiert hat, sind die Gerichte eher entmachtet und die Staatsanwaltschaften gestärkt worden. "Unrechtsjustiz" ist auf jeden Fall der treffende Ausdruck dafür, aber es gab trotzdem eine Art aufrechterhaltenes Justizgefüge und Täter, die bruchlos aus der Weimarer Republik in den NS-Staat gegangen sind. Danach gab es große Lücken in der Aufklärung, und meine These lautet: Wo kein Täter, da kein Opfer? Wenn ich nicht einmal weiß, daß die Kriminalpolizei zwar politisch gesäubert, aber als Institution gestärkt wurde und weiteragiert hat und nach 1945 nicht als verbrecherische Organisation eingestuft wurde und es praktisch bis in jüngste Zeit keine politische Aufarbeitung gab, geraten die Opfer dieser Tätergruppe ganz schnell aus dem Blick.

SB: Wie aus deinem Vortrag hervorging, empfanden keineswegs alle Opfer der Konzentrationslager als gemeinsam Verfolgte eine Art natürlicher Solidarität füreinander. In welchem Maße spielte neben dem Lagersystem gezielter Spaltung auch die Teilhaberschaft der verschiedenen Häftlingsgruppen dabei eine Rolle?

SK: Hat man erfahren, daß es sich tatsächlich so verhielt, muß man diese bittere Erkenntnis erst einmal verdauen. Das war in allen Konzentrationslagern so. Glücklicherweise gab es Überlebende, mit denen man sehr offen darüber sprechen konnte. Wie sie berichteten, war es in diesem zersetzenden System permanenter Todesdrohung und Todesangst überlebenswichtig, jemanden zu kennen, egal, um wen es sich dabei handelte. Daß man unter Lebensgefahr eine Hilfeleistung erbringt, hat eine Ravensbrückerin einmal zu mir gesagt, kommt logischerweise eher einer Bekannten, Freundin oder Genossin zugute. Man hätte auch niemals allen helfen können, die Hilfe brauchten. Das war den Politischen sehr wohl klar. Das Lagersystem hat alles andere verunmöglicht. Wie sich in unseren Gesprächen mit Überlebenden zeigte, hat es genau so in allen Häftlingsgruppen funktioniert. Wenn das Bild transportiert wird, die "Asozialen" und "BerufsverbrecherInnen " seien grundsätzlich unsozial gewesen und hätten ausschließlich ihren eigenen Vorteil im Sinn gehabt, trifft das nach allem, was ich weiß, überhaupt nicht zu. Auch innerhalb dieser Gruppen gab es gegenseitige Unterstützung, was ja oft nur Winzigkeiten sein konnten.

Man kann das für alle Gruppen annehmen, wobei es zwischen den verschiedenen Gruppen tatsächlich beträchtliche kulturelle Unterschiede gab. Was fängt die Diebin mit der hoch gebildeten politischen Widerstandskämpferin an? Wie begegnen sie sich? Und im KZ hat die SS auf strenge Trennung geachtet, um das Prinzip "teile und herrsche" rigoros durchzusetzen. Angesichts der extremen Verelendung, unter der sich die Menschen kaum noch auf den Beinen halten konnten, ist verstehbar, was sie getan und nicht getan haben. Viele oft gehörte und tradierte HeldInnengeschichten geben Anlaß zur Frage, wie realistisch sie tatsächlich sind. Es geht freilich nicht darum, sie als falsch zu bezeichnen, denn das sind Kategorien, in denen ich nicht denken möchte. Jede Generation schaut sich Geschichte neu an und sollte selber herausfinden, was das für sie bedeutet. Neue Fragen zu stellen ist wohl der springende Punkt dabei.

SB: Die Unterscheidung in unschuldige und schuldige Opfer sitzt tief und löst oftmals geradezu den Reflex aus, die einen zu glorifizieren und die anderen zu bezichtigen. Spielt das beim Umgang mit den sogenannten BerufsverbrecherInnen eine zentrale Rolle?

SK: Das ist eine heiße Diskussion. In Österreich gab es vor einigen Jahren eine lange Kampagne zur Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure und anderen Opfern der Wehrmachtsjustiz. Eine relativ große forschende Arbeitsgruppe hat diese Kampagne sehr erfolgreich durchgeführt. Sie hat ein hervorragendes Buch dazu herausgebracht und erreicht, daß es jetzt sogar ein Denkmal für die Deserteure der Wehrmacht in Wien gibt. Sie hat es zudem geschafft, das einzelne Desertierte an die Öffentlichkeit gegangen sind. Sie sagen ganz klar: Unter den Opfern der Wehrmachtsjustiz - wobei es meist um standrechtliches Erschießen bei allen möglichen Vergehen geht - befanden sich auch Gewalttäter, die mitunter andere ausgeraubt oder sogar umgebracht hatten. Sie sagen jedoch: Analysiert man die Wehrmachtsjustiz, kommt man zu dem Schluß, daß auch ein schuldiges Opfer ein Opfer bleibt. Da machen wir keine Unterschiede, Ende der Durchsage.

So würde ich auch argumentieren: Es gab niemanden, der zu Recht im KZ war. Dann kommt oft sehr schnell der Einwand, daß beispielsweise Diebstahl schon vor den Nazis strafbar gewesen war und dies noch heute ist. Wir haben vorhin darüber gesprochen, daß Abtreibung im Grunde bis heute strafbar ist. Dieses Argument wird vorgetragen, als habe es irgend etwas mit dem Beschluß der Nazis zu tun, jemanden noch nicht einmal als Ersatz einer Haftstrafe, sondern allein aufgrund seiner Vorstrafen zum "Berufsverbrecher" zu erklären und deswegen in ein KZ zu sperren. Das läßt sich nicht legitimieren.

Wie gehe ich damit um, daß Leute andere Leute bestehlen oder gewalttätig sind? Es gab unter den männlichen "Berufsverbrechern" sehr viele Sexualdelikte, so daß es sich zumindest bei einigen definitiv um Täter handelte. Da wird die Diskussion dann richtig heiß. Wie wir damit umgehen, haben wir uns bei der Initiative auch gefragt. Wird die Politik und werden die Menschen, die unsere Initiative möglicherweise unterstützen, diesen Gedanken einer rein rechtlich betrachteten Täterschaft, wie sie auch heute geltend wäre, überwinden? Würden sie die Vorgänge trennen und sich dazu durchringen, alle KZ-Insassen als Opfer anzuerkennen? Bei Sexualverbrechen gibt es einen Punkt, an dem mir das selber sehr schwer fällt.

SB: Es handelt sich offenbar um zwei Ebenen, die leicht vermischt werden. Zum einen An- und Übergriffe auf mich, meine Familie und Freunde, zum anderen das staatliche Gewaltmonopol und die von ihm verhängte Strafe, die ich nicht unbesehen und insbesondere nicht pauschal befürworten möchte. Kommt es angesichts dieser Widerspruchslage leicht zur Konfusion, die weiterer Auseinandersetzung und Entwirrung bedarf?

SK: Das stimmt, und ich habe schon manchmal den Eindruck gehabt, daß sich die Diskussion auf den Dualismus einer Unrechtsjustiz und eines Unrechtsregimes im NS-Staat im Vergleich mit republikanischer Justiz oder demokratischer Polizei zuspitzt. Darüber vergißt man leicht weiterzudenken und die fundierten Diskurse außer acht zu lassen, die es bereits zu dieser Problematik gegeben hat. Allein schon die Frage, wie eine Gesellschaft ohne Gefängnisse aussehen könnte, ist hochinteressant. Untersucht man den Zusammenhang noch genauer, stößt man auf die Frage, wie diese Taten nicht individuell, sondern gesellschaftlich entstanden sind. Die wahre Prävention, wenn man das einmal so sagen darf (lacht), wäre ernsthaft zu fragen, woher die Taten kommen und was sich gesellschaftlich ändern müßte, was sich im Geschlechterverhältnis ändern muß, was sich für das Leben und Erleben von Männern ändern muß, was sich an der Reichtumsverteilung ändern muß, damit das aufhört. Ich hoffe, daß ich nicht zu sehr in diesem Dualismus von einem Extrem Nationalsozialismus und den Gesellschaften vorher und nachher verblieben bin. Aber so, wie du weiterdenkst und weiterfragst, möchte ich auch vorgehen und sagen, daß man noch etliche Schritte weitergehen kann. Aus dem Wissen über die Geschichte kann man noch weiter gehende Fragen stellen - das wäre jedenfalls ein erwünschter Effekt.

SB: Sylvia, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


[1] Sylvia Köchl: Das Bedürfnis nach gerechter Sühne. Wege von "Berufsverbrecherinnen" in das Konzentrationslager Ravensbrück, Mandelbaum Verlag Wien und Berlin 2016, 340 Seiten, 24,90 Euro, ISBN: 978385476-507-3


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