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INTERVIEW/119: Messe links - die inneren Grenzen ...    Julian Bierwirth im Gespräch (SB)


Interview am 3. November 2018 in Nürnberg


Der Autor, Aktivist und Sozialwissenschaftler Julian Bierwirth diskutierte auf der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg Fragen zu den Grundlagen von Solidarität und Kollektivität in der Postmoderne. Nach der Veranstaltung, für die das Magazin für linke Theorie und Debatte bei den Falken thug (Theorie und Ungeduld) verantwortlich zeichnete, beantwortete er dem Schattenblick einige daran anschließende Fragen.


Im Foyer der Kulturwerkstatt Auf AEG - Foto: © 2018 by Schattenblick

Julian Bierwirth
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Solidarität war früher eng verkoppelt mit dem Begriff des Klassenkampfes. Es ging um die Solidarisierung der Klasse und die Überwindung kapitalistischer Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse. Was hat sich aus deiner Sicht heute geändert, daß du den Begriff der Solidarität einer neuen Untersuchung unterziehst?

Julian Bierwirth (JB): Ich habe den Eindruck, daß die Verbindung zwischen Klasse und Solidarität tatsächlich der Lebensrealität der jeweils entsprechenden Phase der kapitalistischen Modernisierung geschuldet ist. Es gibt eine Phase, die sehr stark dadurch geprägt ist, daß es in hohem Maße absolute Armut gibt, aber auch eine starke ArbeiterInnenbewegung, die dagegen angeht, und eine Zukunftsperspektive dieser Bewegung. Diese Vorstellung lautet: Es gibt gesamtgesellschaftlichen Fortschritt und der Kapitalismus ist durchaus ein Fortschritt gegenüber dem Feudalregime, und als nächstes kommt der Sozialismus, der kurz vor der Tür steht. Das ist eine weitverbreitete Vorstellung, die, was man sich heute häufig kaum noch vorstellen kann, in der Zeit tatsächlich allseitig geteilt wurde, nicht nur in der Linken oder in der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in bürgerlichen Verhältnissen. Noch bis in die 70er Jahre hinein ist diese Vorstellung eigentlich hegemonial. All das drückt sich in den 50er und 60er Jahren in Vorstellungen vom allgemeinen Aufstieg aus. Damals gab es diese Fahrstuhltheoreme: Es gibt immer noch Arm und Reich, aber alle gemeinsam sind drei Stufen im Fahrstuhl nach oben gefahren, und deshalb geht es allen besser. Und irgendwann wird es auch den Leuten, die im Trikont leben, so gut gehen wie jetzt dem mittelständischen weißen Facharbeiter in Nordamerika oder Europa.

Diese Vorstellungen sind weit verbreitet gewesen, aber irgendwann in den 70er Jahren in die Krise gekommen mit der Infragestellung des Entwicklungsbegriffs in bezug auf einzelne Gesellschaften durch die Krise in den 70er Jahren und das Einbrechen der Wachstumsraten in der Nachkriegsökonomie. Dadurch wurde plötzlich dieses "es kann immer so weitergehen" in Frage gestellt, und die ArbeiterInnenbewegung geriet vor diesem Hintergrund in die Krise, weil der Kuchen, der verteilt werden sollte, einfach nicht mehr so gewachsen ist, wie das vorher der Fall war. Die Frage, wie gehen wir damit um, wurde ganz anders gestellt und infolge dessen kam es historisch zu einer Entkoppelung von Klasse und Solidarität.

SB: In der Linken sind inzwischen neue Fragen, die man allgemein unter Identitätspolitik subsumiert, hinzugekommen. Würdest du das als eine Bereicherung der Problemstellungen empfinden oder würdest du eher sagen, es ist ein Ausweichmanöver in Hinsicht auf die unabgeschlossene Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital?

JB: Ich würde sagen, es ist beides, also insofern eine sinnvolle Erweiterung emanzipatorischer Fragestellungen, als bestimmte Fragen vorher einfach nicht aufgetaucht sind und teilweise nicht nur nicht behandelt, sondern reaktionär beantwortet wurden. Eine Position, die nicht Homophobie, sondern Homosexualität an sich als Nebenwiderspruch des Kapitalverhältnisses ansieht im Sinne von, das sind alles bürgerliche Dandys und machen deshalb komische Sexualpraxen, die wir alle nicht nachvollziehen können, finde ich hochgradig reaktionär, sie hat mit emanzipatorischer Politik nichts zu tun. Insofern ist es eine sinnvolle Erweiterung auf Fragestellungen, auf die man als emanzipatorische Linke eine Antwort braucht. Gleichzeitig ist es natürlich auch so, daß diese Fragestellungen, wie ich schon angedeutet habe, in dem Moment aufkommen, wo es mit dem Klassenkampf und dem Streben nach der Weltrevolution irgendwie nicht mehr so richtig weitergeht und man das Gefühl hat, wir sind hier in eine Sackgasse geraten und müßten noch einmal grundsätzlich überlegen, was wir eigentlich tun und wie die Verhältnisse gestrickt sind. Und dann gibt es sozusagen einen Ausweichmechanismus auf nicht-ökonomische Fragestellungen, die plötzlich wichtiger werden. Diesen Aspekt gibt es natürlich auch. Deshalb würde ich sagen, es ist beides. Es ist sinnvoll, diese Fragestellungen miteinzubeziehen, aber wenn sie nicht gleichzeitig auch darauf bezogen werden, wie der Kapitalismus als Ganzes verfaßt ist, kann es auch schnell zu einer liberalen Ausweichbewegung werden, wo man eigentlich nur gucken will, daß man selber gut wegkommt.

SB: Die Handhabung von Identitätspolitiken in neoliberalen Kontexten hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Kein modernes Unternehmen und kein transnationaler Konzern kommt heute ohne Diversitätsmanagement aus und nutzt diese Liberalität auch als Ausweis fortschrittlicher Geschäftspolitik. Inwiefern wird dieses emanzipatorische Anliegen auch zur Legitimation von Ausbeutungsverhältnissen genutzt, die dann an anderer Stelle wieder Gewalt freisetzen?

JB: Das gibt es mit Sicherheit, aber ich glaube nicht, daß es eine Spezifik von genau diesen Phänomenen ist. Wenn wir uns die Lohnkämpfe der 50er und 60er Jahren der Arbeiterbewegung anschauen, dann haben sie dazu geführt, daß es einen fordistischen Aufschwung und das sogenannte Wirtschaftswunder in Deutschland gibt. So gesehen könnte man die Frage stellen, ob man diese Kämpfe vielleicht gar nicht hätte führen sollen, weil der Kapitalismus dadurch größer und stabiler wurde. In den 70er Jahren sind dann verstärkt Kämpfe geführt worden um die Frage, wie können wir der Entfremdung entgehen, wie können wir flexibler und selbstbestimmter leben. Auch darauf hat das Kapital eine schlaue Antwort gewußt, als es den Neoliberalismus erfand. Auch hier könnten wir sagen, die Leute hätten diese Kämpfe lieber nicht führen sollen, weil daraus die flexibilisierten Arbeitszeiten resultierten und Ausbeutungsbedingungen, die auch nicht schön sind.

Dieses Phänomen, daß das Kapital Sachen, die einen emanzipatorischen Impuls darstellen können, einfängt und in die eigenen Strukturen einbindet, ist immer vorhanden. Ich glaube, das Problem, dem man sich stellen muß, ist, sich nicht damit zufriedenzugeben und zu sagen, jetzt haben wir etwas erreicht und belassen es dabei, sondern man muß den ursprünglichen Impuls beibehalten und auch noch den nächsten Schritt gehen. Man sieht in der Geschichte der sozialen Bewegungen, daß es immer schwierig ist, weil Leute irgendwann keine Power mehr haben, weil das, was wir machen, an Widerstand und sozialen Forderungen auch immer etwas ist, was wir sozusagen nebenbei tun. Leute gehen nebenbei zur Schule, sie studieren, sie müssen lohnarbeiten, sie sind dem Hartz-IV-Regime unterworfen. Daß Leute dann irgendwann auch kaputt sind und, wenn das Saisonziel erreicht ist, sich vielleicht zurückziehen, ist individuell nachvollziehbar, aber für die Bewegung natürlich schwierig.


Julian Bierwirth beim Vortrag mit Exemplar thug Ausgabe 3 - Foto: © 2018 by Schattenblick

Theoriebildung ist alles andere als langweilig und kann Ungeduld produktiv machen
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Heute gibt es in linken Bewegungen zum Teil restriktive Verhaltensvorschriften wie etwa die Nichtakzeptanz männlicher Personen mit nacktem Oberkörper bei Punkkonzerten, weil Frauen das als Diskriminierung empfinden könnten. Wird da aus deiner Sicht teilweise überreagiert und die Tür zu einer neuen Prüderie aufgestoßen?

JB: Ich würde auch hier wieder sagen, es ist irgendwie beides. Wenn ich jetzt als Typ die Frage beantworte, habe ich natürlich leicht reden, weil es für Männer traditionell vergleichsweise unproblematisch ist, auf Camps mit freiem Oberkörper herumzulaufen. Wenn Frauen so herumlaufen, gibt es halt blöde Blicke. Es ist auf einer ganz anderen Ebene auch innerhalb der Linken noch sanktioniert. Insofern kann ich es schon verstehen, daß Leute sagen, wir wollen das nicht, wir fühlen uns dabei unwohl, es ist irgendwie eine schräge Konstellation. Ich würde aber trotzdem daran festhalten wollen, daß es bei linker Organisierung darum gehen sollte, Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Es geht nicht um eine abstrakte Gleichheit von Handlungsmöglichkeiten im Sinne davon, daß jetzt niemand mehr mit freiem Oberkörper herumläuft, sondern die emanzipatorische Zielperspektive muß sein, daß alle mit freiem Oberkörper herumlaufen können, wenn sie es wollen, oder zumindest in bestimmten Bereichen des Camps bzw. bei manchen Konzerten. Dafür brauchen wir aber, glaube ich, eine Strategie, wie wir dahin kommen können. Die einzige Strategie, die ich im Moment in bezug auf diese Fragestellung kenne, ist, es halt zu verbieten, aber dadurch kommen wir dem Ziel nicht näher, und das finde ich sehr unbefriedigend.

SB: Einige linke Strömungen haben das Konzept der Intersektionalität für sich entdeckt. Inwieweit hältst du es für ein tragfähiges Konzept, um linke Organisierung handlungsfähiger zu machen?

JB: Wie immer hat auch das zwei Seiten. Gut am Intersektionalitätskonzept finde ich, daß es den Blick so ein bißchen öffnet und deutlich macht, daß es verschiedene Perspektiven von Leuten gibt, die Herrschaft im 21. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise unterworfen sind, und daß man das auch in der politischen Praxis und Strategiebildung nicht vergessen sollte. Aus diesem Grund finde ich es gut. Es ist insofern problematisch, weil es halt häufig, zumindest in der Art und Weise, wie es in Deutschland und auch in politischen Kontexten rezipiert wird, darauf hinausläuft, daß man gewissermaßen verschiedene Unterdrückungsmechanismen addiert. Dann macht man ein Gruppenplenum und guckt, wie viele Herrschaftsverhältnisse einem einfallen, schreibt sie alle nebeneinander auf, die dann im Aufruf aller auftauchen. So hat man an alle gedacht, aber zur Demo kommen dieselben weißen AkademikerInnen, wie sie immer zu linken Demos kommen. Das ist auch keine Lösung.

Von daher muß man aufpassen, daß man am Ende nicht bei Lippenbekenntnissen stehenbleibt oder diese Perspektive auf das Ganze nicht aus den Augen verliert. Diese Addition hat ja gerade den Nachteil, daß sie die Frage, was Kapitalismus eigentlich ist, gar nicht mehr so richtig stellen kann, sondern es gibt halt eine Vielfalt von einzelnen Unterdrückungsverhältnissen, von denen man dann auch sagen kann, daß sie alle komischerweise irgendwie zeitgleich entstanden sind. Haben sie vielleicht etwas miteinander zu tun? Ich vermute einmal, ja. Wenn dann der Kampf gegen dies Gemeinsame, wie sie entstanden sind, am Ende darauf hinausläuft, die Hälfte der Probleme wieder zu vergessen, wie es in der traditionellen Linken häufig war, ist es natürlich auch nicht zufriedenstellend und daher verständlich, daß Leute dies auf die Tagesordnung setzen und entsprechend ihre Kämpfe daran orientieren. Ich kann verstehen, warum Leute das machen, finde aber diesen Blick auf das Darüberhinausgehende, das Zusammenhängende der Kämpfe oder auch Unterdrückungsmechanismen wichtig. Den müssen wir, glaube ich, als Linke wieder stärker in den Mittelpunkt rücken.

SB: Julian, vielen Dank für das Gespräch.


Zwei Ausgaben des thug auf dem Büchertisch der Falken - Foto: © 2018 by Schattenblick

Am Stand der Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken
Foto: © 2018 by Schattenblick


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1. Januar 2019


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