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INTERVIEW/125: 24. Linke Literaturmesse - Türkei und Kurdistan von unten ...    Max Zirngast im Gespräch (SB)



Interview am 3. November 2019 in Nürnberg

Der österreichische Politikwissenschaftler und Philosoph Max Zirngast lebte, studierte und arbeitete seit 2015 als Journalist und Autor in der türkischen Hauptstadt Ankara. Am 11. September 2018 wurde er dort festgenommen und dann inhaftiert. Nach drei Monaten im Gefängnis kam er am 24. Dezember 2018 aus der Untersuchungshaft frei, durfte aber das Land nicht verlassen. Der Prozeß gegen ihn begann am 11. April 2019 und wurde am ersten Verhandlungstag auf den 11. September 2019 vertagt. Beim zweiten Termin wurden er und die Mitangeklagten Hatice Göz, Burcin Tekdemir und Mithatcan Türekten auf Antrag der Staatsanwaltschaft freigesprochen, das Ausreiseverbot wurde aufgehoben. Seit Ende September ist Zirngast wieder in Europa.

Auf der 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg, die wie schon im Vorjahr in der Kulturwerkstatt auf AEG stattfand, stellte er am 3. November das von der Solidaritätskampagne herausgegebene Buch "Die Türkei am Scheideweg und weitere Schriften von Max Zirngast" vor, das im Sommer 2019 bei edition assemblage in Münster erschienen ist [1]. Im Anschluß an die Buchvorstellung [2] beantwortete er dem Schattenblick einige vertiefende Fragen, die insbesondere aus deutscher Sicht von Interesse sein dürften.


In einem Flur der Kulturwerkstatt auf AEG - Foto: © 2019 by Schattenblick

Max Zirngast
Foto: © 2019 by Schattenblick


Schattenblick (SB): In der Bundesrepublik gibt es eine ganze Reihe von politischen Gefangenen der türkischen und kurdischen Linken, die teilweise der Isolationshaft unterworfen sind. Damit liegt im Grunde genommen die Zusammenarbeit zwischen dem türkischen und dem deutschem Staat klar auf der Hand. Was wäre an politischer Solidaritätsarbeit zur Unterstützung der Gefangenen und der kurdischen Bewegung in Deutschland geboten?

Max Zirngast (MZ): Das ist eine Frage, die auf vielen Ebenen beantwortet werden kann. Zum einen dürfte die Ausweitung des Terrorismus-Paragraphen auf linke und progressive Organisationen früher oder später tatsächlich auch autochthon deutsche Bewegungen betreffen, die ihr wesentliches Betätigungsfeld hierzulande sehen. Das ist im Grunde ein Angriff auf linke progressive Bewegungen auch in Deutschland, aber gleichzeitig sind die türkischen und kurdischen Linken auch das leichteste Opfer. Ich glaube, daß die Solidarität der deutschen und europäischen Linken mit diesen Personen deswegen schon aus Eigeninteresse sehr groß sein müßte. Das fängt bei der Aufmerksamkeit der Medien an, die einfach sehr wichtig ist, weil meines Erachtens sehr viele Menschen gar nicht wissen, daß beispielsweise im TKP/ML-Prozeß immer noch eine Person in Isolationshaft sitzt. Ich werde sehr oft nach den Haftbedingungen in der Türkei gefragt, weiß aber nicht, wie es in unseren Ländern darum bestellt ist, weil ich nie in Deutschland oder Österreich im Knast war. Aber man weiß, daß hier in Deutschland Personen seit vier Jahren in Isolationshaft sitzen, darunter auch eine, die in der Türkei gefoltert wurde. Über die Isolationshaft hinaus sind weitere besondere Erschwernisse dieser Haftbedingungen zu nennen, etwa was die Sprache oder die Literatur betrifft, die ein Gefangener bekommt oder nicht bekommt und dergleichen mehr. Das müßte die deutsche, österreichische oder europäische Linke schon aus Eigeninteresse stärker interessieren, als es tatsächlich der Fall ist.

Zum anderen ist die Solidaritätsarbeit, sei es mit politischen Gefangenen in der Türkei, hier in Deutschland oder anderswo, nicht nur für diejenigen wichtig, die von Repression betroffen sind, sondern auch für Leute, die von draußen Solidarität üben. Es bringt die Menschen zusammen und gibt ihnen das Gefühl, etwas Konkretes tun zu können, wenn die Inhaftierten zumindest einige Rechte bekommen, die sie zuvor nicht hatten, oder sogar aus dem Gefängnis freikommen, und diese Arbeit somit Erfolge zeitigt, was auch sehr oft der Fall ist.

Was die Bedingungen in europäischen Gefängnissen betrifft, ist es schlicht so, daß wir sehr wenig darüber wissen. In der Türkei ist das teilweise sogar anders. Obgleich die Umstände dort natürlich viel gravierender sind, ist die Kenntnis darüber doch größer, weil sehr viele politische Häftlinge in den Gefängnissen sitzen, zahlreiche Organisationen um bessere Haftbedingungen kämpfen und nicht wenige Abgeordnete regelmäßig in die Gefängnisse gehen. Ich weiß nicht, wann das letzte Mal ein Abgeordneter des deutschen Bundestags in ein Gefängnis gegangen ist und es inspiziert hat. Das wird weggeschoben, als sei es nicht notwendig, weil wir im zivilisierten Europa leben, wo es gute Haftbedingungen gibt. Da habe ich doch meine Zweifel, daß es sich tatsächlich so verhält. Jedenfalls ist die Solidaritätsarbeit für die Menschen, die sich auf diese Weise engagieren, ob sie die Betroffenen kennen oder nicht, eine sehr wichtige Arbeit. Und sie ist auch für sie persönlich bedeutsam, weil sie ihnen das Gefühl der Ermächtigung gibt.

SB: Das Interesse der Bundesregierung und auch der deutschen Öffentlichkeit war in einigen Fällen von prominenten Gefangenen in der Türkei relativ groß, während es in vielen anderen so gut wie gar nicht vorhanden ist. Was müßte deines Erachtens passieren, damit auch die anderen Gefangenen in der Türkei aus deutscher Sicht mehr Aufmerksamkeit bekommen?

MZ: Es gibt verschiedene Indikatoren, an denen sich Mainstreammedien orientieren. Wenn Fälle von Gefangenen in den großen Medien präsent sind, ist auch das Staatsinteresse bis zu einem gewissen Grad zur Stelle. Berichten die Medien über Häftlinge in der Türkei, wird die Frage gestellt, was denn unsere Staatsvertreter und die Regierung unternehmen. Angesichts dessen müssen die offiziellen Stellen, ob sie es wollen oder nicht, zumindest in gewissem Umfang Stellung dazu beziehen und eventuell sogar etwas unternehmen. Deswegen ist die Medienöffentlichkeit sehr wichtig, wobei in anderen Fällen diese Öffentlichkeit auch beabsichtigt sein kann, um bestimmte Zwecke zu befördern. Was nun Deniz Yüzel betrifft, arbeitet der ja für ein Medium im Springer-Verlag, das ohnehin die Möglichkeit hat, diese Geschichte überall unterzubringen. Gleichzeitig hat auch ein Staatsinteresse bestanden, diesen Fall großzumachen, und das hat dann natürlich eine ganz andere Reichweite. Ich glaube nicht, daß wir Linke die Möglichkeiten haben, diese Breite zu erreichen. Das wird nicht gehen. Aber ich denke, es ist sehr wichtig, daß die Fälle thematisiert werden und durchaus versucht wird, die Logik der Mainstreammedien teilweise ein bißchen mitzuspielen und vielleicht das Menschliche ein wenig vor das Politische zu stellen, weil das eben mehr Interesse wachruft, so daß es plazierbarer ist und damit auch die Menschen erreicht. Das halte ich für sehr wichtig.

Hinzu kommt natürlich, daß die europäische Öffentlichkeit, sei es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, außer in Ausnahmefällen sehr wenig Interesse an Menschen hat, die in der Türkei im Gefängnis sitzen, aber einen türkischen oder kurdischen Namen haben. Wenn die nicht gerade für die Welt schreiben, dann ist das Interesse daran sehr gering. Das hat sehr viel mehr mit den Verhältnissen in Europa zu tun, etwa dem Alltagsrassismus, selbst wenn er nicht immer offen zur Sprache kommt, daß diese Gefangenen nicht als Menschen von uns, von hier gesehen werden, oder man sagt, na ja, das sind halt Türken und Türkinnen, Kurden und Kurdinnen. Das ist ihre Angelegenheit, wenn sie in der Türkei verhaftet werden. Gegen diese Auffassung muß man sehr stark arbeiten, da kann man auch allgemeine Werte und Rechte in den Vordergrund rücken.

Aber einer der wichtigsten Aspekte wäre meines Erachtens, was ich in meinem Vortrag im Zusammenhang der Dokumentationen von Arte angesprochen habe, nämlich daß die Verbindungen von europäischen Staaten mit der Türkei stärker thematisiert werden müssen, die weit über Waffenlieferungen hinausgehen. Sie umfassen eine Kooperation der Geheimdienste und Polizeien und reichen bis zu verschiedensten Formen der Zusammenarbeit auf der Ebene von politischer Repräsentation, also der Legitimierung dessen, was in der Türkei passiert. Immer wieder besuchen führende Politiker aus Deutschland oder anderen EU-Staaten das Land, ohne die dort herrschenden Bedingungen anzusprechen, wie das kürzlich wieder im Falle des deutschen Außenministers Heiko Maas geschehen ist. Er hatte zuvor noch große Reden geschwungen, daß er die türkische Regierung auf die Menschenrechte festnageln wird, doch passiert ist davon nichts. Diese Beziehungen europäischer Staaten zu der Türkei gilt es verstärkt zu thematisieren.

SB: Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei sind so eng, daß die beiden Länder in gewissem Umfang in einer ökonomischen Abhängigkeit voneinander stehen. Geht diese Verflechtung so weit, daß die Türkei am Band der Bundesrepublik hängt?

MZ: So weit kann man wohl nicht gehen, aber man kann doch sagen, daß die türkische Wirtschaft insgesamt sehr stark außenabhängig ist. Das hat mit dem Modell zu tun, das vor allem nach dem Putsch 1980 etabliert wurde, welches sehr stark auf Auslandsverschuldung und Geldflüssen aus dem Ausland einerseits und auf privater Verschuldung im Inland andererseits beruht. Es ist eher ein Modell, das auf Produktivität setzt, auch wenn es einige Sektoren gibt, in denen die Türkei nicht das produziert, was im Inland benötigt wird, sondern vor allem im Metallsektor und Automobilsektor auf den Export ausgerichtet ist, mit all diesen Mercedes-, VW- oder BMW-Werken. Andererseits gibt es unproduktive Sektoren wie insbesondere die in der Türkei sehr starke Bauwirtschaft, die teilweise zu einem Aufschwung beigetragen hat, von dem die Bevölkerung jedoch nur in kleinen Teilen profitieren konnte. Insgesamt kann man sagen, daß das türkische Modell sehr stark außenabhängig und damit in hohem Maße von Konjunkturschwankungen der Weltwirtschaft abhängig ist. Gleichzeitig ist die türkische Wirtschaft natürlich sehr stark vor allem mit europäischem Kapital verzahnt, so daß eine Ablösung tatsächlich nicht so leicht ist.

Es werden ja gegenwärtig Diskussionen geführt, die auf der militärisch-geostrategischen Ebene als Orientierung hin zu den USA und zur NATO oder im Gegenteil zu einer Orientierung in Richtung Rußland zum Ausdruck kommen. Dabei geht es um neue Manövrierräume, den Länder wie die Türkei angesichts einer schwindenden US-Hegemonie bekommen. Wenngleich das zutrifft, ist für die Türkei doch eine Ablösung vor allem vom europäischen Kapital im Moment nicht möglich. Eine völlige Ablösung vom westlichen Block, soweit das überhaupt noch ein Block ist, aber vor allem vom europäischen Kapital ist sehr schwer möglich, zumal die Türkei noch immer ein NATO-Staat ist. So würde ich diese Frage beantworten. Davon abgesehen sind natürlich diese Wirtschaftsbeziehungen für beide Seiten profitabel, besser gesagt für das beiderseitige Kapital und nicht unbedingt für die Bevölkerungen. Genauso wie der Großteil der deutschen Bevölkerung von diesen Waffenlieferungen nicht profitiert, profitiert auch ein Großteil der türkischen Bevölkerung nicht von den Autowerken, sonstigen Fabriken und anderen wirtschaftlichen Institutionen. Darüber hinaus, daß die Leute womöglich einen Job haben, profitieren sie davon nicht wirklich. Das gilt es aufzuzeigen und da auch den Finger draufzulegen.

SB: Thematisiert wird von deutscher Seite insbesondere die Gefahr, daß Erdogan die Grenzen nach Westen öffnen könnte. Gibt es so etwas wie eine klammheimliche Übereinkunft, daß man aus europäischer Sicht die von der Türkei geplante Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus Rojava und die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge insgeheim billigt oder sogar als Lösung einkalkuliert?

MZ: Ja, es gibt tatsächlich sogar bei der UN Beratungen über diesen Plan. Die Türkei droht, nicht zwei Millionen, aber Zehntausende bis Hunderttausende aus Syrien Geflüchtete dort wieder anzusiedeln. Das Problem ist natürlich, daß in der Geschichte der Region, auch der Türkei des osmanischen Reiches, solche gewaltigen Verschiebungen von Bevölkerungsgruppen gegen deren Willen sehr oft stattgefunden haben. Dieses in beiderlei Hinsicht unmenschliche Projekt hat also Tradition, was nahelegt, daß die türkische Regierung es tatsächlich durchsetzen will. Ich gehe davon aus, daß die arabisch-sunnitisch-syrische Bevölkerung, also die Geflüchteten in der Türkei, im Sinne eines politischen Kalküls in Nordsyrien eingesetzt werden sollen, wie das auch in der Türkei selbst schon passiert ist, indem Flüchtlingscamps mitten in alevitisches Siedlungsgebiet gepflanzt worden sind. Das löst natürlich bei der alevitischen Bevölkerung Panik aus, die aus der Geschichte weiß, daß es immer wieder Massaker an ihr gegeben hat. Wenn also der türkische Staat neben 30.000 Aleviten 50.000 arabisch-syrische Sunniten hinsetzt, gibt das zwangsläufig Anlaß zu größter Besorgnis. Zudem ist nicht klar, in welchem Maße in solchen Camps auch gezielt militante Kämpfer plaziert worden sind, so daß es sich eher um Ausbildungslager handelt, was natürlich nicht heißen soll, daß das für alle oder die Mehrzahl der Geflüchteten gilt.

Das Problem ist eben, daß sie zum Spielball der türkischen Staatspolitik werden, die gezielt Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielt. Das hat Auswirkungen darauf, wie die aus Syrien geflohenen Menschen von anderen Minderheitengruppen in der Türkei wahrgenommen werden, die sich potentiell mit ihnen solidarisieren könnten. So sind in den gefährlichsten und am schlechtesten bezahlten Sektoren wie zum Beispiel im Baugewerbe, wo sehr viele Menschen bei Arbeitsunfällen sterben, vor allem Kurden und Syrer beschäftigt. Es ist ja kein Zufall, daß gerade sie als billige Arbeitskraft ausgebeutet werden. Eine Solidarisierung wird durch dieses gezielte social engineering der türkischen Bevölkerungspolitik verhindert.

Die andere Frage ist natürlich, wie ernst diese Drohung genommen werden muß, die Grenzen zu öffnen und Millionen Flüchtlinge in Richtung Westen zu schicken. In vielen Fällen dürfte das schon deshalb nicht möglich sein, weil es sich um Leute handelt, die bereits die türkische Staatsbürgerschaft haben. Man braucht sich ja nur Kinder vorzustellen, die 2011 im Alter von vier, fünf Jahren in die Türkei gekommen sind, mittlerweile den größeren Teil ihres Lebens dort verbracht haben, viel besser Türkisch als Arabisch sprechen, zur Schule gehen oder, wenn sie bereits älter sind, feste Arbeitsplätze oder ein Geschäft eröffnet haben. Sie alle aus der Türkei zu vertreiben ist abgesehen von dem menschlichen Wahnsinn dahinter, glaube ich, auch rechtlich nicht möglich. Davon abgesehen war diese Situation aus europäischer Sicht vor ein paar Jahren wohl ein größeres Problem als es das heute ist, denn inzwischen sind die Balkanroute und andere Fluchtwege mehr oder weniger geschlossen.

Daß Millionen von Syrern nach Deutschland kommen könnten, ist daher eher Rhetorik und gezielte Panikmache, die von beiden Seiten bedient wird, als daß dieses Szenario einen realen Hintergrund hätte. Wenn die Bundesregierung der eigenen Bevölkerung die Zusammenarbeit mit Erdogan verkaufen muß, dann ist der Verweis auf Massen von Flüchtlingen, die andernfalls ins Land strömen würden, noch immer ein Argument, das am ehesten zieht. Wahrscheinlich verhält es sich hier in Deutschland ähnlich wie in Österreich, wo die Alltagsrhetorik der Politik argumentiert, daß wir doch mit Ägypten und Libyen sehr gut zusammenarbeiten, ohne daß die Frage gestellt würde, um was für Staaten es sich dabei handelt. Daß diese Länder die Flüchtlinge von uns fernhalten, ist ein rassistischer Diskurs, der hier greift und andere unangenehme Fragen überdeckt.

SB: Der kurdische Gesellschaftsentwurf ist in vielerlei Hinsicht beispielhaft. Inzwischen wird auch seinem ökologischen Anteil größere Aufmerksamkeit geschenkt, wobei die neuen Bewegungen der Klimagerechtigkeit zumindest in Teilen Solidarität mit Rojava zum Ausdruck bringen. Könntest du dir vorstellen, daß über die traditionelle Solidarität mit der kurdischen Bewegung hinaus auf diesem Wege frische Impulse gesetzt werden?

MZ: Auf jeden Fall. Eine Bewegung wie Fridays for Future ist natürlich diffus wie alle Bewegungen, wobei es sich noch dazu um sehr junge Leute handelt, die in einer liberalen Gesellschaft aufwachsen. Deswegen neigen sie auch in der Position sicher zum Teil individuell zum Liberalismus. Das ist auch völlig normal und kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden. Ganz im Gegenteil ist dies eine Form, die offen in alle Richtungen ist, wenn solche Politisierungsprozesse in Bewegung gesetzt werden. Das zeigt sich auch daran, daß man dann beispielsweise auch eine Solidarisierung mit Rojava antrifft. Es kommt in vielen Städten zu gemeinsamen Aktionen, und das ist bedeutsam, weil es sich um eine sehr breite Bewegung handelt, die über alle Länder Europas hinweg sogar bis in die USA reicht.

Das finde ich auch deswegen sehr wichtig, weil ja auch ehrliche Liberale angesichts der Alternativen im Mittleren Osten durchaus Interesse an Rojava finden könnten. Man muß dabei berücksichtigen, daß sich viele Menschen, die mit den Diskursen nicht vertraut sind, schon schwer damit tun, die Kurden im Nordirak von den Kurden in Nordsyrien zu unterscheiden, und alle in einen Topf werfen. Beispielsweise arbeitet die Bundeswehr immer noch mit den Kurden im Nordirak zusammen und schickt ihnen Waffen. Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, über feministische Diskurse, ökologische Diskurse, aber auch über dieses multiethnische Modell anzudocken und breitere Kreise zu erreichen. Ein ganz banales Beispiel: Immer wieder wird vor allem von Rechten in Europa das rassistische Thema bespielt, daß es Christinnen und Christen im Mittleren Osten, auch in der Türkei, nicht sonderlich gut geht, was auch stimmt. In Rojava existiert ein Modell, bei dem die christliche Bevölkerung in der Verwaltung eingebunden ist, ihre eigenen autonomen Milizen und ihre eigenen kulturellen Räte hat und daher ihre Kultur, soweit das in einem Kriegsgebiet möglich ist, leben kann. Das müßte eigentlich auch die breite Mehrheitsbevölkerung in Europa erfreuen und Solidarität wachrufen, was aber nicht oder nur in sehr geringem Maße geschieht. Diese Aspekte sind sehr wichtig, und man könnte sie durchaus noch ausweiten, weil Rojava angesichts dessen, was in der Region sonst so passiert, ein sehr interessantes Modell darstellt, das auch von bürgerlichen Liberalen aufrichtig untersucht und analysiert werden müßte.

SB: Max, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:


[1] Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hg.): Die Türkei am Scheideweg und weitere Schriften von Max Zirngast, edition assemblage Münster 2019, 432 Seiten, 12,50 EUR, ISBN 978-3-96042-060-6

[2] Bericht zur Buchvorstellung:
www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbbr0102.html


Berichte und Interviews zur 24. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
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10. November 2019


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