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BERUF/042: Wenn sich Bologna und Kopenhagen treffen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 130/Dezember 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn sich Bologna und Kopenhagen treffen

Erhöhte Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung?

Von Nadine Bernhard, Lukas Graf und Justin J.W. Powell


Bologna und Kopenhagen zielen beide auf größere Durchlässigkeit in (Aus) Bildungssystemen und damit auf größere soziale Mobilität. Frankreich, Deutschland und Österreich reagieren auf diese europäischen Prozesse unterschiedlich. Die Beharrungskräfte sind stark; von einer einfachen Konvergenz kann man nicht sprechen. Die europäischen Prozesse haben ein großes Potenzial, Reformen erhöhter Durchlässigkeit zu unterstützen.


1999 beschlossen die Bildungsminister der EU-Mitgliedstaaten, bis 2010 einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen; der sogenannte Bologna-Prozess wurde in Gang gesetzt. Mit der Unterzeichnung der Kopenhagener Erklärung nur drei Jahre später entschlossen sich die Nationalstaaten, auch im Bereich der beruflichen Bildung stärker zusammenzuarbeiten. Vor allem soll die Vergleichbarkeit der nationalen Bildungsabschlüsse verbessert werden. Sowohl "Kopenhagen" als auch "Bologna" möchten erreichen, dass die Durchlässigkeit zwischen einzelnen Bildungsbereichen erhöht wird, insbesondere zwischen beruflicher und Hochschulbildung. Diese Flexibilisierung von Bildungswegen soll vor allem über gemeinsam entwickelte Standards, wie dem Europäischen Qualifikationsrahmen, der Validierung und Anerkennung unterschiedlicher Lernformen sowie der Einführung von Kreditpunktesystemen, gewährleistet werden.

Heute stellt sich die Frage, wie diese beiden Prozesse in den europäischen Nationalstaaten wirken und wie das Verhältnis von Hochschul- und Berufsbildung dadurch verändert wurde. Die Frage nach der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und Hochschulbildung ist wichtig, da stratifizierte (Aus) Bildungssysteme ohne Brücken zwischen einzelnen Bildungssektoren den möglichst gleichen Zugang zu Bildungs- und Beschäftigungschancen behindern. Ein Vergleich zwischen den Entwicklungen in Deutschland, Frankreich und Österreich kann auch Aufschluss darüber geben, ob sich eine diesbezügliche Konvergenz innerhalb Europas abzeichnet.

Mit der Auswahl werden drei Länder verglichen, die jeweils eigene Bildungstraditionen und -institutionen aufweisen sowie eine unterschiedliche EU-Mitgliedschaftsgeschichte. Den verhältnismäßig kleinen, binär in Universitäten und Fachhochschulen gegliederten Hochschulsystemen in Deutschland und Österreich steht Frankreichs stark differenziertes Hochschulsystem gegenüber. Im Vergleich zum stärker dual strukturierten Berufsbildungssystem in Deutschland und der traditionell eher schulbasierten beruflichen Bildung in Frankreich hat Österreich zunehmend beide Modelle miteinander kombiniert. Gemeinsam zeichnen sich Deutschland und Österreich aber immer noch durch eine historisch gewachsene starke institutionelle Trennung - dem sogenannten Bildungsschisma - des Berufsbildungssystems vom Hochschulsystem und damit einem Mangel an Bildungsdurchlässigkeit aus.

Deutschland: Mangel an Durchlässigkeit

Als Gründungsmitglied und bevölkerungsreichstes Land der EU spielt Deutschland seit Jahren auch in der europäischen Bildungszusammenarbeit eine wichtige Rolle. Trotzdem sind die Bologna- und Kopenhagen Prozesse für Deutschland große Herausforderungen; die segregierten Strukturen werden massiv in Frage gestellt.

Das zentrale Bologna-Ziel, die sukzessive Einführung einer zeitlich eingegrenzten, gestuften Studienstruktur mit den Abschlüssen Bachelor und Master, ist in allen Hochschulen angekommen. Diese neue Studienstruktur, die zu einem schnelleren ersten Studienabschluss führen soll, zielt auf die Erhöhung der Hochschulbeteiligungsquote, die im internationalen Vergleich noch relativ niedrig ist. Denn obwohl tertiäre Bildung als wichtiger Wettbewerbsfaktor anerkannt wird, hat Deutschland traditionell eher in berufliche Bildung investiert. Während europäische Benchmarks darauf zielen, dass mindestens 40 Prozent aller 30- bis 34-Jährigen ein tertiäres Bildungszertifikat erwerben, liegt die Quote in Deutschland erst bei 28 Prozent. Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Die institutionelle Logik der Segregation im gegliederten Schulwesen und mangelnde Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung begrenzen die Hochschulexpansion, die in vielen anderen Ländern schon längst stattgefunden hat.

Weder der Bologna- noch der Kopenhagen-Prozess haben im deutschen Bildungssystem bisher die Einführung eines ausgebauten Systems der Anerkennung von unterschiedlichen Lernformen nach sich gezogen. Die Hochschulen erkennen zum Beispiel nur restriktiv eine berufliche Vorbildung als Zulassungsvoraussetzung an.

Ob eine europäische Standardisierung der Berufsbildung ebenso schnelle tiefgreifende Reformen nach sich ziehen wird wie der Bologna-Prozess, ist ungewiss. Die Einführung eines Qualifikationsrahmens, der berufliche und allgemeine Bildung integriert betrachtet, steht durch den Kopenhagen-Prozess zumindest auch in Deutschland auf der Agenda. Jedoch dauern die konfliktbehafteten Debatten über die Einordnung der unterschiedlichen Qualifikationen in einen einheitlichen Rahmen an, da durch den Korporatismus viele Akteure, wie die Gewerkschaften, Arbeitgeber, Hochschulen, Kultusminister und Kammern - und damit auch Vetospieler, in den Verhandlungsprozess einbezogen werden müssen.

Insgesamt lässt sich für Deutschland konstatieren, dass das "Bildungsschisma", die weitgehende Trennung beruflicher und allgemeiner Bildung, noch nicht aufgehoben werden konnte. Aber die europäischen Prozesse haben schrittweise Veränderungen, etwa die Debatten über den Qualifikationsrahmen, ausgelöst. Ob sich das Verhältnis von beruflicher Bildung und Hochschulbildung grundlegend verändern wird, ist aber noch offen.


Frankreich: differenziertes System mit Brücken

Als Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaften, das zusammen mit Deutschland oft als Motor der europäischen Einigung bezeichnet wird, gehört Frankreich auch zu den vier Unterzeichnern der Sorbonne-Erklärung, die den Grundstein für den Bologna-Prozess legte. Frankreich gilt aber gleichzeitig traditionell als sehr kritisch, wenn europäische Initiativen die französische Souveränität, die Kultur und das Selbstverständnis berühren, wie nicht zuletzt das Nein zum Verfassungsvertrag 2005 zeigte. Insofern ist für Europäisierungsprozesse in einem so sensiblen Bereich wie der Bildungspolitik nicht mit einem Automatismus der Umsetzung zu rechnen.

Im Gegensatz zu Deutschland gab es in Frankreich bereits vor Bologna eine differenzierte Struktur der tertiären Bildungsabschlüsse, in die sich die B.A./ M.A.Struktur relativ schnell integrieren ließ. Im Hochschulbereich wurden aber nationale Eigenheiten des französischen Systems bewahrt: Die prestigereichen Grandes Ecoles haben sich nicht vollständig in den Reformprozess integriert und verleihen weiterhin keinen Bachelor bzw. Licence-Grad. Auch die zweijährigen berufsorientierten technischen Studiengänge blieben erhalten. Somit oblag die Umsetzung der LMD-Reformen (Licence, Master, Doctorat) vor allem den Universitäten, die fast 60 Prozent der französischen Studenten aufnehmen.

Mit den Bologna-Reformen ging eine noch stärkere berufliche Ausrichtung der Universitätsabschlüsse unter anderem mit der Einführung eines "beruflichen Bachelor" einher. Zudem wurde darauf geachtet, dass mit der Umstellung der Studienstruktur auch die Übergänge zwischen den Studiengängen durch sogenannte Passerelles (etwa: Brücken oder Übergänge) vereinfacht werden.

Der Europäisierung der Berufsbildung in Frankreich wird im Vergleich zu den Bologna-Reformen keine große Bedeutung beigemessen. Dies ist damit zu erklären, dass im französischen System bereits viele der im Kopenhagen-Prozess geforderten Standards existieren und daher kaum institutionelle Veränderungen erforderlich sind. So wird seit 1969 eine Art nationaler Qualifikationsrahmen weiterentwickelt, der Hochschulbildung und Berufsbildung integriert betrachtet und eine verstärkte Transparenz der verschiedenen Bildungsgänge gewährleistet. Auch wurden in Frankreich Verfahren zur Validierung unterschiedlicher Lernformen eingeführt. Lebenslanges Lernen steht schon seit Jahrzehnten auf der französischen Agenda.

Inwiefern das französische System als Vorbild für die europäischen definierten Standards gelten kann, bleibt offen. Der aktuelle Fokus französischer Bildungspolitik liegt jedenfalls woanders, nämlich in der Stärkung dualer Ausbildungsformen auch im tertiären Bildungsbereich und in der Aufwertung der beruflichen Bildung insgesamt. Denn durch die schulische Segregation werden bislang fast ausschließlich Schüler mit schlechten schulischen Leistungen in den beruflichen Bildungsbereich selektiert.


Österreich: in Richtung größerer Offenheit

Die gegenwärtigen Europäisierungsprozesse und insbesondere die nationale Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens fordern in Österreich ähnlich wie in Deutschland Veränderungen in Richtung größerer Durchlässigkeit zwischen den getrennten Bildungssegmenten der Berufs- und Hochschulbildung ein. Dabei unterscheidet sich Österreich in seinem Verhältnis zur Europäischen Union strukturell von Deutschland (wie auch von Frankreich): Österreich ist erst 1995 der EU beigetreten und zeigt eine erhöhte Adaptionswilligkeit.

Die beiden deutschsprachigen Länder mit binär strukturiertem Hochschulsektor haben ähnliche Tendenzen in der Umsetzung von Bologna, aber klare Unterschiede in den Dynamiken im Berufsbildungssektor. So befand sich das österreichische Berufsbildungssystem seit Ende der 1990er Jahre ohnehin in einer Phase schrittweiser Reformen, maßgeblich ausgelöst durch eine Krise auf dem Lehrstellenmarkt und getragen von konzertierten Maßnahmen der Sozialpartner. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung der Berufsmatura, der Möglichkeit für Lehrlinge, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben. Reformen wie diese entsprechen der im Kopenhagen-Prozess eingeforderten Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung. In diesem Sinne traf der Kopenhagen-Prozess in Österreich auf eine endogene Entwicklung mit gleicher Stoßrichtung - europäische Politik wirkt hier also als Verstärker.

Am Beispiel der österreichischen Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens zeigt sich zudem, dass die Erfolgschancen des Kopenhagen-Prozesses durch den Bologna-Prozess beeinflusst werden können. Die Entwicklung eines solchen Rahmens verlangt eine umfassende Einordnung aller nationalen Qualifikationen in eine einheitliche Matrix. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Qualifikationen der höheren Berufsbildung gleich hoch eingestuft werden sollen wie Abschlüsse an Hochschulen. Hier gibt der Kopenhagen-Prozess den Leitsatz "andersartig, aber gleichwertig" vor. Trotzdem äußern sich die Hochschul-Verbände kritisch und legitimieren ihre Abwehrhaltung mit Verweis auf die so angeblich gefährdete Autonomie der mit Bologna geschaffenen dreigliedrigen Studienstruktur (B.A., M.A., Doktorat). Dies deutet darauf hin, dass die zeitlich wie inhaltlich mangelnde Abstimmung des Bologna- und des Kopenhagen-Prozesses entgegen den ursprünglichen Absichten zumindest teilweise zu einer Verstetigung der Trennung zwischen den Segmenten der Berufsausbildung und der Hochschule führen könnte.


Europäisierung erzwingt noch keine Konvergenz

Bologna und Kopenhagen zielen beide auf zunehmende internationale sowie nationale soziale Mobilität und stellen somit das Bildungsschisma, also die in einigen Ländern existierende starke institutionalisierte Trennung von Berufs- und Hochschulbildung, in Frage.

Die Wirkung dieser europäischen Prozesse wird bedingt - und bisweilen stark eingeschränkt - durch die hier an Beispielen illustrierten nationalen Besonderheiten, Strukturen und Traditionen. Es gab und gibt unterschiedliche Grade der Passung zwischen den relevanten nationalen und europäischen Idealen und Standards. Während Frankreich in vielen Bereichen bereits den Standards entspricht, scheint es in Österreich gleichzeitig förderliche und hemmende Faktoren für eine verbesserte Durchlässigkeit zu geben. In Deutschland ist mit dem Bologna-Prozess ein erster Schritt zu mehr Durchlässigkeit im Hochschulbereich gemacht. Die Ausgestaltung des Qualifikationsrahmens bietet eine große Chance auf eine Neukonfiguration des Verhältnisses zwischen Berufs- und Hochschulbildung. Ob sie im Sinne einer erhöhten Durchlässigkeit genutzt werden kann, hängt vom Ausgang der aktuellen Aushandlungsprozesse über die Einordnung allgemeiner, beruflicher und akademischer Qualifikationen ab.

Der Bologna- und der Kopenhagen-Prozess verstärken das gegenseitige Lernen zwischen europäischen Ländern, aber es kann keinesfalls von einer einfachen Konvergenz gesprochen werden. Die eingeschlagenen Entwicklungspfade der (Aus) Bildungssysteme sind in diesen drei Ländern (noch) nicht verlassen worden. Sowohl Österreich als auch Frankreich zeigen Möglichkeiten auf, wie die Durchlässigkeit zwischen der beruflichen und der Hochschulbildung erhöht werden kann.


Nadine Bernhard, Diplom Sozialwissenschaftlerin, ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. In ihrer Promotion untersucht sie den Einfluss von Europäisierungsprozessen auf die Veränderungsdynamiken von Berufsbildungs- und Hochschulsystemen in Deutschland und Frankreich.
bernhard@wzb.eu

Justin J.W. Powell, Dr. phil., Soziologe in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt, forscht vor allem zu institutionellem Wandel von (Aus) Bildungssystemen in Europa und den USA.
powell@wzb.eu

Lukas Graf, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt, vergleicht in seiner Dissertation die Auswirkung von Europäisierungsprozessen auf das Verhältnis zwischen beruflicher und Hochschulbildung in Österreich, der Schweiz und Deutschland.
graf@wzb.eu


Literatur

Bernhard, Nadine: The Question of Permeability of the French Educational System. Präsentation auf dem INVEST-Workshop "Institutional Change at the Nexus of Vocational and Higher Education" am 1.7.2010. Berlin: WZB.

Graf, Lukas: Exploring the Interplay between Educational Schism and Hybridity in Austria. Präsentation auf dem INVEST-Workshop "Institutional Change at the Nexus of Vocational and Higher Education" am 1.7.2010. Berlin: WZB.

Powell, Justin J.W./Solga, Heike: "Analyzing the Nexus of Higher Education and Vocational Training in Europe: A ComparativeInstitutional Framework". In: Studies in Higher Education, Vol. 35, No. 6, 2010, S. 705-721.

Powell, Justin J.W./Solga, Heike: "Why are Higher Education Participation Rates in Germany so Low? Institutional Barriers to Higher Education Expansion". In: Journal of Education and Work, Vol. 23, No. 5, 2010 (im Erscheinen).


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 130, Dezember 2010, Seite 26-29
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2011