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SEEGRENZE/030: Boats4people zeigt Flagge - Seefront Europa (20. Teil) (B4p)


Kampagne Boats4people im Mittelmeer (1. bis 19. Juli 2012)

Boats4people - Berichte der internationalen Reisegruppe an Land und auf der Fähre

Stationen in Palermo, Tunis, Choucha und Monastir (05.-14. Juli 2012)

Das Kampagnenschiff mit kleinem Schlauchboot am Pier - Foto: © Boats4people

Das Schiff der Boats4people-Kampagne ist im Hafen angekommen
Foto: © Boats4people

Kurzbericht zur Station Palermo (5. und 6. Juli 2012)

Am Morgen des 5. Juli ist das B4P-Boot Oloferne im Hafen von Palermo eingelaufen und wurde von einer kleinen Gruppe AktivistInnen empfangen. Die Oloferne wurde mit Boats4People-Transparenten ausgestattet und am nächsten Tag für eine Pressekonferenz genutzt, zu der mehrere lokale Fernsehsender und Zeitungen gekommen sind und Aufnahmen und Interviews gemacht haben.

Am späten Nachmittag begann die angekündigte zentrale B4P-Veranstaltung im schönen großen Innenhof eines Kirchengebäudes, das von vielen schwarzafrikanischen MigrantInnen als Treffpunkt genutzt wird. Über 100 BesucherInnen verfolgten die verschiedenen Berichte und Beiträge:

  • über lokalen Projekte zur Integration (Anti-Diskriminierung) und medizinischen Versorgung von MigrantInnen;
  • zu den Zielen des B4P-Projektes;
  • Erfahrungsberichte von zwei Migranten aus Ghana und Nigeria, die als Boatpeople aus Libyen über Lampedusa nach Italien gekommen waren;
  • von einem Rechtsanwalt zu Rückschiebungen und Internierung;
  • von einem jungen tunesischen Blogger zu seinem Projekt zur Unterstützung der Angehörigen von verschwundenen Boatpeople;
  • von einer tunesischen Mutter zu ihrem vermissten Sohn;
  • von einem Aktivisten aus Amsterdam zur Kampagne gegen Frontex.
Aktivisten im Innenhof, Kampagnentransparente an den Wänden - Foto: © Boats4people

Die Boats4people-Aktivisten informieren über das Sterben im Mittelmeer
Foto: © Boats4people

Im Innenhof waren viele Transparente mit der Forderung nach Bewegungsfreiheit aufgespannt und mehrere Ausstellungen zu Frontex, zu den Vermissten sowie zu Fluchtgeschichten aufgebaut. Der transnational zusammengesetzte Informationsabend endete mit einem Konzert und dem Aufruf, sich am nächsten Abend am Meer an der Gedenkveranstaltung für die Opfer des EU-Grenzregimes zu beteiligen.

Am nächsten Tag (6. Juli) hat eine kleine Delegation das Abschiebegefängnis in Trapani besucht. Zeitgleich gab es einige Workshops in Palermo, u.a. zum Thema der Vermissten. Danach wurden B4P-Flyer in der Innenstadt verteilt, in denen ebenfalls zur Gedenkveranstaltung eingeladen wurde.

Nachts am Wasser zünden Aktivisten Kerzen an - Foto: © Boats4people

An der Uferpromenade von Palermo werden Kerzen angezündet zum Gedenken an die 18.000 Toten
Foto: © Boats4people

Diese fand direkt am Meer an einer Promenade statt, es wurden wieder Transparente aufgehängt sowie viele Kerzen angezündet. Kerzenlichter gab es auch in Sichtweite auf See auf zwei Booten. Große Aufmerksamkeit fand die ca. 20 Meter lange Banderole, die auf dem Gehweg ausgerollt wurde und auf der die Daten, die Namen - soweit bekannt - sowie die Todesumstände der mittlerweile über 18.000 Opfer des EU-Grenzregimes aufgelistet sind. Beispielhaft verlasen TeilnehmerInnen der Gedenkveranstaltung die Namen einiger Opfer, kombiniert mit einer Lesung mit Gesang sowie mehreren spontanen ausdrucksstarken Beiträgen beteiligter MigrantInnen.

Eine ältere Frau sitzt an einem Tisch mit Fotos und Namenslisten - Foto: © Boats4people

Wo sind all die Menschen geblieben? Eine Angehörige mit Fotos und Namenslisten der Vermißten
Foto: © Boats4people

Kurzbericht 2: Auf den Fähren (7. Juli 2012) - Orte versammelter Migrationsgeschichte(n)

Während das B4P-Boot Oloferne noch in Palermo ankerte, um dann mit der 13-köpfigen Besatzung Richtung Monastir in See zu stechen, hatte die mittlerweile auf über 40 Leute angewachsene transnationale B4P-AktivistInnengruppe zur Überfahrt von Palermo nach Tunis auf den kommerziellen Fähren eingecheckt. Aus Platzgründen musste ein Teil auf eine zweite der hintereinander startenden Fähren ausweichen, aber auf beiden waren sicherlich zu über 90 % tunesische MigrantInnen an Bord, die vor allem von Italien aber auch aus anderen europäischen Ländern zum Urlaub oder Besuch ihrer Familien nach Tunesien fahren.

Vor diesem Hintergrund haben beide B4p-Gruppen auf der 10-stündigen Überfahrt sehr viele interessante Begegnungen machen können, denn die auf den Booten versammelten TunesierInnen haben alle reichlich Migrationsgeschichten im Gepäck.

Eine Touristenfähre mit Kampagnentransparenten mit den Aufschriften 'Pour la liberté de circulation' und 'no one is illegal' ('Für Bewegungsfreiheit' und 'niemand ist illegal' - Foto: © Boats4people

Während der Überfahrt auf einer Touristenfähre - Die ZEUS PALACE mit Transparenten von Boats4people
Foto: © Boats4people

Schon vor dem Start der ersten Fähre aus Palermo wurde an deren Reling kurze Zeit ein großes Transparent aufgehängt, auf dem die Forderung "pour la liberte de circulation" und "no one is illegal" gemalt war. Und auf diesem Boot, auf dem sich mit 35 Leuten die größere AktivistInnengruppe mit sowohl italienischen als auch arabischen Sprachkenntnissen befand, gelang es späterhin, mit der Fährencrew das Verteilen von B4P-Infomaterial sowie das Abhalten einer Versammlung - sogar unter Einsatz der mitgebrachten Lautsprecheranlage - auszuhandeln. Zunächst wurden zahlreiche kleinere, zumeist sehr spannende Tischgespräche geführt und dabei zu einer Versammlung neben der Bar eingeladen. Der Zuspruch zu dieser außergewöhnlichen Asamblea war prima: in wechselnder Besetzung waren - mit uns - stets rund 60 bis 100 Leute anwesend. Die Vorstellung von B4P erfolgte auf Italienisch und Arabisch, die weiteren Beiträge auf Französisch mit anschließender arabischer Übersetzung. Viel Beifall erntete ein Beitrag unseres kongolesischen Mitstreiters über das EU-Migrationsregime "mit Privilegien für einige, während anderen immer höhere Hürden in den Weg gelegt werden". Der Fokus dieser Rede lag auf der Migration aus afrikanischen Ländern und auf den Fluchtgründen. Er endete mit der Forderung nach Unterstützung von Bewegungsfreiheit und der Möglichkeit, dort in den Zielländern auch zu arbeiten.

Ein tunesischer Dokumentarfilmer, der mit einem Team in Italien über die Situation der Harragas recherchiert hatte und zufällig mit uns auf diesem Boot auf der Rückreise war, kommentierte diese Rede: "Das System muss sterben!"

Einer unserer tunesischen B4P-Aktivisten hielt eine flammende, mit viel Beifall aufgenommene Rede zur historischen Chance der tunesischen Revolution und was diese für junge Leute bedeutet.

"30.000 TunesierInnen haben das Land in Richtung Europa verlassen, um bessere Lebensbedingungen zu finden. Nicht nur TouristInnen sollen Tunesien anschauen dürfen: Vor allem die jungen Menschen als TrägerInnen der Revolution müssen umgekehrt ebenso nach Europa reisen dürfen! Viele Familien haben Kinder oder Angehörige verloren...".

Auch hier: Zustimmendes Kopfnicken und Beifall. Schluß: "Wir werden gegen Grenzen kämpfen! Choucha (subsaharische Flüchtlinge) und Lampedusa (TunesierInnen) sind die gleichen Kämpfe." Es gab allerlei weitere Beiträge, die alle qualitativ und ernstgemeint waren. Eine wunderbare Veranstaltung!!

Gleichzeitig war die kleinere B4P-Gruppe auf der zweiten Fähre mit einer Abschiebung konfrontiert. In einem der Räume an Deck saß bereits eine Stunde vor Abfahrt ein Tunesier mit gefesselten Händen und umgeben von 5 italienischen Polizisten in Zivil. Wie einige der im Raum befindlichen TunesierInnen ließen auch wir den Betroffenen spüren, dass wir auf seiner Seite stehen. Nach einer kurzen direkten Ansprache war aber schnell klar, dass er keinen Konflikt eingehen wollte und späterhin erfuhren wir von einem Mitreisenden, der mit dem Abzuschiebenden in arabisch gesprochen hatte, dass dieser 15 Jahre als Papierloser in Italien gelebt hatte und es sicher nach der Abschiebung erneut versuchen wird. Und die tunesischen Mitreisenden zeigten sich solidarisch, indem sie für ihn bei seiner Familie anriefen und ihm kurz vorm Anlegen in Tunis ein Paar neue Schuhe und Kleider schenkten.

Wir lernten währenddessen einen Mann aus Monastir kennen, der vor 9 Jahren als Harraga auf dem Boot nach Italien gelangte, dort immer hart gearbeitet hatte, aber erst bei Zahlung von 5000,- Euro an einen Arbeitgeber den unbefristeten Arbeitsvertrag erhielt, der ihm vor einigen Monaten endlich die Legalisierung ermöglichte. Es war nun seine erste Reise zurück zur Familie, seine Mutter wollte es nicht glauben und konnte seit einer Woche vor Aufregung nicht schlafen ... und wir haben ihn eingeladen und er war interessiert, in Monastir an unseren Aktivitäten teilzunehmen.

Als Grassroot-Aktion und -Kommunikation im besten Sinne kann das bezeichnet werden, was am 7. Juli auf den Fähren von Palermo nach Tunis stattfand, einem Ort, der symbolisch wie praktisch die beiden Welten verbindet, zwischen denen die Migrierten sich bewegen. Ein Ort aller möglichen und unmöglichen Erfahrungen und Geschichten und damit eines sozialen Wissens, das viel öfter direkten Eingang in die politischen Kämpfe gegen das Grenzregime finden sollte. Insofern erscheint uns diese Etappe auch für B4P von besonderer Bedeutung.


Bericht von der Station in Tunis (8. bis 10. Juli 2012)
Sonntag, 8. Juli: Rückschiebung verhindert und Koordinationstreffen

Der Tag begann morgens mit einer schlechten Nachricht: Unserem jungen senegalesischen Freund, der sich schon an der Westafrika-Karawane 2011 beteiligt hatte, wurde bei Ankunft aus Dakar von der Grenzpolizei am Flughafen in Tunis die Einreise verweigert. Er fiel unter den Generalverdacht gegenüber vielen subsaharischen Reisenden, sich angeblich nur zur Durch- bzw. Weiterreise nach Europa in Tunesien aufhalten zu wollen. Weder der Nachweis einer Hotelbuchung noch der wiederholte Hinweis auf seine Beteiligung am Treffen des Weltsozialforum konnte die Behörden zunächst umstimmen: unser Mitstreiter sollte am gleichen Abend wieder zurückgeschoben werden. Er saß sogar schon im Flugzeug nach Dakar, als durch die Präsenz und den Protest von einer Gruppe von B4P-AktivstInnen im Flughafen sowie schließlich mittels einer von einem Gewerkschafter offiziell überbrachten Einladung nach Monastir der senegalesische Freund in letzter Minute - und ohne Gepäck - doch noch einreisen konnte und seitdem Teil der transnationalen Reisegruppe ist.

Diese Gruppe war in Tunis nun auf ca. 50 Personen angewachsen und der Sonntag diente vor allem der Koordination und Vorbereitung der nächsten beiden Tage. Nach internen und informellen Treffen gab es abends eine gemeinsame Versammlung mit unseren tunesischen FreundInnen vom Psycho-Club. Dies ist eine Gruppe von vor allem Psychologie-StudentInnen, die sich am Boats4People-Projekt beteiligen und die u.a. selbst mehrfach in die Camps nach Choucha gereist waren, um die dortigen Flüchtlinge und MigrantInnen zu unterstützen. Psycho-Club hatte auch Räume und Workshops für eine kleine Konferenz am nächsten Tag vorbereitet.

Zudem beteiligten sich am Sonntag einige Frauen der B4P-Gruppe an einem Treffen einer italienischen Frauengruppe und tunesischen Müttern bzw. Angehörigen von Verschwundenen, die u.a. zusammen eine Protestwoche in Tunis vorbereiteten.

Schwarz gekleidete Frauen mit einem Transparent mit der Aufschrift 'Boats4people - Freedom of movement' - Foto: © Boats4people

Am 9. Juli 2012 protestierten Angehörige von im Mittelmeer verschwundenen Menschen in Tunis
Foto: © Boats4people

Montag, 9. Juli: Protest der Mütter und Konferenz

Um 10 Uhr war vor dem Ministerium für Soziales eine Kundgebung der Mütter von Verschwundenen angekündigt, und ein Teil der B4P-Gruppe beteiligte und unterstützte diesen Protest mit Transparenten und dem Verteilen unserer dazu passenden B4P-Flyer und Postkarten.

Leider hatten wir und auch der Psycho-Club zu kurzfristig von dieser Aktion erfahren, und für 10 Uhr (bis 14 Uhr) waren gleichzeitig die Räume für die Konferenz gebucht und diese auch öffentlich angekündigt. Insofern begann diese zur gleichen Zeit mit Workshops und Beiträgen über die EU-Migrationspolitik, deren Auswirkungen auf Länder wie Tunesien sowie zur Situation in den Lagern von Choucha. In einem zweiten Teil dieser Konferenz kamen dann bis zu 80 Leute - darunter rund 20 tunesische Interessierte - zu einer Versammlung zusammen, in der über Kämpfe und Widerstand gegen das Grenzregime berichtet und diskutiert wurde. Neben der Vorstellung von lokalen Protesten und von einigen transnationalen Projekten und Kampagnen ging es auch um das Verständnis von Kämpfen. Ist allein der Umstand, ein Harraga zu sein und damit ganz praktisch das Grenzregime zu unterwandern, nicht auch Kampf? Auch wenn sich diese soziale Bewegung nicht unmittelbar politisch artikuliert. Oder ist es weniger ein Kampf sondern eher Verzweiflung, sich "ins Meer zu stürzen" und dabei womöglich zu sterben? Schließlich wurde die Frage einer gemeinsamen Kampagne zur Abschaffung der Visumspflicht im mediterranen Raum aufgeworfen sowie aus unterschiedlichen Positionen die von der tunesischen Regierung aktuell beabsichtigte Grenz"öffnung" (Erleichterung der Reisefreiheit und kommunales Wahlrecht) innerhalb des Maghreb kommentiert. Beides konnte aus Zeitmangel zum Ende der Konferenz leider nicht weitergehend diskutiert werden.

Dienstag, 10. Juli: vertiefende Debatte und Premiere des Theaterstückes

Am frühen Morgen reiste eine Delegation aus unserer B4P-Reisegruppe - mit 10 Aktiven aus 9 verschiedenen Ländern! - nach Choucha. Sie wollen dort die Anreise und Teilnahme von Flüchtlingen und MigrantInnen aus den Lagern beim Treffen des Weltsozialforums in Monastir koordinieren.

Die beiden Fragen am Ende der Konferenz vom Vortag, also zu einer möglichen Kampagne gegen das Visumsregime sowie die Positionen zur Grenzöffnung im Maghreb, wurden am Vormittag in einem kleineren Treffen nochmals aufgegriffen und vertieft. Das war damit verbunden, dass in erster Linie die FreundInnen des Psycho-Club Gelegenheit bekommen sollten, ihre Einschätzungen und Positionen etwas ausführlicher darzustellen als es am Vortag möglich war.

Bezüglich der Grenzöffnung im Maghreb und der ablehnenden Stimmung wurde erläutert, dass viele Menschen in Tunesien der Regierung grundsätzlich misstrauen würden, dass manche die einseitigen Öffnungen in Tunesien (ohne gleichzeitige Erleichterungen in den andere Maghrebländern) falsch finden, dass es protektionistische Gegenargumentationen gebe (zu wenig Arbeitsplätze für TunesierInnen und dann noch mehr Konkurrenz) bis hin zur Befürchtung, dass der fundamental-islamische Einfluss (z.B. aus Algerien) damit zunehmen könnte. Es würden Informationen und auch eine ausgewogene öffentliche Diskussion fehlen, um diesen eigentlich sinnvollen Schritt zu einer Maghreb-Union zu vermitteln ...

Zur Frage einer Kampagne gegen die Visumspflicht wurde angemerkt, dass Migration und die Forderung nach Bewegungsfreiheit in der tunesischen Gesellschaft ein breites und wichtiges Thema sei. StudentInnen seien zudem mit für die meisten unbezahlbaren Gebühren auf Universitäten in Europa konfrontiert, sogar Geschäftsleute würden den rassistischen Ausschluss durch die Visumspolitik immer wieder bei Kontrollen und willkürlichen Rückweisungen erleben. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass auch ohne Visapflicht viele TunesierInnen nicht reisen könnten, weil sie nur über ein ganz prekäres Einkommen verfügen und schlicht das Geld nicht hätten. Es gab Einigkeit, dass die Öffnung der Grenzen nach Europa natürlich nicht alle Probleme lösen würde und dass eine Kampagne gegen das Visumsregime die Prekarisierung und den sozialen Ausschluss großer Teile der Bevölkerung mit thematisieren müsse. Dass wir solch eine Kampagne als Teil einer grundlegenden Transformation der Gesellschaften verstehen...

Zudem müssten einige Fallstricke beachtet werden: Die EU bietet durchaus Visa-Erleichterungen an, aber damit verbunden sind verschiedene Bedingungen. Geschäftsleute und StudentInnen sollen im Rahmen sogenannter Mobilitätspartnerschaften einfacher Zugang bekommen, in Europa benötigte Arbeitskräfte können temporär einreisen. Und solche Erleichterungen werden zudem noch an die Bedingung geknüpft, dass die tunesische Regierung die Migrationskontrolle gegenüber dem subsaharischen Afrika verschärft. Insofern besteht die Gefahr, dass Visa-Erleichterungen mit neuen Spaltungen erkauft werden und wir müssen in einer möglichen Kampagne deutlich machen, dass wir eine bedingungslose Abschaffung des Visumregimes fordern und diese für uns im Rahmen des Kampfes um globale Bewegungsfreiheit steht.

Praktisch stellt sich die Frage, wie eine Sensibilisierungskampagne aussehen könnte, und dass dafür neue kreative Aktionsformen zu entwickeln wären. Denn Demonstrationen und Streiks gebe es jeden Tag, oft mit brutalen Konfrontationen mit der Polizei verbunden, was vielen Menschen Angst mache. Wie ließe sich in Stadtteilen eine solche Kampagne bekanntmachen und mobilisieren? Wäre eine Infotour oder Karawane durch verschieden Städte eine Möglichkeit? Mit diesen Fragen ging diese spannende und vertiefende Diskussionsrunde zunächst zu Ende, und Vorschlag war, in Monastir in den kommenden Tagen zu versuchen, daran anzuknüpfen.

Am Abend des Dienstags hatte schließlich in einer Bar auf der Dachetage in der Nähe der Kasbah (und damit mit tollem Blick auf die Altstadt von Tunis) das von einigen B4P-AktivistInnen aus Berlin vorbereitete Theaterstück Premiere. Mit einfachen Mitteln - und damit quasi überall aufführbar - wird die Geschichte von zwei Harragas vor dem Hintergrund der tunesischen Revolution nachgespielt. Eine tolle Uraufführung mit einer beeindruckenden Darstellung unseres tunesischen Mitstreiters, die hoffentlich in Monastir und darüberhinaus zu Folgevorstellungen führen wird...

11. Juli: Choucha-Delegation und Einladung von Flüchtlingen zum Forum nach Monastir

Am 11. Juli 2012 fuhr eine Delegation von elf AktivistInnen aus neun afrikanischen und europäischen Ländern zum Flüchtlingslager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze. Wir wollten acht VertreterInnen verschiedener Communities nach Monastir einladen, wo ein Forum stattfindet zur Vorbereitung des Welt-Sozial-Forums, welches 2013 in Tunesien stattfinden wird.

Unsere Delegation wurde vom Militär daran gehindert das Lager zu betreten und wir erfuhren, dass der UNHCR das tunesische Verteidigungsministerium angerufen und dazu aufgefordert hatte. In den Medien wurde verkündet, dass das Lager nur mit Genehmigung dieses Ministeriums besucht werden dürfe. Wir erklärten den Soldaten, dass wir mit den Flüchtlingen reden wollten, die vor einigen Wochen durch das Forum offiziell eingeladen wurden, nach Monastir zu kommen, und dass wir hier seien, um ihren Transport zu organisieren. Wir wurden aufgefordert, die Namen dieser Flüchtlinge zu nennen, aber wir weigerten uns und riefen sie selbst an. Wir konnten die Flüchtlinge unter den Bäumen vor dem Camp treffen, aber einige von denen, die eingeladen wurden, konnten nicht nach Monastir gehen, aufgrund von Terminen mit dem UNHCR oder weil sie es nicht wagten und Angst vor Bestrafung hatten. Andere waren telefonisch nicht erreichbar. Nach einigen Diskussionen beschlossen acht Leute mitzufahren und die Flüchtlinge von Choucha in Monastir zu vertreten: zwei Frauen und ein Mann aus Äthiopien, Männer aus dem Tschad, Sudan, Darfur, Somalia und Bangladesch, fast alle von ihnen abgelehnte AsylbewerberInnen.

Zusammen mit einigen von ihnen schrieben wir eine Pressemitteilung über die tatsächliche Situation in Choucha, die Kämpfe und die Forderungen der Flüchtlinge (siehe Anhang). Auf dem Weg und während des Forums erzählten uns die Flüchtlinge ihre Geschichten und beschrieben die unerträglichen Zustände im Lager. Sie baten uns dringend, sie zu unterstützen, um eine humane Lösung für alle zu finden, da das Lager nicht mehr zu ertragen sei.

Wir verteilten Flyer "Freiheit statt Frontex". Eine Gruppe aus dem Choucha-Camp, die von italienischen Grenzschützern nach Libyen zurückgeschoben wurde, unterzeichnete mit Hilfe einer italienischen Rechtsanwältin Vollmachten für eine Klage gegen die italienische Regierung.

Gemeinsam mit den Flüchtlingen, die heute nach Choucha zurückkehren mussten, rufen wir Euch/Sie alle auf, darüber nachzudenken, wie man Druck auf die Regierungen der europäischen Staaten ausüben kann, damit sie ihre Grenzen öffnen und, in Zusammenarbeit mit dem UNHCR und der tunesischen Regierung, Schutz und Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen gewährleisten und humane Lebensbedingungen für alle sicherstellen. Lager wie Choucha müssen geschlossen werden und alle Menschen müssen volle Bewegungsfreiheit haben!

Kurzbericht von der Station Monastir (12, 13. und 14. Juli 2012)
Donnerstag, 12. Juli: Ankunft und WSF-Eröffnung

Die B4P-Reisegruppe ist am 11.7. von Tunis nach Monastir weitergezogen, um dort an dem Vorbereitungstreffen des Weltsozialforums (WSF) teilzunehmen, das 2013 in Tunesien stattfinden soll. Nach einem internen Koordinationstreffen mit Austausch und Berichten zu den vergangenen Tagen sowie über die aktualisierten Planungen für Monastir startete am frühen Abend die Eröffnungsveranstaltung des WSF-Treffens. Ca. 500 TeilnehmerInnen und Interessierte, vor allem aus dem Maghreb, aus afrikanischen Ländern und aus Europa, kamen im Innenhof der alten Burg zusammen. Es gab mehere Redebeiträge von unterschiedlichen VertreterInnen aus dem Sozialforumsprozess sowie aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften Tunesiens, danach folgte ein Konzert. Für B4P hatten wir Transparente aufgehängt und einen Infostand aufgebaut. Unser Material, die verschiedensprachigen Aufrufe sowie die Postkarten und Buttons, fanden viel Interesse. Zudem war auf den Flyern sowie auf den an mehreren Stellen in der Stadt Monastir und auch in der Burg aufgehängten riesigen Werbebannern für das WSF-Treffen das Boats4people-Logo sehr prominent abgedruckt. Und auch im Gesamtprogramm des nächsten Tages war Migration und B4P eines der wesentlichen inhaltlichen Themen.

Der Infotisch wird aufgebaut, an der Wand Transparente mit Aufschriften 'Freedom not Frontex' und 'Boats4people' - Foto: © Boats4people

Grenzüberschreitendes Engagement - Boats4people beim Vorbereitungstreffen des Weltsozialforums in Monastir
Foto: © Boats4people


Freitag, 13.7.: Versammlung, Arbeitsgruppen und zentrale Hafenaktion

Das detaillierte Migrations-Programm mit Plenum und Arbeitsgruppen findet sich auf der Webseite, und an der Auftaktversammlung nahmen über 200 Leute teil, der Hörsaal war bis bis zum letzten Platz gefüllt. Nach der Vorstellung des B4P-Projektes gab es u.a. einen Bericht zu einer aktuellen Delegationsreise nach Libyen, wo Flüchtlinge und MigrantInnen erneut in großen Lagern unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt sind. Offensichtlich übernimmt die neue Regierung in Zusammenarbeit mit den bewaffneten Milizen die Wachhundrolle, die das Gadafi-Regime im Interesse und mit finanzieller Unterstützung der EU gegenüber der Migration eingenommen hatte.

Zwei Mütter von toten und verschwundenen Harragas kamen anschließend zu Wort und forderten nicht nur Wiedergutmachung und Aufklärung sondern auch die Abschaffung des tödlichen Visumsregimes. Schließlich berichtete ein Vertreter einer Flüchtlingsdelegation aus Choucha von der nach wie vor unerträglichen Situation im Lager an der Grenze zu Libyen.

Drei Arbeitsgruppen folgten am Nachmittag:

Zum Workshop über die Toten und Verschwundenen an den Grenzen kamen ca. 60 TeilnehmerInnen zusammen, es wurden sieben Projekte aus verschiedenen Ländern (u.a. in Tunesien, Algerien, Mali, Griechenland, USA-Mexiko) vorgestellt. Ein Austausch der Projekte, der jeweiligen Erfahrungen und auch Probleme, wurde begonnen und war sehr inspirierend, es wurde eine erste Grundlage für gemeinsame Forderungen und Aktivitäten geschaffen. Zum 18.12.2012 - dem internationalen Tag der Rechte der MigrantInnen - soll das Thema der Verschwundenen und Toten an den Grenzen auf globaler Ebenen zum Schwerpunkt gemacht werden.

Im zweiten Workshop über Migration im Maghreb stand das Flüchtlingslager Choucha im Mittelpunkt und es wurde eine gemeinsame Presseerklärung mit aktuellen Forderungen verabschiedet.

In der dritten Arbeitsgruppe wurde über die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit diskutiert und über mögliche weitere Mobilisierungen und Kampagnen in Tunesien beraten. Unter anderem gibt es den Vorschlag für eine Karawane für das Recht auf Migration durch mehrere tunesische Städte. Auf einem Abschlussplenum wurden diese Ergebnisse der Arbeitsgruppen nochmal zusammengetragen.

Dass B4P im Rahmen des Treffens des WSF einen hohen Stellenwert hatte, kam auch dadurch zum Ausdruck, dass zur zentralen B4P-Aktion im kleinen Hafen von Ksibet el Mediouni, einem Nachbarort von Monastir, mehrere Busse für alle TeilnehmerInnen gechartert wurden und somit mehrere hundert Menschen teilnehmen konnten. Allerdings nahm die Aktion selbst teilweise einen unglücklichen Verlauf: das B4P-Boot Oloferne lief schon weit abseits des Hafens auf Grund, die Ankunft der B4P-Delegation erfolgte deshalb allein in den begleitenden Fischerbooten. Und wegen starkem Wind und auch mangelnder Koordination konnte nur ein sehr kleiner Teil der vorbereiteten Feuerballons eingesetzt werden. Geplant war, dass mehrere hundert solcher Leuchtzeichen zum Gedenken an die Opfer des Grenzregimes an der Küste losfliegen sollten.

Dafür gab es bei Ankunft der Fischerboote eine beeindruckende künstlerische Performance, indem mehrere nackte Menschen mit (blut) roter Farbe bemalt am Pier in Hockstellung saßen. Eine Pressekonferenz fand statt und die Banderole mit der Liste der Toten des EU-Grenzregimes wurde erneut ausgerollt und einige der Namen verlesen.

Drei mit roter Farbe beschmierte Künstler hocken am Pier - Foto: © Boats4people

Das Sterben der Boatspeople im Mittelmeer im künstlerischen Protest
Foto: © Boats4people

Samstag, 14. Juli: perspektivische Arbeitstreffen mit Watch the Med und Psycho-Club

Während das B4P-Boot Oloferne sich für die letzte Etappe nach Lampedusa vorbereitete, hat unsere transnationale Reisegruppe - an dem für viele TeilnehmerInnen letzten Tag vor der Heimreise - noch zwei perspektivische Arbeitstreffen veranstaltet.

Zum einen gab es ein Treffen mit Lorenzo Pezzani und Charles Heller, den Gründern von Watch-the-Med. Hintergrund und Idee sowie die ersten Schritte zur Realisierung dieses interaktiven Kartenprojektes wurden vorgestellt (dazu folgt demnächst ein eigener Text), es wurde über die unterschiedlichen Elemente und Potentiale diskutiert. Deutlich wurde, dass mit diesem Projekt die bislang eher symbolisch-mediale Intervention von B4P überschritten werden kann. Und dass es nicht nur darum geht, die Umstände für "Left-to-die"-Boote zu rekonstruieren und entsprechende Verantwortlichkeiten bei Nato, Frontex oder Grenzschutz politisch zu denunzieren und juristisch anzuklagen. Vielmehr wäre das besondere perspektivische Ziel von Watch-the-Med, ein SMS-basiertes Notrufsystem einzurichten, über das im Falle von Bootsunglücken mit einem Netzwerk zivilgesellschaftlicher Akteure so schnell und breit der politisch-öffentliche Druck aufgebaut wird, dass die Küstenwachen die gefährdeten Boatpeople retten müssen. Natürlich gab es viele offene Fragen, ob und wie das praktisch funktionieren kann, und in den kommenden Wochen sollen unterschiedliche Akteure angesprochen und gewonnen werden, zur Umsetzung des Projektes beizutragen.

Zum zweiten gab es ein (Abschluss-)Treffen mit den Mitgliedern des Psycho-Club bezüglich weiterer Aktivitäten in Tunesien. Ausgehend von der Arbeitsgruppe des Vortrages wurde der Vorschlag für eine Karawane für Bewegungsfreiheit konkretisiert. Denkbar wäre zunächst (ev. im Dezember 2012) eine kleinere Infotour mit einem Bus und einer begrenzten Anzahl von AktivistInnen, um mit diesen praktischen Erfahrungen dann eine zweite, größere Karawane für 2013 zu starten. Das Recht auf Migration soll inhaltlich im Mittelpunkt stehen, MigrantInnen - Angehörige von verschwundenen Harragas, Abgeschobene, TransitmigrantInnen - von Beginn an beteiligt sein. Neue Formen kreativer Sensibilisierung müssen entwickelt werden, um insbesondere die ärmere Bevölkerung anzusprechen. Und in den kommenden Wochen soll versucht werden, in Tunesien wie auf europäischer Seite erste Kerngruppen zu bilden, die den Vorschlag weiter konkretisieren. Eine entsprechende Kommunikationsliste wurde erstellt. Und ob dieser Karawanenvorschlag als Folgeprojekt und im Rahmen von B4P stehen soll oder zu einer eigenständigen Initiative wird, soll in den Auswertungs- und Perspektiventreffen von B4P diskutiert werden.

Kampagnenschiff am Pier, auf dem Boden Transparente mit der Aufschrift 'Freedom not Frontex' und 'Boats4people' - Foto: © Boats4people

Das Kampagnenschiff liegt vor Anker, doch die Kampagne fährt weiter
Foto: © Boats4people


Kontakt: contact@boats4people.org

Aufruf und Zeitplan der Kampagne (1. bis 19. Juli 2012):
http://www.boats4people.org/index.php/de/empfang/392-zeitplan

Mehr Infos unter:
http://www.boats4people.org
http://ffm-online.org/blog-2
http://www.afrique-europe-interact.net

Twitter und Facebook: Boats 4 People
http://www.facebook.com/boats4people
https://twitter.com/#!/Boats4People
http://twitter.com/#!/ae_interact

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Quelle:
Bericht von Boats4people vom 19. Juli 2012
http://ffm-online.org/2012/07/19/b4p-alle-berichte-palermo-tunis-choucha-monastir-05-14-07-2012/#more-2225
Forschungsgesellschaft Flucht & Migration
Helmut Dietrich
Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
Fax: +49-30-693 83 18
E-Mail: info@ffm-online.org
Internet: http://ffm-online.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2012