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MARKT/004: Zucker - süßer Stoff gegen Armut? (Kritische Ökologie)


KRITISCHE Ökologie - Zeitschrift für Umwelt und Entwicklung Nr. 68/2007 - Spezialausgabe

Zucker - süßer Stoff gegen Armut?

Von Regina Begander


Der europäische Zuckermarkt ist mit ausgewählten Ländern des Südens verknüpft. Einige der ehemaligen Kolonien (AKP-Staaten) und einige am wenigsten entwickelte Länder (Least Developed Countries, LDCs) haben über verschiedene Abkommen für festgelegte Zuckerquoten einen zollfreien Zugang zum europäischen Markt und kommen in den Genuss der hohen, politisch festgelegten Zuckerpreise in der Europäischen Union, die in der Zuckermarktordnung geregelt und dreimal so hoch wie der Weltmarktpreis sind. Ab 2008 erhöhen sich möglicherweise die Zuckermengen aus den ehemaligen Kolonien, weil die Europäische Union Freihandelsabkommen mit verschiedenen Regionen der AKP-Staatengruppe (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen) abschließen wird. Würde auch Zucker in den Freihandel eingeschlossen werden, was im Moment nicht absehbar ist, dann erhielten weitere AKP-Staaten Lieferchancen in die EU. Ab 2010 entfällt darüber hinaus die Quotierung für Zucker aus den LDCs über die Initiative "Alles außer Waffen". Danach könnten alle LDCs ohne Mengenbegrenzung Zucker in die EU liefern, wenn sie Abnehmer finden. Der Preis muss in jedem Jahr neu ausgehandelt werden, wird sich voraussichtlich aber um den in der EU geltenden Preis einpendeln. Die mögliche Steigerungsrate der Zuckerexporte ist auf 25 Prozent pro Jahr und Land begrenzt.

Um mit diesen Herausforderungen fertig zu werden und weil die Europäische Union zuviel Zucker unterhalb der Produktionskosten und damit subventioniert auf dem Weltmarkt absetzte, wofür sie wegen Dumping von der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) verurteilt wurde, hat sie im Sommer 2006 eine neue Zuckermarktordnung in Kraft gesetzt, die als zentrale Maßnahme eine drastische Preissenkung für Zucker innerhalb der EU vorsieht. Dies betrifft Rübenbauern und Zuckerindustrie in Europa genauso wie die bisher vertraglich gebundenen Lieferländer. Alle Akteure des geregelten Zuckermarktes der EU werden von Preissenkungen von insgesamt 36 bis 39,7 Prozent betroffen sein. Während die Rübenanbauer in einer Übergangsphase um die 60 Prozent ihrer Verluste von der EU ausgeglichen bekommen, baut die Zuckerindustrie mit Hilfe eines Umstrukturierungsfonds ihre Überkapazitäten ab und schließt Zuckerfabriken. 2009 sollen die Beschlüsse vollständig umgesetzt sein. Sinkt die Zuckerproduktion in der EU durch die Preissenkungen nicht um die geplanten 6,4 Millionen Tonnen, werden weitere Maßnahmen ergriffen.

Obwohl die Europäische Union sich selbst mit eigenem Zucker versorgen kann und sogar darüber hinaus Überschüsse produziert, die sie auf dem Weltmarkt absetzen muss, hat sie stets begrenzte Zuckermengen aus dem Süden zollfrei auf ihren Markt gelassen. Dieser Zucker sollte durch die hohen EU-Preise zur Entwicklung in den Lieferländern beitragen und sie in den Weltagrarhandel einbinden. Die Agrarpolitik sollte demnach auch entwicklungspolitische Beiträge leisten. Zucker spielt dabei wegen der Kolonialgeschichte eine besondere Rolle, denn die Kolonialmächte hatten schon im 19. Jahrhundert den Zuckersektor in den Kolonien gegründet und weitläufig Zuckerplantagen für die Versorgung der Mutterländer angelegt.

Aus der Geschichte heraus räumte die EU den AKP-Staaten im Zuckerprotokoll mit 1,3 Millionen Tonnen zollfreien Quotenzucker 6,5 Prozent der EU-eigenen Produktionsmenge ein. Die zusätzlichen 150.000 bis 300.000 Tonnen Sonderpräferenzzucker dienen rein der Kapazitätsauslastung europäischer Raffinerien, die aus dem Rohzucker Weißzucker herstellen. Die LDCs erreichen 2009 am Ende der Übergangszeit mit Quoten über die "Alles außer Waffen" Initiative eine Gesamtquote von ca. 200.000 Tonnen Zucker, was etwa 1 Prozent der europäischen Gesamtproduktion ausmacht und kaum ins Gewicht fällt. Darüber hinaus werden diese Zuckermengen mit dem Sonderpräferenzzucker der AKP-Staaten verrechnet, der in gleichem Umfang sinkt. Somit stellen die quotierten LDC-Exporte in die EU bis 2009 keinen zusätzlichen Zucker auf dem EU-Markt dar.

Das neue Preisniveau der Zuckermarktordnung wird nun dazu führen, dass die größere vertragliche Freizügigkeit bezüglich der Lieferländer und Liefermengen ab 2008 bzw. 2010 über das niedrige Preisniveau beschnitten und die erwarteten Zuckermengen gesenkt werden, denn der neue EU-Preis deckt die Produktionskosten auch in vielen Ländern des Südens nicht mehr. Die Zuckerindustrien sind dort oft veraltet oder erst im Aufbau begriffen und manchmal weit entfernt von internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Von den 19 ehemaligen Kolonien (AKP-Staaten), die bisher Zucker lieferten, könnten sich nach ersten Schätzungen künftig nur noch fünf Länder die Quote des Zuckerprotokolls teilen; diese profitieren zwar durch zusätzliche Mengen, sofern sie die Zuwächse überhaupt decken können, aber die übrigen Länder zählen zu den klaren Verlierern der Reform, die nicht nur nicht mehr liefern können, sondern die für ihre Verluste auch keine Ausgleichszahlungen erhalten. Ob mit den regionalen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen neue Lieferländer auftreten könnten, ob die Quotenlimitierung des Zuckerprotokolls aufgegeben wird oder ob Zucker aus dem Freihandel ausgenommen wird, hängt von der Gestaltung der Abkommen ab und wird die Zuckermenge in der EU beeinflussen.

Auch von den 20 zuckerproduzierenden LDCs werden vermutlich nur fünf Länder auf dem neuen Preisniveau in die EU liefern können, während bis zum Ende der Übergangszeit die Quoten auf immerhin neun Länder verteilt waren. Nach 2009 werden wohl keine weiteren LDCs auf dem EU-Zuckermarkt erscheinen und von der Initiative "Alles außer Waffen" profitieren können, obwohl dann die Mengenbegrenzungen und ihre Bindung an bestimmte LDCs entfallen.

Sowohl das Cotonou-Abkommen mit dem Zuckerprotokoll (AKP-Staaten) als auch die Initiative "Alles außer Waffen" (LDCs) haben das oberste Ziel, mit Handelserleichterungen zur Entwicklung in den entsprechenden Ländern des Südens beitragen zu wollen. Doch wie kann das gelingen? Im Falle der AKP-Staaten, die bereits seit Jahrzehnten die Handelsvorteile mit der EU nutzen, hat sich gezeigt, dass diese unkündbaren Lieferverpflichtungen gegenüber der EU zu einer Stagnation in der Wirtschaft beitrugen, dass keine Investitionen vorgenommen oder Alternativen gesucht, sondern vor allem hohe Renten abgeschöpft wurden. Die Verteilung der Quoten war zudem historisch, weniger entwicklungspolitisch begründet, wenn zum Beispiel Mauritius allein 38 Prozent der Gesamtquote bedient, während andere AKP-Zuckerproduzenten, die gleichzeitig LDCs sind, überhaupt keine Lieferquote hatten. Schon hier zeigt sich, dass gutgemeinte Absichten allein nicht reichen, sondern auch auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und angepasst werden müssen.

Was die LDCs betrifft, so genießen sie durch die Initiative "Alles außer Waffen" die weitgehendsten Handelserleichterungen. Für alle Waren außer Waffen sind ihre Exporte in die EU von Zöllen befreit; für Zucker gilt das erst ab 2010. Was wie ein großzügiges Angebot an die Ärmsten der Welt klingt, hat bei genauerer Betrachtung einen Haken. LDCs sind weitestgehend Agrarstaaten, die unter sinkenden Rohstoffpreisen leiden und kaum lukrative Exportprodukte haben, die sie nach Europa schicken könnten. Viele LDCs haben keine ausreichenden Produktionskapazitäten und eher veraltete Verarbeitungsanlagen. Die Effekte der Initiative "Alles außer Waffen" werden insgesamt bisher eher als gering eingeschätzt. Zucker stellt hier insofern eine Ausnahme dar, als dass Zucker bei günstigen Rahmenbedingungen Entwicklungsimpulse auslösen könnte. Wie verschiedene Länderstudien belegen trägt die Zuckerwirtschaft nachweislich zur regionalen Entwicklung bei, indem sie Arbeitsplätze schafft, teilweise soziale Dienste bereitstellt und Kleinbauern im Kontraktanbau ein Einkommen sichert. Doch dazu muss sie modernisiert und ausgeweitet werden; dazu bedarf es sicherer Absatzmärkte und guter Erlöse aus dem Zuckergeschäft. Hier hätte die EU durch Absatzgarantien zu höheren Preisen die notwendige Planungssicherheit für Unternehmen bieten und Investitionen befördern können. Die Preissenkungen der Zuckermarktreform wirken einer solchen Perspektive entgegen.

Das Ziel der begrenzten Mengenzufuhr aus den LDCs ist ganz im Sinne der europäischen Agrarlobby. Sie hat während der Diskussion der Reformvorschläge immer wieder vor mehreren Millionen Tonnen Zucker aus den LDCs gewarnt, die den europäischen Markt ab 2010 überschwemmen und den hiesigen Rübenanbau bedrohen würden; die Zahlen reichten bis 11 Millionen Tonnen Zucker, die wohl unrealistisch sind, denn nach Angaben der FAO produzierten alle LDCs zusammen im Jahr 2006 nur 3,19 Millionen Tonnen Zucker. Die Politik ist insofern standhaft geblieben, als dass sie die Initiative "Alles außer Waffen" ab 2010 auch vollständig auf Zucker anwendet und keine weiteren Ausnahmeregelungen zulässt. Dennoch kommt sie den Interessen der europäischen Landwirte entgegen, indem sie die potentiellen Zuckermengen aus den LDCs über den Preis wieder einschränkt und die Mengenklausel von 25 Prozent einführte.

Die LDCs legten eigene Vorschläge zur Reform der Zuckermarktordnung vor und verlangten eine Übergangszeit bis 2019, bis die "Alles außer Waffen" Initiative für Zucker voll wirksam werden sollte. Bei möglichst geringen Preissenkungen sprachen sie sich für ein Quotensystem mit jährlichen Steigerungen auf bis zu 1,6 Millionen Tonnen Zucker im Jahr 2015 aus. Mit den sicheren Einnahmen wollten sie ihren wichtigen Zuckersektor nachhaltig wettbewerbsfähig machen und sowohl die Inlandsnachfrage decken als auch andere Exportmärkte erschließen.

Auch Nicht-Regierungsorganisationen wie Germanwatch, der Evangelische Entwicklungsdienst und das Forum Umwelt und Entwicklung sowie die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft haben sich im Vorfeld der Beschlüsse für ein Reformwerk stark gemacht, das die Forderungen der Entwicklungsländer stärker berücksichtigt. Sie haben zu Dialogrunden eingeladen, um Betroffene aus verschiedenen Ländern mit Entscheidern zusammenzubringen und im Gespräch nach einem Interessensausgleich zu suchen.

Gewinner des neu geordneten EU-Zuckermarktes sind die starken Weltmarktanbieter, die im Weltmaßstab die günstigsten Produktionskosten aufweisen und überschüssigen Zucker exportieren. Sie haben zwar wegen der hohen Zollsätze weiterhin keinen Zugang zum EU-Markt, können aber frei werdende Märkte bedienen, wenn die EU-Zuckerexporte auf dem Weltmarkt in Höhe von mehreren Millionen Tonnen zurückgefahren werden. Das ist allen voran Brasilien, das seine Zuckerrohrflächen ohne weiteres ausdehnen kann und schon jetzt 25 Prozent der Weltzuckerexporte übernimmt. Kritiker warnen bereits vor den sozialen Folgen einer Expansionspolitik, die nur einige Reiche noch reicher machen, die Umwelt zerstören, Menschen von Land vertreiben und für die Zuckerrohrschneider im Nordosten Brasiliens, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten, keine Verbesserungen bringen wird. In den Nahen Osten könnte Thailand künftig Zucker liefern, auf asiatischen Märkten könnte Australien die europäischen Marktanteile übernehmen. Aber auch einige LDCs wie Mosambik, Sudan und Äthiopien werden auf regionale Märkte vorstoßen können, die bisher billigen EU-Zucker aufnahmen, und neue Absatzchancen gewinnen. Zweiter Effekt: die EU-Zuckerexporte auf dem Weltmarkt übten einen erheblichen Preisdruck aus, so dass nach der Reform mit einem Anstieg des Weltmarktpreises gerechnet wird. Höhere Weltmarktpreise sind Anreiz für eine Exportproduktion und steigern die Einnahmen von Zuckerexportländern; für arme Länder ist dies ein besonders positiver Effekt. Für LDCs, die Nettozuckerimporteure sind, sind steigende Weltmarktpreise hingegen eine Belastung.

Handel und Entwicklung können, müssen sich aber nicht gegenseitig begünstigen. Die Kunst ist es, Rahmenbedingungen so anzupassen und zu individualisieren, dass sie auch dem Ziel der Armutsminderung dienen. Dazu müssen Handelsvorteile auch mit Umwelt- und Sozialstandards verknüpft werden und verschiedene Politiken ineinander greifen. Beim Zucker gibt es im Gestrüpp der komplexen Interessenslagen keine einfachen Antworten. In Bezug auf die Zuckermarktordnung ist es der EU-Agrarpolitik jedoch nicht gelungen, sich klarer auch in den Dienst der Entwicklungspolitik zu stellen. Denn beim Zucker wird es besonders deutlich: Ohne Rückgang der europäischen Produktion wird der EU-Markt keine Aufnahmekapazitäten für Zuckerimporte aus Entwicklungsländern haben. Soll aber ein erleichterter Handel mit Agrarprodukten zu Entwicklung armer Weltregionen beitragen, dann müssen Industrieländer ihre Märkte für Agrarimporte freigeben. Die über den abgesenkten Preis der neuen Zuckermarktordnung ermöglichten Marktanteile fallen angesichts der Potentiale in den LDCs einerseits und der Verpflichtung gegenüber den Millenniumsentwicklungszielen andererseits eher spärlich aus. Die alte Forderung nach Politikkohärenz und nach Veränderungen im Norden, um Entwicklungsspielräume für den Süden zu schaffen, ist demnach weiterhin aktuell.


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Quelle:
Kritische Ökologie, Nr. 68/2007 - Spezialausgabe, S. 28-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2008