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GRENZEN/040: Bitterer Alltag auf dem Mittelmeer (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 37 vom 14. September 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Bitterer Alltag auf dem Mittelmeer
Flüchtlingsdramen und Europas Kampf gegen "illegale" Einwanderer

von MHad



Vergangene Woche, am 6. September, hat ein erneutes Flüchtlingsunglück auf dem Mittelmeer den Fokus wieder auf diese seit Jahrzehnten schwelende Problematik gelenkt.

Vor der türkischen Küste sank ein völlig überladenes Boot mit Flüchtlingen. Nach Behördenangaben starben mindestens 61 Menschen. Unter den Opfern waren 31 Kinder. Die Zahl der Opfer könne aber noch steigen, sagte Ardahan Totuk, der stellvertretende Gouverneur der Provinz Izmir. 46 Menschen seien gerettet worden, darunter der Kapitän und sein Helfer. Die beiden türkischen Staatsbürger wurden festgenommen unter dem Vorwurf des Menschenschmuggels. Die meisten Flüchtlinge sollen aus dem Irak und Syrien stammen.

Nur einen Tag später, am 7. September, ereignete sich vor Lampedusa ein weiteres Unglück. Nach einem Schiffbruch wurden zwei Flüchtlinge tot geborgen, 56 weitere konnten zehn Seemeilen vor Lampedusa gerettet werden. Bis zu 80 weiteren Menschen gelten laut italienischer Küstenwache als vermisst und die Helfer befürchten, dass die meisten von ihnen ertrunken sind. Die Flüchtlinge stammen überwiegend aus Tunesien. Diese Unglücke sind keine Ausnahmefälle sondern bitterer Alltag auf dem Mittelmeer, der europäischen Südgrenze. Nach Schätzungen des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) starben im letzten Jahr über 1.500 Menschen bei dem Versuch Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Das macht das Jahr 2011 zum tödlichsten Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen des UNHCR. "Fortress Europe" (Festung Europa), ein Internet-Blog, schätzt die Anzahl auf über 2.000.

Das Netzwerk UNITED - ein "europäisches Netzwerk gegen Nationalismus, Rassismus, Faschismus und für die Unterstützung von MigrantInnen und Flüchtlingen" - führt die so genannte "UNITED List of Deaths" (Liste der Tode). In dieser Liste werden alle Daten über den Tod von MigrantInnen, sowie die Umstände gesammelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieser Liste ist entnehmbar, dass allein im Mai 2012, ohne dass in den Medien von größeren Flüchtlingsunglücken berichtet worden wäre, etwa 50 Flüchtlinge vor europäischen Küsten zu Tode gekommen sind. Und das ist ein durchschnittlicher Monat. Offiziell, nach Angaben des UNHCR, starben in diesem Jahr bereits mindestens 280 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Die Dunkelziffer liegt weit darüber.


Sicherung der Außengrenze statt Leben zu retten

"Es ist ernüchternd darüber nachzudenken, wie viele dieser Tode verhindert werden könnten" sagt Judith Sunderland, leitende Forscherin von Human Rights Watch in West-Europa. "Leben zu retten und nicht der Verantwortung auszuweichen, muss der Imperativ auf dem Meer sein." Aber das sehen die Herrschenden in Europa selbstverständlich ganz anders. Die steigenden Zahlen der Flüchtlinge in den letzten Jahren waren ein Zeichen, neue Mittel der "Sicherung" der europäischen Grenzen zu suchen. Die Schaffung der "Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen" (kurz: Frontex) war ein bedeutender Schritt in diese Richtung. In den Jahren 2009 und 2010 wurden durch verschärften Grenzschutz mittels des Einsatzes von Frontex die Zahlen der illegalen Einwanderungen deutlich gesenkt. Aber seit den Unruhen im arabischen Raum und dem Zusammenbruch Libyens gab es einen immensen Anstieg an Flüchtlingen, so dass 2011 ein Rekordjahr im Hinblick auf die Anzahl der über das Mittelmeer angekommenen Flüchtlinge darstellt - laut UNHCR über 58.000 Menschen. Davon landeten 56.000 in Italien, 1.574 in Malta und 1.030 in Griechenland. Die griechische Regierung sagte allerdings aus, dass weitere 55.000 "illegale" Einwanderer die griechisch-türkische Grenze überquert haben.

Mit dem Krieg gegen Gaddafis Libyen und der Vernichtung der bis dahin existierenden staatlichen Autorität, hat die EU einen der Hauptpartner zur "Sicherung" der europäischen Südgrenze verloren. Gerade in Libyen existierten bis dahin eine Vielzahl so genannter "Wartezonen" oder "Unterbringungszentren" für illegal nach Europa eingewanderte Flüchtlinge - faktisch nichts anderes als vom europäischen Territorium ausgelagerte Inhaftierungs-Lager, vergleichbar mit den angeprangerten australischen "Concentration Camps". Human Rights Watch berichtet, dass in diesen Lagern, zu denen Menschenrechtsorganisationen meist keinen Zutritt hatten, Gewalt und Menschenrechtsverletzung die Tagesordnung waren. Zwar ist es nicht zu erwarten, dass von der Praxis der Inhaftierung von Einwanderern in Lagern außerhalb der europäischen Staatsgrenzen in absehbarer Zeit Abstand genommen wird. Aber bis Libyen unter einem prowestlichen Regime wieder soweit kontrollierbar ist, brauchen die Herrschenden der EU ein funktionierendes Abwehrsystem gegen die Flüchtlingswelle aus den Krisenherden im Nahen und Mittleren Osten. Vor Tagen erst warnte die UN vor einer Flüchtlingswelle aus Syrien. Nach UN-Angaben sind bereits 229.000 Menschen außerhalb Syriens als Flüchtlinge registriert, die Tendenz ist klar steigend.


Das Ziel: Einwanderung verhindern

Nicht zuletzt auch aus diesem Grund wird derzeit ein neues Grenzkontroll-System mit dem Namen EUROSUR ("European External Border Surveillance System") entwickelt. EUROSUR dient laut Selbstdarstellung von Frontex dazu "die Zahl der illegalen Einwanderer in die EU zu reduzieren", "die Zahl der Tode der illegalen Einwanderer zu reduzieren, durch das Retten von mehr Leben auf dem Meer" und "die innere Sicherheit der EU als Ganzes zu erhöhen." EUROSUR soll ein "System der Systeme" werden, mit dem "alle Grenzkontrollbehörden der Mitgliedsstaaten Zugang zu einem sicheren und dezentralisierten Informations-Austausch Netzwerk erhalten sollen."

Human Right Watch bemängelte in einem Bericht vom 16. August, das neue System EUROSUR beinhalte keinerlei Richtlinie oder Prozeduren, um die Rettung auf dem Meer effektiv durchzuführen. Mehr als dem Ziel Leben zu retten, diene es dem bekannten Motiv die Grenzen zu sichern und Einwanderung zu verhindern. Wahrscheinlich ist es, dass wie bisher Flüchtlingsschiffe sich selbst überlassen werden und lediglich von der europäischen Küste ferngehalten werden. Als bekanntestes Beispiel dafür gilt der so genannte "left-to-die-boat"-("dem Sterben überlassenes Boot")-Fall aus dem April 2011. Damals wurde ein beschädigtes Flüchtlingsboot mit 72 Menschen aus Libyen zwei Wochen lang ignoriert, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Mittelmeer "wimmelte" von NATO-Kräften. Das Boot driftete zurück an die libysche Küste - 63 Menschen starben. Selbstverständlich hatte niemand die Notrufsignale empfangen oder das Boot irgendwie geortet. Man könnte es schlicht und einfach unterlassene Hilfeleistung nennen.

Die "UNITED List of Deaths" ist einzusehen unter: www.unitedagainstracism.org

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 37 vom 14. September 2012, Seite 6
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2012