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GRENZEN/092: Die Flüchtlingskrise - Sicherheit der Menschen oder der Grenzen? (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Bericht aus dem Pressenza-Büro Athen, 1. März 2016

Die Flüchtlingskrise: Sicherheit der Menschen oder der Grenzen?


Pressenza Athen - 01.03.2016. Die jüngsten Anstrengungen auf lokaler und internationaler Ebene, die Flüchtlingskrise zu bewältigen, haben zu großer Besorgnis bei denen geführt, die sich aktiv mit dem Thema beschäftigen, sowie bei der Zivilbevölkerung.

Es führt häufig zu tragischen Ergebnissen, wenn Flüchtlinge und Migrant_innen über irreguläre Routen und unsichere Passagen reisen. Griechenland war für die letzten zwei Jahre das Haupteingangstor nach Europa und hat nach Auskunft der IOM (International Organisation for Migration) mindestens 102.547 Menschen allein dieses Jahr bereits in Empfang genommen. Darüberhinaus stellte sich der Januar nach Aussagen von Peter Bougkaert von Human Rights Watch [1] als der Monat mit den meisten Todesopfern in der Ägäis heraus - von Beginn der Flüchtlingsströme an bis heute gerechnet.

Diese Daten werden bestätigt von der UNHCR, welche hinzufügt, dass 35% der Toten Kinder waren, während "Ärzte ohne Grenzen", welche seit Mai 2015 humanitäre Hilfe auf den Inseln bereitstellen, von 320 Toten seit Beginn dieses Jahres bis heute (25.2.) sprechen [2].

Ein paar Tage nach diesen Berichten über die Todesfälle verkündete der NATO Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die Militärische Allianz dem Vorschlag Deutschlands, der Türkei und Griechenlands zustimmt, Operationen in der Ägäis zu starten, um Schleusertätigkeiten und illegale Migration auf dem Meer zu verhindern [3]. Währenddessen traf sich der Europäische Rat am 17. und 18. Februar mit den Zielen: schnelle Eindämmung der Flüchtlingsströme, Schutz der Außengrenzen, Reduktion illegaler Einreise und Sicherung des Schengenraumes [4].

Gleichzeitig unternimmt das Verteidigungsministerium in Griechenland spezielle Anstrengungen, um Registrierungszentren aufzubauen, unter anderem Hotspots, indem es fünf Koordinatoren einsetzt, mobile Küchen und die Militärcamps Sindo und Schisto zur Verfügung stellt, um die Prozesse auf dem Festland zu erleichtern (sogenannte Umsiedelungszentren). Das Ministerium für den Schutz der Bürger beschleunigt das Anheuern von neuem Personal für diese fünf Registrierungszentren, damit der Registrierungsprozess direkt vor Ort abgeschlossen werden kann.

All diese Aktivitäten werden unter Androhung der EU Repräsentanten durchgeführt, Griechenland aus dem Schengenvertrag zu entlassen; ein Ultimatum für die Griechische Regierung, innerhalb von drei Monaten die notwendigen Hotspots aufzubauen und die Empfehlungen Europas für striktere Grenzkontrollen umzusetzen, um einen Bruch des Vertrages zu vermeiden. Zur gleichen Zeit hat die EU für 3 Milliarden Euro ein bilaterales Abkommen mit der Türkei abgeschlossen (Ende 2015), um den Strom an Flüchtlingen zu stoppen; die Umsetzung hierzu wird klarer werden, wenn sich am 7. März Herr Tusk, Präsident des Europäischen Rates, und Herr Davutoglu, Türkischer Premierminister, treffen werden.

"Die UNHCR unterstützt die Griechische Regierung mit beidem, logistischer und finanzieller Hilfe, während sie jetzt schon bereits bei den Umsiedlungsprozessen aushilft," erklärte der UN Hochkommissar, Herr Grandi, in einem Interview gestern im Zusammenhang mit seinem zweitägigen Besuch in Griechenland. Den Einsatz der NATO in der Ägäis kommentierend sagte er, es sei ein Treffen mit dem NATO Generalsekretär in Brüssel am 25. Februar angesetzt, in welchem er fordern werde "jedes Vorhaben der Allianz gegenüber den Flüchtlingen und Asylbewerbern respektvoll und in Übereinstimmung mit internationalen und Europäischen Gesetzgebungen auszuführen."

Auf eine Frage eines Repräsentanten der "Kampagne für Asyl", ob die Türkei ein sicheres Drittland sei, antwortete Herr Grandi: "Momentan ist es nicht wichtig, ob die Türkei ein sicheres Drittland ist oder nicht, da sie bereits die Last Hunderttausender Flüchtlinge auf ihrem Territorium trägt. Wichtig ist für die EU, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, welche in der jetzigen Phase unverhältnismässig zwischen Europa und zum Beispiel dem Libanon aufgeteilt ist."

Die "Kampagne für Asyl", ein Bündnis, das aus Organisationen und Kollektiven besteht, organisierte eine Pressekonferenz, bei welcher sie einen neun Seiten langen Text veröffentlichte, der folgende rechtlichen Sorgen dokumentiert [5]:

  • Die Verletzung des Prinzips der Nichtzurückweisung, da die Türkei verhindern wird, dass Flüchtlinge Griechenland/das Europäische Territorium erreichen, um um Schutz zu bitten; die Türkei hat die Verantwortung auf sich genommen (im bilateralen Abkommen mit der EU), zum einen die Landgrenzen zu schliessen und zum anderen die Seegrenzen zu überwachen;
  • Die mögliche Klassifizierung der Türkei als sicheres Drittland und damit die Abschiebung von Asylsuchenden und Flüchtlingen aus Europa in die Türkei, was internationalem und EU Recht widerspricht.

Auf politischer Ebene interpretiert das Bündnis die Entscheidungen der EU als das Bemühen, jegliche Asylanträge und -prozesse sowie das Anerkennungssystem von der EU auf Drittstaaten zu übertragen. Das Bündnis ist ebenfalls besorgt darüber, inwieweit die militärischen Operationen der NATO und von Frontex, die in der Ägäis intensiviert werden, die Rechte von Asylsuchenden respektieren werden, und ob sie nicht vielmehr Ursache neuer Todesfälle oder eines erhöhten Risikos (und daher Preis) der Schleuseraktivitäten sein werden.

Die Griechische Union für Menschenrechte (EEAD) hat in ihrer eigenen Pressekonferenz bemerkt, dass wir uns nicht in einer Flüchtlingskrise befänden, sondern in einer Aufnahmekrise. EEAD setzt den erhöhten Andrang trotz des Winters mit dem Treffen der Europäischen Regierenden im Herbst auf Malta in Beziehung, in welchem im Wesentlichen verkündet wurde, dass die Grenzen geschlossen werden würden; daher beeilen sich die Leute, noch hineinzukommen.

Die EEAD forderte in ihrem mehrseitigen Bericht einen "durchführbaren Plan" [6]:

  • Die Griechische Regierung wird dazu aufgefordert, optimale Arbeitsabläufe zu sichern mit dem einzigen Gesetz, das im Moment dafür existiert, welches nichts anderes ist als der Umsiedlungsprozess von Asylsuchenden und Flüchtlingen. Eine koordinierte Anstrengung der Kommunen ist nötig, damit Griechenland in bester Weise die Zahlen der Menschen, die es versprochen hat umzusiedeln, erreicht und auch die notwendigen Bedingungen, um den internationalen Schutz für Flüchtlinge und Asylsuchende zu erhalten, der ihnen zusteht.
  • Es wird erklärt, dass die Sicherheit von Menschen der einzige Grund für die Sicherung von Grenzen sein sollte.
  • Der Bericht fordert, dass das Zurücksenden von Flüchtlingen sofort beendet werden muss, dabei hervorhebend, dass die NATO Operation die Flüchtlinge nicht substantiell abweisen kann, im Gegenteil sollte eine internationale Zusammenarbeit sichere Passagen schaffen und damit die Tätigkeit der Schleuser beenden.

Die EEDA drückte auch ihre ernsten Bedenken über die Einhaltung der grundlegenden Rechte der Flüchtlinge unter der Zuständigkeit der Armee aus, dabei die unerwartete Übertragung der Organisation und Logistik der Hotspots entlang der Grenzen und in Unterkünften auf dem Festland an die Griechische Armee kommentierend. Vor allem die Verwaltung und Koordination ist nicht zivil, sondern geschieht durch das Militär.

Generell kann gesehen werden, dass unterschiedliche Seiten versuchen, das Management der Flüchtlingsströme mit der Souveränität in der Ägäis und den NATO und Frontex Interventionen in Beziehung zu setzen, was zu einer Militarisierung der Situation zu führen scheint, statt sich mit den menschlichen und politischen Dimensionen zu beschäftigen.

Auf der anderen Seite gibt es so viele Menschen, die helfen, also Leben retten und sich um die Leute auf den Inseln kümmern. Gleichzeitig sieht die internationale und lokale Meinung mit Bedauern die täglichen Nachrichten, die den Verlust menschlichen Lebens veröffentlichen. "Es war sehr deutlich, so die Repräsentanten der 'Kampagne für Asyl', dass die Protokolle des Europäischen Rates nicht im geringsten darüber reden, wie man diese Todesfälle verhindern kann oder wie man eine sichere Passage ermöglichen kann für Menschen, die versuchen vor Krieg zu fliehen."

So lange es keine legalen und sicheren Wege für Flüchtlinge und Migrant_innen gibt, wird Europa ein gastunfreundlicher Ort bleiben, in dem die Sicherheit der Menschen der Grenzsicherung geopfert wird.


Übersetzung aus dem Englischen Johanna Heuveling


Anmerkungen:
[1] http://www.theguardian.com/world/2016/jan/30/dozens-dead-after-migrant-boat-capsizes-in-aegean-sea
[2] http://www.msf.org/topics/mediterranean-migration
[3] http://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_127972.htm?selectedLocale=en
[4] http://www.consilium.europa.eu/el/press/press-releases/2016/02/18-euco-conclusions-migration/
[5] http://asylum-campaign.blogspot.gr/2016/02/23022016_23.html
[6] http://www.hlhr.gr/?MDL=pages&SiteID=1195


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2016

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