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GRENZEN/152: "Wie Giftmüll, den niemand will" (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 29. Juni 2018
german-foreign-policy.com

"Wie Giftmüll, den niemand will"


BERLIN/BRÜSSEL - Die EU soll auf ihrem Gipfel am heutigen Freitag die Errichtung von Flüchtlingslagern im nördlichen Afrika beschließen. Dies geht laut Berichten aus dem Entwurf zur Abschlusserklärung des Gipfels hervor, die allerdings am gestrigen Abend noch nicht verabschiedet wurde, da Italien weitere Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik verlangt. In den vergangenen Tagen hatten sich immer mehr Spitzenpolitiker für die Lager ausgesprochen. Sie werden unter dem Begriff "Ausschiffungsplattformen" diskutiert und sollen Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer ergriffen wurden, aufnehmen, damit sie, sofern der UNHCR ihre Asylgesuche für nicht ausreichend begründet hält, direkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können. Allerdings ist noch kein Staat bereit, sich als Standort zur Verfügung zu stellen. In einer aktuellen Erklärung warnen Menschenrechts- und kirchliche Organisationen, wer den Flüchtlingsschutz negiere, stelle letztlich "die universelle Geltung der Menschenrechte in Frage" und riskiere damit auch die "Erosion der Menschenrechte" im eigenen Staat.

Vorbild Australien

In den letzten Tagen vor dem EU-Gipfel hatten mehrere Spitzenpolitiker, insbesondere auch deutsche, die Forderung nach der Errichtung von Flüchtlingslagern im nördlichen Afrika verstärkt. Hatte der deutsche Innenminister Horst Seehofer euphemistisch von "Schutzzonen" gesprochen, so unterstützte die ehemalige spanische Außenministerin Ana Palacio in einem - auch in englischer Sprache verbreiteten - Beitrag für eine deutsche Wirtschaftszeitung den Vorschlag des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, sogenannte Ausschiffungsplattformen zu installieren: Zentren in Drittstaaten voraussichtlich in Nordafrika, in die auf dem Mittelmeer aufgegriffene Flüchtlinge verbracht werden sollen - um diejenigen, deren Asylgesuch einer Überprüfung durch den UNHCR nicht standhält, von dort unmittelbar in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Damit könnten die EU-Staaten die unbequeme Aufgabe der Deportationen an die Vereinten Nationen delegieren. Ein solches Vorgehen entspreche der Praxis Australiens, Flüchtlinge "auf Inseln wie Nauru und Papua Neuguinea festzuhalten", erklärte Palacio; das biete "echte Vorteile".[1] EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger wiederum sprach sich dafür aus, Flüchtlinge künftig in einem "abgeschlossenen Dorf" etwa in Libyen oder Tunesien festzusetzen; dort sollten sie versorgt werden - mit "Wasser, Abwasser, Kälte, Wärme, Obdach, Sicherheit, Kleidung, Nahrung und Bildung für ihre Kinder". Brüssel könne das dafür nötige Geld völlig problemlos aufbringen; denkbar seien bei Bedarf bis zu sechs Milliarden Euro.[2]

"Kategorisch: Nein!"

Berlin und die EU haben sich von diesen Vorstößen auch nicht dadurch abbringen lassen, dass sämtliche Staaten, die in Brüssel als mögliche Standorte für "Ausschiffungsplattformen" gelten, sich in teils außergewöhnlicher Deutlichkeit gegen das Ansinnen verwahrt haben. So bestätigt ein Sprecher der International Organization for Migration (IOM): "Wir haben keine Anzeichen, dass irgendeines der genannten Länder bereit wäre, so ein Zentrum zu beherbergen."[3] Wie der Botschafter Tunesiens bei der EU, Tahar Cherif, berichtet, ist der Ministerpräsident seines Landes bei einem Besuch in Berlin gedrängt worden, der Errichtung von Flüchtlingslagern in seinem Land zuzustimmen: "Die Antwort ist klar: Nein!", bestätigte Tahar jetzt.[4] Der Außenminister der vom Westen anerkannten "Regierung" Libyens, Ahmed Maiteeq, weist derlei Anfragen an sein Land ebenfalls "kategorisch zurück". Auch Albaniens Ministerpräsident Edi Rama, der unter starkem Druck steht, weil seine Regierung um beinahe jeden Preis den EU-Beitritt anstrebt, erklärt: "Wir werden niemals solche EU-Flüchtlingslager akzeptieren".[5] Die Errichtung solcher Lager laufe schließlich darauf hinaus, "verzweifelte Menschen irgendwo abzuladen wie Giftmüll, den niemand will". Dafür stehe Tirana nicht zur Verfügung.

Hafensperren

Dessen ungeachtet haben mehrere EU-Staaten die Lage kurz vor dem gestern begonnenen Gipfel eskalieren lassen - mit einer Hafensperre für Rettungsschiffe, die zunächst Italien verhängte, bevor auch andere Staaten sich weigerten, Boote mit Flüchtlingen an Bord an Land zu lassen. So musste das Rettungsschiff "Lifeline", das 234 Flüchtlinge aufgenommen hatte, tagelang unter desaströsen Bedingungen auf dem Mittelmeer ausharren, weil sich in der EU - der Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2012 - kein Staat bereitfand, seiner völkerrechtlichen Pflicht zu humanitärer Hilfe für in Not geratene Boote nachzukommen, deren Besatzung sich und die Passagiere lediglich an Land in Sicherheit bringen will. Insbesondere Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte darauf bestanden, die "Lifeline" - in Reaktion darauf, dass ihre Besatzung zahllosen Flüchtlingen das Leben gerettet hat - umgehend "zu beschlagnahmen und die Crew strafrechtlich zu verfolgen".[6] Dies geschieht nun, nachdem das Rettungsschiff nach einer sechs Tage dauernden Blockade in Malta in einen Hafen einfahren durfte. Ob Hilfsorganisationen ihre Rettungsbemühungen in Zukunft noch fortsetzen können, ist höchst ungewiss. Damit kommen Berlin und die EU faktisch Forderungen einer Organisation extrem rechter Aktivisten nach, die letztes Jahr versucht hatten, Rettungsboote im Mittelmeer an ihrer Tätigkeit zu hindern (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Freilich steht die italienische Regierungspartei Lega, mit der Berlin bei der Flüchtlingsabwehr umstandslos kooperiert, diesem politischen Spektrum nah.

Erosion der Menschenrechte

Mit scharfer Kritik reagieren die Vereinten Nationen sowie Menschenrechtsorganisationen auf die teils offen völkerrechtswidrige Flüchtlingsabwehr Berlins und der EU. So weisen UNHCR und IOM darauf hin, dass allein in diesem Jahr schon rund 1.000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. "Das Recht auf Asyl in den EU-Mitgliedstaaten" müsse in jedem Fall aufrechterhalten werden, verlangt UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi: "Rettung zu verweigern oder die Verantwortung für die Gewährung von Asyl an andere zu verschieben ist vollkommen inakzeptabel."[8] In einer "Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz" teilen 17 Organisationen, darunter Pro Asyl und Amnesty International, terre des hommes und der Jesuiten-Flüchtlingsdienst, Caritas und Diakonie sowie Der Paritätische Gesamtverband, ihre "Sorge" mit, "dass die aktuelle deutsche wie europäische Asylpolitik nicht mehr primär dem Schutz der Flüchtlinge als vielmehr dem Schutz der Grenzen dient".[9] "Am Umgang mit Flüchtlingen zeigt sich, wie verlässlich das Versprechen Europas ist, die Menschenrechte einzuhalten", schreiben die Unterzeichner: "Wird die Verantwortung für den Schutz der in Europa ankommenden Menschen negiert, wird damit zugleich die universelle Geltung der Menschenrechte in Frage gestellt." Die Unterstützer der "Berliner Erklärung" warnen: "Es liegt in unserem eigenen Interesse, unser demokratisches und menschenrechtlich begründetes Gemeinwesen vor einer Erosion der Menschenrechte zu bewahren."

Vor dem Beschluss

Genau diese Erosion haben die EU-Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum heutigen Freitag weiter vorangetrieben. Der Entwurf für die Abschlusserklärung des Gipfeltreffens fordert laut Berichten, jetzt endlich die erwähnten "Ausschiffungsplattformen" außerhalb der EU zu errichten. Die Erklärung ist in der Nacht zum heutigen Freitag allerdings noch nicht offiziell verabschiedet worden: Italien verweigerte ihr zunächst die Zustimmung, um weitere Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik zu erzwingen. Dass die Staaten, die als Standort für die Lager in Frage kommen, sich dem Ansinnen hartnäckig verweigern, wurde gestern als überwindliches Hindernis eingestuft; man solle mit den betreffenden Regierungen Verhandlungen aufnehmen, hieß es in Brüssel. Bereits jetzt werden Flüchtlinge aus Libyen zu einer Sammelstelle in Niger gebracht, von der aus wenige eine Einreisegenehmigung nach Europa erhalten, während andere direkt in ihre Herkunftsländer abschoben werden (german-foreign-policy.com berichtete [10]). Dies ähnelt bereits erkennbar dem Vorgehen, das in den "Ausschiffungsplattformen" praktiziert werden soll.


Anmerkungen:

[1] Ana Palacio: In der Flüchtlingskrise ist ein Neustart der EU notwendig. handelsblatt.com 26.06.2018.

[2] Günther Oettinger will Migranten in Afrika versorgen. zeit.de 25.06.2018.

[3] Sammellager für Flüchtlinge: Welche Vorschläge gibt es? news.at 28.06.2018.

[4] Loes Witschge: European proposals to outsource asylum centres condemned. aljazeera.com 28.06.2018.

[5] Dirk Hoeren: Albanien will keine Asyl-Lager für die EU bauen. bild.de 27.06.2018.

[6] Seehofer sieht keine Notwendigkeit für Aufnahme von Migranten. welt.de 27.06.2018.

[7] S. dazu Europäische Werte.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7337/

[8] IOM, UNHCR appeal for region-wide action by EU countries over Mediterranean tragedies. unhcr.org 27.06.2018.

[9] Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz. Berlin, 27.06.2018.

[10] S. dazu Libysche Lager.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7649/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2018

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