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DILJA/014: Paramilitärs in der Europäischen Union - ein Anachronismus mit Zukunft (SB)


Kaum bekannt und doch bedrohlich - die Europäische Gendarmerietruppe


Paramilitärs in der Europäischen Union? Wer dies für einen schlechten Scherz hält und im übrigen mit diesem Begriff Todesschwadrone assoziiert, die namentlich in den lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er Jahre für Angst und Schrecken sorgten, läuft Gefahr, jede Wette mit der Aussage, daß es einen Kampfeinsatz paramilitärischer Einsatzkräfte in einem Staat der EU unter keinen wie auch immer gearteten Umständen geben könne, zu verlieren. Dies liegt zunächst einmal an einer gewissen inhaltlichen Unschärfe dieses Begriffs, der das Schreckensbild lateinamerikanischer oder sonstiger Todesschwadrone zwar abdeckt, aber keineswegs auf derartige, gezielt irregulär gehaltene Repressionsorgane reduziert werden darf. Todesschwadrone, deren Existenz von Betroffenen und Kritikern angeprangert und von offiziellen Regierungen ebenso bestritten wird wie deren eigene Beteiligung an diesen irregulären Truppen, gehören keineswegs, wie das Beispiel Kolumbiens nahelegt, allein der Vergangenheit an.

Der heutige Paramilitarismus darf gleichwohl nicht auf die Existenz semi-legaler Truppenverbände reduziert werden, die in einer eigens für sie geschaffenen rechtlichen Schutzzone agieren können, um die "Schmutzarbeit" in Sachen Aufstandsbekämpfung und Eliminierung politischer Gegner zu erledigen, ohne daß offizielle Regierungsverantwortliche juristisch oder politisch dafür belangt bzw. verantwortlich gemacht werden können, was zwar nicht in ihrem Namen, aber doch in ihrem Interesse bzw. heimlichen Auftrag geschieht. Unter paramilitärischen Einheiten werden in etlichen, auch europäischen Staaten heute längst auch militarisierte, d.h. kasernierte und mit Waffen, die denen leichter Infanterieverbände entsprechen, ausgerüstete Polizeieinheiten verstanden, die keineswegs in dem Ruch halbkrimineller Zusammenschlüsse stehen.

Namentlich in Deutschland bedarf es hier einiger Aufklärung, zumal das bundesrepublikanische Staatsverständnis, das sich im Lebensgefühl bzw. der politischen Vorstellungswelt vieler seiner Bürger und Bürgerinnen widerspiegelt, von einer strikten Trennung zwischen Militär und Polizei (wie auch zwischen Polizei und Geheimdiensten) ausgeht, so wie dies im westdeutschen Grundgesetz von 1949 verankert wurde. Offiziell kann und wird dieses Trennungsgebot kaum aufgehoben werden, würde dies doch dem offenen Eingeständnis gleichkommen, daß die vielbeschworenen Lehren, die insbesondere die Väter und Mütter des Grundgesetzes aus den Schrecken der NS-Zeit gezogen haben wollen, auf dem Müllhaufen der Geschichte endgelagert werden. Jede politische Initiative, auf gesetzgeberischen Wegen hier Abhilfe zu schaffen, um die vermeintliche "Lücke", die infolge des Trennungsgebots zwischen militärischen und polizeilichen Optionen bestehe, zu schließen, brächte ihre Protagonisten in die Gefahr, sich ins konsenspolitische Abseits zu bewegen und als schlechte Demokraten zu entlarven, die nichts, aber auch gar nichts "aus der Geschichte gelernt haben".

Da in so sensiblen Fragen wie diesen zwischen vorgeblichen und tatsächlichen Absichten genauestens unterschieden werden muß, muß an dieser Stelle vor dem Trugschluß gewarnt werden, das (formale) Festhalten an dem verfassungsrechtlich alternativlosen Trennungsgebot zwischen Militär und Polizei mit seiner unumstößlichen Verinnerlichung zu verwechseln. Soll heißen: Die Tatsache, daß kein bundesdeutscher Verantwortungsträger so dumm sein kann, in aller Offenheit die Außerkraftsetzung dieser oder weiterer Schutzmechanismen, die das Ab- oder Hinübergleiten eines demokratischen Staatswesens in eine faschistische Diktatur für immer und alle Zeiten unmöglich machen sollten, zu propagieren oder zu fordern, bedeutet selbstverständlich nicht, daß nicht auf indirekten und inoffiziellen Wegen an der Perforierung, um nicht zu sagen faktischen Außerkraftsetzung solcher Barrieren gearbeitet wird.

"Europa" ist hierbei der rettende Anker. Da Deutschland ein, wenn nicht sogar der zentrale Führungsstaat in der Europäischen Union ist und die Transformation des einst eher lockeren Staatenbundes zu einem europäischen Superstaat immer weiter vorangetrieben wird mit der Folge, daß sukzessive nationalstaatliche Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse nach Brüssel übertragen werden, kann in so hochsensiblen Konfliktfeldern "über Bande" gespielt werden. Wäre das in dem vielgelobten Integrationsprozeß stehende EUropa tatsächlich in demokratischer und sozialer Hinsicht ein Zugewinn für die Bevölkerungen seiner Mitgliedstaaten, weil die europäischen Regelungen stets sozialer und demokratischer wären als die nationalstaatlichen, hätte das bundesdeutsche Trennungsgebot Pate stehen können und müssen für die entsprechenden europarechtlichen Bestimmungen.

In Italien und Frankreich bestehen seit langem paramilitärische Verbände, Gendarmerien genannt, und so waren es auch diese beiden Staaten, die innerhalb Europas eine Militarisierung der Polizei vorangetrieben haben. Von einem bremsenden Einfluß Deutschlands war selbstverständlich weit und breit nichts zu vernehmen, und so darf geargwöhnt werden, daß die Berliner Eliten sich nicht den Kopf darüber zerbrachen, wie einer angesichts der bitteren, keineswegs allein das damalige "deutsche Reich" betreffenden historischen Erfahrungen unheilvollen Entwicklung Einhalt geboten werden könnte. Ihre größte Sorge dürfte noch immer darin bestehen, daß die Bundesrepublik wegen solcher historischer Altlasten ins Hintertreffen geraten könnte auf ihrem Weg zu einem führenden Akteur im Weltmaßstab.

Gendarmerien, wie sie von Frankreich und Italien seit langen (Kolonial-) Zeiten unterhalten werden, stellen eine Mischform aus Militär und Polizei dar. Sie stehen unter Befehl des Verteidigungs- und/oder des Innenministeriums und sind für Fragen der Aufstandsbekämpfung prädestiniert. Die französische "Gendarmerie National" wurde während der französischen Revolution zu dem Zweck geschaffen, in Kooperation mit dem Militär für "Ruhe und Ordnung" im Innern zu sorgen, sprich die aufständische Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, wovon später zur Aufrechterhaltung des Herrschaftsanspruchs des französischen Zentralstaates über ehemalige Kolonien bei der Niederschlagung dortiger Unruhen reger Gebrauch gemacht wurde.

Die Gendarmerie National Frankreichs wie auch die Carabinieri Italiens sind die Vorbilder eigener Gendarmerieverbände Europas, bei deren Konstituierung von der Stunde Null an getrickst werden mußte. Hätte die Europäische Union derartige paramilitärische Verbände im eigenen Namen aufstellen wollen, hätten dem alle EU-Staaten, also auch Deutschland, zustimmen müssen, was aus besagten Gründen schwerlich zu realisieren gewesen wäre. Die Aufstellung einer länderübergreifenden Gendarmerieeinheit, einer sogenannten "European Gendarmerie Force" (EGF) wurde offiziell zum ersten Mal im Herbst 2003 von der französischen Verteidigungsministerin Michelle Alliot-Marie vorgeschlagen.

Keine drei Jahre später, im Januar 2006, wurde im norditalienischen Vicenza diese Idee in die Tat umgesetzt. Hier entstand das Hauptquartier dieses neuen, zunächst nur mit 30 Personen besetzten paramilitärischen Verbandes. Vom Hauptquartier in Vicenza aus wurden Kampfverbände aufgebaut, die mit einer Sollstärke von 2300 Polizeisoldaten innerhalb von nur 30 Tagen aufgestellt und zum Einsatz gebracht werden können. Bereits Mitte 2006 meldete die EGF ihre Einsatzfähigkeit, wiewohl zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt keine rechtlichen Grundlagen für ihre Existenz bzw. ihren möglichen Kampfeinsatz geschaffen worden waren.

Die EGF wurde durch die an ihrer Aufstellung beteiligten EU-Staaten, als da wären Frankreich, Italien, Spanien, Portugal sowie die Niederlande, ins Leben gerufen. Zwischen diesen Staaten wurde am 18. Oktober 2007 ein Vertrag geschlossen, der das bis dahin bestehende rechtliche Vakuum schließen sollte, was jedoch im Ansatz eine haarige Angelegenheit war, da sich hier außerhalb des offiziellen EU-Rahmens einige Mitgliedstaaten vertraglich zur Aufstellung eines gemeinsamen paramilitärischen Verbandes verpflichteten, der dann sehr wohl im Rahmen auch der EU tätig werden können soll. Der Verdacht, daß dieses Prozedere eigens geschaffen und begangen wurde, um den deutschen "Sonderweg" zu umschiffen, liegt hier mehr als nahe. In den Kreis der eine europäischen Gendarmerie unterhaltenen Staaten ist inzwischen auch Rumänien aufgerückt; mit Polen und Litauen wurden 2007 bzw. 2009 Partnerschaftsvereinbarungen getroffen, während der Türkei lediglich ein Beobachterstatus gewährt wurde.

In Art. 5 des EGF-Abkommens heißt es, daß die "Europäische Gendarmerietruppe" im Rahmen der Europäischen Union, aber auch der Vereinten Nationen, der OSZE oder auch der NATO eingesetzt werden kann; weiterhin sind Ad-hoc-Bündnisse möglich sowie ihre Beteiligung im Rahmen polizeilicher Einsätze. Genaugenommen wird durch diese Truppe nicht nur das deutsche Trennungsgebot zwischen Militär und Polizei, sondern auch das zwischen polizeilichen und geheimdienstlichen Befugnissen umgangen, da die EGF polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Fähigkeiten in sich vereint. Ihr großes Plus gegenüber lästigen parlamentarischen Kontrollen oder politischen Einschränkungen durch womöglich mißliebige Regierungen eines der eher am Rande dieses Geschehens stehenden EU-Staaten besteht darin, daß sie durch eine eigenständige Finanzierung der an diesem Projekt beteiligten Vertragsstaaten gesichert ist.

Sie steht außerhalb des EU-rechtlichen Rahmens und ist immun gegen Widerworte, die aus dem Europäischen Parlament womöglich kommen könnten. Dieses Parlament hat nicht den geringsten Einfluß auf Entscheidungen über mögliche Einsätze dieser Truppe, werden diese doch von einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Gremium getroffen, das keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliegt. Die politisch-militärische Kontrolle obliegt dem CIMIN, einem interministeriellen Komitee, das aus Repräsentanten der Außen- und Verteidigungsministerien der EGF-Mitgliedstaaten besteht und über die Einsätze der Gendarmerietruppe wie auch die Aufnahme weiterer Mitglieder entscheidet.

Da weder die USA noch die NATO über solche Gendarmeriekräfte verfügen, stellt die EGF ein besonderes Instrument dar, mit dem die führenden EU-Staaten, ohne das dies de jure eine EU-Angelegenheit wäre, im Tauziehen um welthegemonialen Einfluß punkten wollen. Zu einem ersten Einsatz kam es im November 2007 in Bosnien, wo die EGF-Einheiten die Nachfolge der "Multinational Specialized Units" (MSU) antraten, mit denen bereits 1998 im Rahmen des mit SFOR-Mandat geführten NATO-Einsatzes die vermeintliche Lücke zwischen Polizei und Militär geschlossen wurde. Unter ähnlichen Bedingungen und Voraussetzungen waren diese multinationalen Spezialeinheiten ab August 1999 auch mit KFOR-Mandat im Kosovo zu repressiven und präventiven Aufgaben eingesetzt worden.

Das zweite große Einsatzfeld der EGF betrifft Afghanistan, wo die Europäische Gendarmerietruppe nach einem auf dem NATO-Gipfel im April 2009 gefällten Beschluß in Zusammenarbeit mit den USA, der NATO und der EU zum Einsatz gebracht wurde zur Ausbildung der dortigen Repressionsorgane. Da die EGF auch 2010 im von einem katastrophalen Erdbeben heimgesuchten Haiti eingesetzt wurden, liegt die Schlußfolgerung nahe, in ihr neben den offiziellen, rein militärischen Repressionsorganen der NATO ein zweites, näher an polizeilichen Aufgaben angesiedeltes Standbein zur Aufstandsbekämpfung an allen denkbaren Einsatzorten der Welt zu vermuten. Die Hybridfunktion dieser Gendarmerie betrifft jedoch nicht nur die Ineinssetzung polizeilicher, militärischer und geheimdienstlicher Funktionen und auch nicht ihre vielfältige Verwendbarkeit unter dem Dach mehrerer, auch variabler Institutionen.

Das Innere Europas, sprich die EU-Mitgliedstaaten, ist als potentieller Einsatzort dieser paramilitärischen Truppe keineswegs ausgeschlossen. Hierfür wurden die rechtlichen Grundlagen mit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon eigens geschaffen, um den bis dahin geltenden Rechtszustand, der einen Einsatz militärischer Mittel im Innern der EU-Staaten nicht zugelassen hätte, zu ändern. In den EU-Staaten, die wie Frankreich und Italien an eine Gendarmerie bereits "gewöhnt" sind, mag für die Errichtung europäischer Gendarmeriekräfte noch vergleichsweise leicht eine politische Akzeptanz hergestellt werden können. In der Bundesrepublik Deutschland jedoch, deren Grundgesetz explizit eine strikte Trennung polizeilicher und militärischer Aufgaben verlangt, hätte dieser Punkt - neben vielen weiteren sowie grundsätzlichen Bedenken - Anlaß genug geboten, um die Unterzeichnung und Ratifizierung des Lissabon-Vertrags wegen seiner möglichen, viel zu weit gehenden Einwirkungen auf grundgesetzliche Regelungen abzulehnen.

Das Rechtfertigungskonstrukt für einen solchen Dammbruch nicht nur im deutschen, sondern im gesamteuropäischen Rahmen ist in den Wortlaut des entsprechenden Artikels eingeflossen. Es ist die "Solidaritätsklausel" in Art. 222 des "Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV). Ausgerechnet "Solidarität"! Damit wird ein Bild entworfen, das ungefähr so aussieht: Ein EU-Mitgliedstaat ist von einer Katastrophe betroffen, die er mit eigenen Mitteln (allein) nicht bewältigen kann. Die übrigen EU-Mitgliedstaaten respektive die EU stehen ihm in der Stunde der Not - solidarisch, wie sie sind - unbürokratisch und effizient zur Seite. Ein schönes Bild, bei dem allerdings die Gefahr besteht, daß sozusagen in seinem Fahrwasser eine exekutive Ermächtigung - mehr oder minder verborgen - enthalten ist, die sich mit den demokratischen Ansprüchen nicht nur Deutschlands nicht decken läßt. In Art. 222 Abs. 1 AEUV heißt es [1]:

Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um
a) - terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden;
- die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen;
- im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen;
b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.

Aus diesem Wortlaut geht klar hervor, daß es bei dieser Form der "Solidarität" um den Einsatz der von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischer Mittel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates im Rahmen der EU geht. Doch was heißt hier "im Rahmen der EU"? Bezeichnenderweise wurde die Solidaritätsklausel in den Fünften Teil des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der "Das auswärtige Handeln der Union" regelt, integriert. Sollte den Vertragsautoren hier ein kleines Mißgeschick unterlaufen sein beispielsweise dergestalt, daß sie übersehen haben, daß in allen übrigen Artikeln dieses Teils die Beziehungen der EU zu Drittländern und Internationalen Organisationen behandelt werden, nicht jedoch, mit Ausnahme von Art. 222, das Vorgehen der EU in den eigenen Mitgliedsländern? Hätte die Solidaritätsklausel nicht in jenen Vertragsteil eingegliedert werden müssen, in dem die Verhältnisse der EU in bezug auf ihre Mitgliedstaaten behandelt werden, also in den Dritten Teil, in dem "Die internen Politiken und Maßnahmen der Union" geregelt werden?

Naiv gefragt, denn in diesem Teil ist weit und breit nicht vom Einsatz militärischer Mittel innerhalb der EU-Staaten die Rede. Nicht in Titel V, Kapitel 5, in dem die "Polizeiliche Zusammenarbeit" geregelt ist; nicht in Titel XXIII, der dem "Katastrophenschutz" gewidmet ist. Die der polizeilichen Zusammenarbeit gewidmeten Artikel wären ohnehin nicht einschlägig gewesen. In ihnen wird eine Zusammenarbeit der Polizeibehörden untereinander wie auch mit weiteren Institutionen, so auch mit Europol, geregelt, jedoch allein zu Zwecken der Kriminalitätsverhütung und -bekämpfung. Erschwerend wäre dann noch hinzugekommen, daß in Art. 89 AEUV [2] festgelegt wurde, daß ein solcher Polizeieinsatz im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaates eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens bedarf, in dem der Rat die Bedingungen und Grenzen eines solchen Einsatzes, der in Absprache mit den Behörden des betreffenden Landes erfolgt, festlegt und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig beschließt.

In der Theorie mag darüber gestritten werden, ob eine bloße Anhörung des europäischen Parlaments in einer solch gravierenden Frage unter demokratischen Gesichtspunkten als ausreichend angesehen wird oder nicht. Doch in der hier zur Debatte gestellten Frage des Einsatzes militärischer Mittel innerhalb eines EU-Staates kommt es nicht einmal so weit, was in Hinsicht darauf, daß es um Militär- und eben nicht Polizeieinsätze geht, erst einmal nicht einmal unlogisch ist. Mit der inneren Logik oder dem demokratischen Sinngehalt und Anspruch gerade auch des Lissabon-Vertrags ist dies jedoch schwerlich zu vereinbaren. Wenn der überstaatlichen polizeilichen Zusammenarbeit gewisse Grenzen gesetzt sind - Stichwort: Gesetzgebungsverfahren des Rates mit Anhörung des Parlaments -, ist nicht plausibel zu machen, daß es bei noch weitaus gravierenderen Eingriffen, wie es der Einsatz militärischer Mittel zwangsläufig ist, die Mitwirkungsmöglichkeiten der Europäischen Institutionen weitaus geringer bis nicht vorhanden sind.

Die "Europäischen Gendarmerietruppe" (EGF) scheint sich in einer unter demokratischen Gesichtspunkten katastrophalen Rechtslage oder vielmehr -lücke zu befinden. Sie ist nicht in die Europäische Union integriert, so daß sie weder als Polizei- noch als Militäreinheit unter die unmittelbare Kontrolle und Verantwortung der EU fällt. Ihre rechtliche Grundlage, wenn man denn so will, ist der zwischen ihren Gründerstaaten geschlossene Vertrag, dessen Regelungen wie erwähnt beinhalten, daß die EGF unter anderem auch im Rahmen der Europäischen Union eingesetzt werden können. "Im Rahmen" der EU also schon, aber nicht in der unmittelbaren politischen Verantwortung, soll heißen, nicht unter den (geringen) Einflußmöglichkeiten, die sich dem Parlament dann böten? Der Begriff "paramilitärisch" bekräftigt hier seine volle Berechtigung. Wie stünde die EU da, wenn schwarz auf weiß in ihren Verträgen nachzulesen wäre, daß sie eine Kriegführung gegen die eigene Bevölkerung (in einem ihrer Mitgliedstaaten) auch nur in Erwägung zöge?

Deutschland als der finanzstärkste und damit wohl auch einflußreichste Akteur in der EU scheint nun alles andere als bemüßigt zu sein, die im Entstehungskontext der eigenen Republik propagierten Lehren aus der NS-Vergangenheit zu beherzigen und innerhalb Europas durchzusetzen. Das genaue Gegenteil scheint zuzutreffen. Aufgrund des grundgesetzlichen Handicaps werden Überlegungen angestellt, wie, da die Bundesrepublik (noch) keine eigene Gendarmerie aufstellen und deshalb sich auch an der Europäischen Gendarmerietruppe nicht beteiligen kann, der ihr dadurch womöglich drohende Einflußverlust wettgemacht werden kann. So wurde in einer Studie der "Stiftung Wissenschaft und Politik" als Lösung dieses vermeintlichen Dilemmas vorgeschlagen, in Deutschland "eine spezialisierte Einheit von einigen hundert Gendarmen ausschließlich für den Auslandseinsatz aufzubauen", die der Bundespolizei unterstellt oder als polizeilich weitergebildetes Kontingent der Feldjäger firmieren solle [3]. Eine "Internationale Einsatzeinheit" (IEE) soll sich im Rahmen der Bundespolizei bereits im Aufbau befinden [3].

Der Einsatz paramilitärischer Truppen zur Niederschlagung sozialer Unruhen wird nach dem Empfinden der meisten Bundesbürger, wenn überhaupt, in weiter Ferne liegen. Die bloße Tatsache, daß bislang die Europäische Gendarmerietruppe (EGF) noch nicht in einem EU-Staat zum Einsatz gebracht worden ist, um langanhaltende Proteste der Bevölkerung gewaltsam unter Kontrolle zu bringen, darf allerdings nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, ein solches Szenario sei undenkbar und unter den gegenwärtigen (rechtlichen) Optionen nicht zu realisieren. Wer könnte beispielsweise die Garantie dafür geben, daß die Proteste der griechischen Bevölkerung gegen die sozialfeindliche Sparpolitik ihrer Regierung, die dieser unter anderem auch von der EU aufgezwungen wird, nicht eines Tages mit solchen Truppen niedergeknüppelt und -geschossen wird, nämlich dann, wenn sich erweisen sollte, daß die griechische Armee nicht willens ist, militärische Mittel gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen? Und wer könnte garantieren, daß die europäische "Solidarität", mit womöglich erpreßter Einwilligung der Athener Regierung, dann nicht aus den Gewehrläufen kommen könnte?


Anmerkungen

[1] zit. aus: Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Amtsblatt der Europäischen Union, 9.5.2008;
hier: Titel VII, Solidaritätsklausel, Artikel 222, C 115/148

[2] zit. aus: Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Amtsblatt der Europäischen Union, 9.5.2008;
hier: Artikel 89, C 115/84

[3] Lex paciferat - Das Gesetz wird Frieden bringen. Ein Blick auf die europäischen Gendarmeriekräfte. Von Tim Schumacher, Informationsstelle Militarisierung e.V., IMI-Studie 2010/012, in AUSDRUCK August 2010,
http://imi-online.de/download/TM-AUSDRUCK-EGF.pdf
im Schattenblick siehe in MEDIEN\ALTERNATIVPRESSE unter IMI/322: Ein Blick auf die europäischen Gendarmeriekräfte

18. Oktober 2011