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DILJA/027: Auflehnung gegen das EU-System in Griechenland - droht eine Militärintervention? (SB)


Was wird die Troika tun, wenn Griechenland ihr Schuldenmanagement nicht mehr akzeptiert?



Im Moment ist die politische Situation in Griechenland vollkommen offen. Beauftragt mit der kaum zu bewältigenden Aufgabe, eine tragfähige Regierungskoalition auf die Beine zu stellen, ist derzeit der Vorsitzende der Linksallianz Syriza, Alexis Tsipras. Mag die Regierungsbildung für alle Parteien, die im neuen Parlament vertreten sein werden, auch äußerst kompliziert und kaum zu bewältigen sein, weshalb bereits im Juni Neuwahlen bevorstehen könnten, steht doch außer Frage, daß das Votum der Wählerinnen und Wähler bei diesen Parlamentswahlen in einem Punkt nicht mißzuverstehen war: Eine klare Mehrheit lehnt die Fortsetzung der bisherigen Politik ab. Dieses Votum stellt nun seinerseits eine politische Kampfansage an die aus EU, EZB und IWF bestehende Troika dar, von deren Wohlwollen respektive nächster Kreditauszahlung das (finanzielle) Überleben des griechischen Staates abhängig ist bzw. zu sein scheint.

All dies wird der Mehrheit der Menschen, die sich am vergangenen Sonntag gegen die beiden Großparteien PASOK und Nea Dimokratia ausgesprochen haben, sehr wohl bewußt gewesen sein. Das Wahlergebnis ist deshalb in dem Punkt nicht mißzuverstehen, daß die Mehrheit der griechischen Bevölkerung den drohenden Staatsbankrott der rigiden Verarmungs- und Verelendungspolitik, die bis dato unter dem Titel "Sparpolitik" betrieben wird, vorzieht. Damit ist in dem NATO- und EU-Staat Griechenland eine Situation entstanden, die als eine Art Lackmustest für den tatsächlichen Stellenwert demokratischer Werte nicht nur in Griechenland selbst, sondern für die gesamte Europäische Union aufgefaßt werden könnte.

Was würde geschehen, wenn - was nach Lage der Dinge und mit Mandat des eigentlichen Souveräns, nämlich der Bevölkerung Griechenlands, keineswegs abwegig wäre - nach dieser oder einer etwaigen Neuwahl im Juni eine Linksregierung ans Ruder käme, die Schluß macht mit der Gefolgschaft unter das Diktat der Troika? Würden die Funktionsträger in EU-Kommission, EZB und IWF, aber auch in Washington und bei der NATO, dies als die demokratisch legitimierte Entscheidung des griechischen Volkes respektieren und auf dieser Basis nach neuen Möglichkeiten suchen, um in Kooperation mit der neuen Athener Regierung alternative Lösungen angesichts der großen Probleme zu entwickeln? Wohl kaum. Längst ist zwischen Kreditgeber und Schuldner, in diesem Fall der Troika und Griechenland, ein faktisches Zwangsverhältnis entstanden, das mit dem Anspruch Griechenlands bzw. der griechischen Bevölkerung, mittels parlamentarisch-demokratischer Mittel die eigenen Geschicke zu bestimmen, sprich die nationale Souveränität des Landes in Anspruch zu nehmen, nicht mehr zu vereinbaren ist.

Die Kreditabhängigkeit Griechenlands ist, zumindest aus Sicht der Kreditgeber oder eher Kreditversprecher, als eine Form der Schuldknechtschaft zu bezeichnen, die den Vergleich mit der systematischen Verschuldungsfalle, in die die ehemaligen Kolonien der europäischen Staaten nach ihrer formalen Dekolonisation im 20. Jahrhundert manövriert wurden mit der Folge, daß in diesen Regionen und nicht in den führenden Industriestaaten die größten Hunger- und Todeszonen der Welt anzutreffen sind, nicht zu scheuen bräuchte. Die Griechen haben zu spuren und zu tun, was von ihnen verlangt wird selbst dann, wenn nach mehreren Jahren eines solchen Schuldenmanagements nicht zu bestreiten ist, daß die Misere nur noch größer geworden ist. In deutschen Medien macht bereits das Wort der "Unregierbarkeit" im Zusammenhang mit der aktuellen Situation in Griechenland die Runde, so als gäbe es in dem Land kein von der Verfassung vorgegebenes Prozedere, wie im Fall einer gescheiterten Regierungsbildung weiter zu verfahren wäre.

Ein Begriff wie Unregierbarkeit unterstellt eine Katastrophensituation, in der, wie durch eine übergeordnete Instanz legitimiert, einfach nicht mehr gilt, was eigentlich gelten müßte. Da es innerhalb der Kernstaaten der Europäischen Union und den maßgeblichen Brüsseler Behörden ohnehin, was kaum zu bestreiten ist, am Respekt vor dem demokratischen Votum Griechenlands mangelt, werden mit derartigen Aussagen und Begriffen möglicherweise Vorkehrungen getroffen für massivste Eingriffe, um nicht zu sagen Interventionen zu dem Zweck, die weitere Subordination Griechenlands zu erzwingen. Eine solche Option scheint aus rechtlichen Gründen nicht gänzlich ausgeschlossen zu sein. In den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Lissabonner Verträgen, genauer gesagt in dem "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV), gibt es eine "Solidaritätsklausel" (Art. 222), in der die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten einem ihrer Mitgliedstaaten mit allen, also auch militärischen Mitteln beistehen, wenn dieser von einer terroristischen Bedrohung, einer Naturkatastrophe oder einer "von Menschen gemachten Katastrophe" betroffen ist [1].

Als eine "von Menschen gemachte Katastrophe" könnte womöglich eine solche Situation wie jetzt in Griechenland durch die Europäische Union bewertet werden, so in Brüssel die Auffassung vorherrsche, Griechenland steuere auf seinen eigenen Untergang zu und habe sich durch die Uneinsichtigkeit seiner Bürger selbst in eine Katastrophe manövriert. Zwar setzt die Anwendung der "Solidaritätsklausel" nach Art. 222 AEUV ein Ersuchen der "politischen Organe" des betreffenden Landes voraus. Wenn jedoch funktionsfähige "politische Organe" nicht mehr gebildet werden können - was dann? Wäre in einem solchen Fall, wenn Experten der EU zu der Einschätzung gelangten, der griechische Staat wäre faktisch unregierbar und habe gar keine Regierung, so etwas wie ein extralegaler Notstand denkbar, indem dieses "Ersuchen" anstelle der griechischen politischen Organe von europäischen Institutionen selbst gestellt wird? Fragen über Fragen, die nicht nur Griechenland, sondern alle EU-Staaten betreffen.


Fußnoten:

[1]‍ ‍In Art. 222 Abs. 1 AEUV heißt es:
Die Union und ihre Mitgliedstaaten handeln gemeinsam im Geiste der Solidarität, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um
a) - terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden;
- die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen;
- im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen;
b) im Falle einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen.
zit. aus: Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Amtsblatt der Europäischen Union, 9.5.2008;
hier: Titel VII, Solidaritätsklausel, Artikel 222, C 115/148

9.‍ ‍Mai 2012