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DILJA/030: Hungernde Schulkinder in Andalusien - Spanien unter dem Diktat der Troika (SB)


Spaniens Bevölkerung erhebt sich gegen den Madrid aufgezwungenen EU-"Sparkurs"



Als die europäischen Staaten ihre zunächst eher lockeren, die nationalen Souveränitätsrechte unangetastet belassenen Verbindungen zu intensivieren suchten und ein Projekt, genannt "europäischer Einigungsprozeß" propagierten, wurde dies stets mit dem Versprechen unterfüttert, eine solche Union würde einen größeren Nutzen für die Bevölkerungen all ihr Mitgliedstaaten abwerfen, als es die jeweiligen Einzelstaaten je zu erbringen imstande wären. Ein größeres, EU-weit organisiertes und mit nicht unerheblichen Eingriffsrechten ausgestattetes überstaatliches Gebilde würde frei nach dem Motto "gemeinsam sind wir stark" eher in der Lage sein, in Krisenlagen und problematischen Situationen, die die kleineren und schwächeren Mitgliedstaaten auf sich allein gestellt schnell überfordern könnten, im Interesse der betroffenen und gefährdeten Menschen einen Ausgleich zu schaffen, der darauf beruht, daß die größeren und vor allen Dingen finanzstärkeren Mitgliedstaaten sich nicht nur solidarisch erklärten, sondern auch dementsprechende Zahlungen zu leisten bereit seien.

Doch genau umgekehrt wurde ein Schuh draus. Der sogenannte Einigungsprozeß entpuppte sich alsbald als ein Vereinnahmungsprozeß, durch den sich die stärksten Mitgliedstaaten, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, eine Position erwirtschaften konnten, in dem sie via Brüssel den Takt in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik vorzugeben imstande sind. Durch die Einführung des Euro wurden die finanzschwächeren EU-Staaten der Möglichkeit beraubt, durch eine Abwertung der eigenen Währung das wirtschaftspolitische Ausbluten wenn nicht vollständig abzuwehren, so doch deutlich einzuschränken. In vielen Staaten Südeuropas, nicht nur in Griechenland, sondern auch in Portugal, Spanien und Italien, hat der durch die Brüsseler Administration ausgegebene und via "Schuldenbremse" den Regierungen der Nationalstaaten aufgedrückte sogenannte Sparkurs die sozialen Verhältnisse, Notlagen und Mißstände so sehr auf die Spitze getrieben, daß die Bereitschaft der Bevölkerungen, diese Zumutungen und massiven Einschnitte an Löhnen wie sozialen Leistungen widerspruchs- und widerstandslos hinzunehmen, kaum noch vorhanden ist.

In Katalanien, einer autonomen Region Spaniens, haben am 11. September zwei Millionen Menschen für die Loslösung von Spanien demonstriert. Bei einer von der katalanischen Regionalregierung veröffentlichten Umfrage sollen sich über 50 Prozent der Befragten für die staatliche Unabhängigkeit und nur 21 Prozent dagegen ausgesprochen haben. Ein solches Resultat ist keineswegs durch einen plötzlich aufflammenden Nationalstolz zu erklären, sondern einzig und allein mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in ganz Spanien. Da die Katalanen mehr Steuern an Madrid abführen müssen, als sie vom Zentralstaat finanzielle Leistungen erhalten, scheint dies eine einfache Rechnung zu sein. Seitens der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wird jedoch deutlich gemacht, daß sie bereit wäre, ärmere Regionen Spaniens zu unterstützen, nicht jedoch das Königshaus. Gefordert wird ein Ausweg aus der Krise, bei dem die sozialen Kürzungen in Frage gestellt werden.

Spätestens an diesem Punkt wird der vornehmlich spanisch-katalanische Konflikt zu einem Schauplatz einer Auseinandersetzung, in dem es um die Durchsetzung einer Kürzungs- bzw. sozialen Umlastungspolitik von unten nach oben geht, für die in vielen Staaten Europas die deutsche Regierungschefin verantwortlich gemacht wird. In Andalusien, einer der industriell am wenigsten entwickelten Regionen Spaniens, ist die Not inzwischen schon so groß, daß es in vielen Arbeiterfamilien nicht mehr genug zu essen gibt. Viele Grundschüler bekommen nach Angaben eines Lehrers, einem Mitglied in der Andalusischen Arbeitergewerkschaft SAT (Sindicato Andaluz de Trabajadores) [1], nur noch eine Mahlzeit am Tag, nämlich die Schulspeisung. Die Arbeitslosigkeit ist hier noch um fünf bis sieben Prozentpunkte höher als in Spanien, das eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent aufweist. Und als ob dies alles nicht schon schlimm genug wäre, müssen auch hier wie in ganz Spanien auf Geheiß der EU die sozialen Ausgaben noch weiter gekürzt werden.

Hinzu kommt ein Abbau der Arbeiterrechte, der mit der systematisch betriebenen Verelendung Hand in Hand geht. Das Renteneintrittsalter wurde auf 67 Jahre erhöht, den Unternehmen wurde per Gesetz die Möglichkeit eingeräumt, Tarifvereinbarungen zu ignorieren, wenn sie "Verluste machen". Was aber ist mit den "Verlusten", die die Menschen betreffen? Arbeitslosengeld kann nur noch sechs statt bisher acht Monate lang bezogen werden. Aufgrund von Mehrwertsteuererhebungen, die zum Teil schon bei 21 Prozent liegen, sind viele Menschen nicht mehr in der Lage, ihre Mietkosten zu leisten, und da es keinerlei Schutz seitens der Regierung gibt, sind Zwangsräumungen gang und gäbe.

In den einzelnen Regionen wie auch in ganz Spanien mehren und radikalisieren sich die Proteste. So ruft die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft CGT für einen landesweiten Generalstreik gegen die Kürzungspolitik von Ministerpräsident Mariano Rajoy am 31. Oktober auf. Noch steht diese Gewerkschaft mit diesem Streikaufruf allein, doch die beiden größten Gewerkschaftsverbände des Landes, die Arbeiterkommissionen (CCOO) und die Arbeiterunion (UGT), schließen eine Teilnahme keineswegs aus. Am vergangenen Samstag haben sie zu einem "Marsch auf Madrid" aufgerufen, dem Zehntausende Menschen aus allen Landesteilen gefolgt sind, um sich, auf acht Demonstrationszügen verteilt, in Madrid zu vereinen und gegen die Sparpolitik des konservativen Ministerpräsidenten, die allerdings schon unter seinem sozialdemokratischen Amtsvorgänger Zapatero ihren Anfang genommen hatte, zu protestieren. Etwa 900 Gewerkschaften, soziale Organisationen und Basisgruppen haben sich zusammengeschlossen. Sie werfen Rajoy einen "gnadenlosen Demokratiebetrug" vor, war doch der gegenwärtige Ministerpräsident aufgrund seiner Versprechen, weder die Steuern zu erhöhen, Kürzungen am Bildungs- oder Gesundheitssystem vorzunehmen, den Kündigungsschutz einzuschränken und den Sozialstaat abzubauen, gewählt worden. Da nicht eines diese Versprechen ungebrochen geblieben ist, kann die gegenwärtige Regierung eine effiziente Befriedungspolitik durch eine Neuauflage dieser oder ähnlich lautender Versprechen schwerlich bewerkstelligen.

Die großen Gewerkschaftsverbände CCOO und UGT stehen allerdings bei nicht wenigen oppositionellen Kräften des Landes in dem Ruf, sozialdemokratisch orientiert zu sein und im Falles eines abermaligen Regierungswechsels den Protest durch ihre Kooperationsbereitschaft gegenüber der Regierung zu schwächen. Die Radikalisierung der Protestbewegung, so inhomogen sie auch immer sein mag, scheint dadurch jedoch nicht aufgehalten werden zu können, und so dürfte auch die Bereitschaft von CCOO und UGT, den Generalstreik am 31. Oktober unter Umständen mitzutragen, dem taktischen Kalkül geschuldet sein, andernfalls die Akzeptanz ihrer Mitglieder zu verlieren.

Viele Gewerkschafter denken ohnehin nicht mehr in den nationalstaatlichen Grenzen. Längst wird ein gemeinsamer Generalstreik der südeuropäischen Staaten diskutiert, im Gespräch ist jedoch auch schon ein EU-weit organisierter Streik. Eine kämpferische Linke, die dies zu tragen und durchzusetzen imstande wäre, könnte als ein erster Schritt einer Entwicklung, die den Namen "europäische Einigung" tatsächlich verdiente, bewertet werden, und zwar umso eher, je deutlicher es ihr gelänge, der herrschenden Praxis, Menschen verschiedener Klassen und Staaten gegeneinander auszuspielen, entgegenzutreten.

Fußnote:

[1] "Das einzige richtige Essen der Kinder ist die Schulspeisung", Interview mit Miguel Sanz Alcántara, von Wolfgang Pomrehn, junge Welt, 17.09.2012, S. 8


17. September 2012