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DILJA/032: Nelkenrevolution 2.0? Portugals Regierung rudert nach Massenprotesten zurück (SB)


Die "Troika" stößt in Portugal mit ihrem Spardiktat auf massiven Widerstand



Am 24. November 2010 wurde durch den ersten, von den portugiesischen Gewerkschaften gemeinsam organisierten Generalstreik seit über zwanzig Jahren das öffentliche Leben weitgehend lahmgelegt. Die Häfen blieben geschlossen, zahlreiche Flüge mußten gestrichen werden, der Bus- und Bahnverkehr kam teilweise zum Erliegen. Die landesweite Arbeitsniederlegung richtete sich gegen den harten "Sparkurs" der damaligen Regierung von Ministerpräsident José Sócrates von der Sozialistischen Partei (PS), der sich in Folge anhaltender Proteste im März 2011 nach einer Abstimmungsniederlage seiner Minderheitsregierung über ein umfangreiches Sparpaket zum Rücktritt veranlaßt sah, glaubte er doch offensichtlich, den ihm bzw. seinem Land aufgezwungenen Kürzungskurs der europäischen bzw. internationalen Kreditgeber erfüllen zu müssen ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und vor allem auch sozialen Folgen einer solchen Politik. Sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, Pedro Passos Coelho von der sozialdemokratischen Partei (PSD), der mit der rechtskonservativen Volkspartei (CDS-PP) eine Mitte-Rechts-Koalition eingegangen war, setzte mit Unterstützung der nun oppositionellen Sozialisten den Sozial- und Lohnabbau, genannt Sparkurs, durch und kündigte an, daß das Land angesichts der ernsten Lage "viele Opfer" würde bringen müssen.

Die damit von Regierung und (parlamentarischer) Opposition zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft, gegen die Interessen des eigenen Volkes die Brüsseler Vorgaben befolgen zu wollen, wurden von der inzwischen vor allem in den südeuropäischen Staaten zum Schrecken avancierten Troika aus Europäischer Union (EU), Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) belohnt, Portugal erhielt 2011 Finanzzusagen in Höhe von 78 Milliarden Euro. Die Auszahlung erfolgt nach bekanntem Muster, sprich in kleinen Schritten, um die Durchsetzung der damit erzwungenen Maßnahmen kontrollieren zu können. Im März dieses Jahres kam es abermals im ganzen Land zu einem vom Gewerkschaftsverband CGTP organisierten Generalstreik gegen die Bereitschaft der Regierung, sich dem Diktat der Troika zu beugen, was bereits dazu geführt hatte, die Wirtschaft des Landes massiv zu schwächen, wodurch die Arbeitslosigkeit auf über 14 Prozent angestiegen war.

Proteste und Massendemonstrationen bestimmen seitdem das politische Leben Portugals. Vor zwei Wochen, am 15. und 16. September, erreichten sie eine seit dem Sturz der Diktatur im Jahre 1974 nie erreichte Stärke. Hunderttausende Menschen brachten ihren Unmut und ihre Wut auf die Straßen, der Rücktritt der Regierung Coelho wurde ebenso gefordert wie der Troika beschieden wurde, sie möge sich doch "zum Teufel" scheren. Den letzten Anstoß für diese abermalige Ausweitung der langanhaltenden Proteste hatte der Ministerpräsident am 7. September mit seiner Ankündigung geboten, gegen sämtliche Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wie auch des privaten Sektors eine faktische Lohnkürzung durchzusetzen durch eine Anhebung ihrer Sozialversicherungsbeiträge von elf auf 18 Prozent bei gleichzeitiger Begünstigung der Unternehmen, deren Anteil von 23,75 auf 18 Prozent gesenkt werden sollte.

Dazu erklärte Armenio Carlos, Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes CDTP, das sei ein "brutaler Angriff" auf die Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen und kündigte für den 29. September einen "nationalen Protesttag" gegen die Kürzungspläne an, dies solle ein Kampftag gegen den "Raub der Löhne und Renten" werden. Doch schon vorab wurden mit dem Öl- und Gaskonzern Galp sowie den Häfen des Landes zwei sensible Wirtschaftsbereiche bestreikt. Der Streik der Lotsen beeinträchtigte bereits das Tourismusgeschäft, was der portugiesische Reisebüroverband als eine Unverantwortlichkeit bezeichnete, von den streikenden Lotsen jedoch ungerührt zurückgewiesen wurde mit der Begründung, daß die umfangreichen Kürzungen und verschlechterten Arbeitsbedingungen die Sicherheit auch der Kreuzfahrtschiffe beeinträchtigten. Ministerpräsident Coelho hat das ihm anfänglich zugebilligte Versprechen, mit wenn auch harten Maßnahmen das Land in wirtschaftlich bessere Zeiten zu manövrieren, in den knapp einhalb Jahren seiner Regierungszeit selbstverständlich nicht einlösen können, und so ist der ihm in Teilen der Bevölkerung zugebilligte Vertrauensvorschuß wie Schnee in der Sonne geschmolzen.

Faktisch scheint auch Coelho bis vor kurzem geglaubt zu haben, gegenüber dem Kürzungsdiktat der Troika keine Wahl zu haben, will er nicht die Zahlungsunfähigkeit des Landes riskieren. Mehr und mehr wird allerdings deutlich, daß die Proteste der portugiesischen Bevölkerung eine Qualität erreicht haben, die es für die Regierung unverzichtbar machen, von der Durchsetzung des Spardiktats um des eigenen Machterhalts willen abzusehen. So haben nicht wenige Veteranen der Nelkenrevolution von 1974, als linksgerichtete Militärs durch eine weitgehend unblutig verlaufene Revolution eine über vierzigjährige Diktatur in nur 17 Stunden und 25 Minuten beendeten, davor gewarnt, daß eine Situation entstehen könnte, in der das Militär zum Schutz der Bevölkerung vor der eigenen Regierung abermals putschen könnte. Die Demonstrationen und Kundgebungen der vergangenen Wochen haben mit hunderttausenden Teilnehmern ein Ausmaß erreicht, wie es das Land seit jenen Tagen nicht mehr erlebt hatte, und so sind die jüngsten Erklärungen Coelhos, auf die Durchsetzung der angekündigten Kürzungsbeschlüsse unter Umständen zu verzichten, mit Vorsicht zu genießen.

Angesichts der massiven Proteste hatte Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva am Samstag mit dem Staatsrat ein Konsulationsgremium, bestehend aus früheren Staatschefs und Unternehmervertretern, einberufen, das nach achtstündiger Sitzung ein Kommuniqué herausgab, in dem erklärt wurde, die Regierung würde nun "Alternativen untersuchen". Ministerpräsident Coelho versicherte, wohl um größeren Schaden von sich bzw. seiner Regierung abzuwenden, diese sei "weder blind noch taub". Tausende Demonstranten hatten ihn, dem bereits der Schmähname "Robin Hood der Reichen" verliehen wurde, und seinen Finanzminister vor dem Präsidentenpalast, in dem der Staatsrat tagte, mit Rufen wie "Gauner" und "Diebe" empfangen und abermals den Rücktritt der Regierung gefordert.

Coelho erklärte im Verlauf des Abends, die angekündigte Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, die das Faß zum Überlaufen gebracht hatte, nun doch (vorerst?) nicht durchführen zu wollen. Gleichwohl wurde verlautbart, daß die gegenüber den internationalen Geldgebern eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden sollten - nur eben, so der Ratschlag des Beratergremiums, in einer Weise, in der der "gesellschaftliche Zusammemhalt" erhalten werden sollte, weshalb nun Gespräche zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften geführt werden. Der politische und soziale Dialog sei, so hieß es in dem Kommuniqué desweiteren, von entscheidender Bedeutung. Unterm Strich gesehen ist die Absicht der Regierung in Lissabon unverkennbar, der Protestbewegung durch vage Zusagen und Versprechen den Wind aus den Segeln zu nehmen, um zunächst einmal Zeit zu schinden, zumal mit dem für den 29. September angekündigten nationalen Protesttag ein weiteres Großereignis, bei dem seitens der aufbegehrenden Bevölkerung die Machtfrage gestellt werden könnte, unmittelbar bevorsteht. Solange die Regierung Coelho nicht gegenüber der Troika klipp und klar die Gefolgschaft zu deren "Spar"-Kurs aufkündigt, bleiben ihre Zusagen und Erklärungen taktische Manöver in einer für sie politisch unlösbaren Lage.

24. September 2012