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DILJA/034: EU sattelt den Bürger - das Zaumzeug einer Kampagne (SB)


Aufspüren, identifizieren, neutralisieren

Vom schwierigen Umgang der Europäischen Union mit Kritik



"Europa?" Wer diese Frage nicht spontan mit einem überzeugenden "Find' ich gut!" beantwortet oder nach einer Differenzierung verlangt und wissen möchte, ob ein Bekenntnis zur Europäischen Union, zum geographischen Kontinent oder den auf ihm lebenden Völkern abgefragt werden soll, läuft Gefahr, als Euroskeptiker bezeichnet zu werden. Im Umgang mit Kritikern und Andersdenkenden könnte die Europäische Union als Entwicklungsland bezeichnet werden, offenbart sie doch in ihren Bestrebungen, allen nur denkbaren Ansätzen einer Infragestellung ihrer selbst das Wasser abzugraben, erhebliche Demokratiedefizite. Gründe und Anlässe für eine kritische Überprüfung, gemessen an den eigenen Ansprüchen der EU, gäbe es genug, klafft doch zwischen den offiziellen Verlautbarungen bekennender Europäer - so die Eigenbezeichnung des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in seiner medial als "groß" bezeichneten und dementsprechend aufbereiteten Europa-Rede vom 22. Februar 2013 - und der tatsächlichen Unionspolitik ein Widerspruch, wie er grundsätzlicher kaum sein könnte.

Begriffe wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie, Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität führte Gauck nicht nur im Munde, er erklärte sie zur "identitätsstiftenden Quelle", nachdem er zuvor in seiner Rede festgestellt hatte, daß es in Europa weder eine große identitätsstiftende Erzählung noch eine gemeinsame Geschichte und ebensowenig einen auf einer Entscheidungsschlacht oder einer erfolgreichen Revolution basierenden Gründungsmythos gäbe. Da es Gauck zufolge an der europäischen Identität ebenso mangele wie an einem europäischen Staatsvolk oder einer solchen Nation, bot er, wie zum Ersatz all dessen, was ein Staatsgebilde eigentlich ausmacht, die bereits genannten Werte an:

Aber dennoch hat Europa eine identitätsstiftende Quelle - einen im Wesen zeitlosen Wertekanon, der uns auf doppelte Weise verbindet, als Bekenntnis und als Programm. Wir versammeln uns im Namen Europas nicht um Monumente, die den Ruhm der einen aus der Niederlage der anderen ableiten. Wir versammeln uns für etwas - für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, für Menschenrechte, für Solidarität. [1]

Dem Bundespräsidenten zufolge versammeln "wir" uns unter anderem für Demokratie. Unter einer demokratischen Kultur wird nicht zuletzt der Umgang mit Andersdenkenden verstanden, frei nach dem in späteren Jahren gern auch von Nicht-Kommunisten zitierten Ausspruch Rosa Luxemburgs, Freiheit sei immer die Freiheit Andersdenkender. Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth beispielsweise nahm in einem Essay Bezug auf den Respekt vor Andersdenkenden:

Die Arbeit der Parlamente, insbesondere die des Deutschen Bundestags, steht seit mehr als 20 Jahren in einer Art Dauerkritik - unterbrochen lediglich anlässlich von Debatten und Entscheidungen zu existenziellen Norm- und Wertfragen, in denen mit großer Ernsthaftigkeit die Suche nach Lösungsansätzen und Respekt vor dem Andersdenkenden zur Geltung kommen. [2]

Gauck allerdings stellte in seiner Europa-Rede klar, daß es sich bei diesen Werten, die seiner Definition nach "europäische" sind, was aus Sicht außereuropäischer Völker und Kulturen zu Recht als Anmaßung empfunden werden könnte, um Versprechen handelt, die aber auch "niedergelegt in Verträgen und garantiert in Gesetzen" [1] seien. Ein Versprechen ist seiner Natur und Sprachlogik nach keineswegs etwas, das garantiert, sondern bestenfalls, wie das entsprechende Verb besagt, das laut Duden zusichern bzw. hoffen oder erwarten lassen bedeutet, in Aussicht gestellt werden kann. Warum aber muß, wenn Solidarität, Gleichheit, Frieden und Freiheit und was der schönen Dinge mehr sind, in den Staaten der Europäischen Union tatsächlich, so wie der Anschein zu erwecken versucht wird, selbstverständliche Realität wären, in dieser Hinsicht so dick aufgetragen werden?

Es mehren sich Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Verantwortlichen in der Europäischen Union in großer Sorge sind über deren in vielen Mitgliedstaaten schwindende Akzeptanz. Angesichts des katastrophalen Desasters, in das viele, vornehmlich südliche EU-Staaten bereits manövriert wurden im Zuge einer die Wirtschaftskrise und ihre sozialen Auswirkungen unentrinnbar noch verstärkenden Verschuldungspolitik, wäre die massiv anwachsende Ablehnung der Union als einem Teil der dafür verantwortlich zu machenden Troika nicht verwunderlich. Der schwindenden Akzeptanz der EU widmete sich auch Gauck in seiner Rede:

So anziehend Europa auch ist - zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurück. Ich weiß es, ich höre es, ich lese es fast täglich: Es gibt Klärungsbedarf in Europa. Angesichts der Zeichen von Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern, angesichts der Umfragen, die mir eine Bevölkerung zeigen, die unsicher ist, ob unser Weg zu "mehr" Europa richtig ist, scheint es mir, als stünden wir vor einer neuen Schwelle - unsicher, ob wir wirklich entschlossen weitergehen sollten. Die Krise hat mehr als nur eine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europa. Wir ringen nicht nur um unsere Währung. Wir ringen auch mit uns selbst. [1]

Von einer "Krise des Vertrauens" zu sprechen, könnte eine womöglich im Zuge einer Kampagne, die sich gegen das wachsende Mißtrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU-Institutionen wendet, gezielt eingesetzte Untertreibung sein. Eine systematisch angelegte Beeinflussung und Steuerung der (euro)politischen Auffassungen, Befindlichkeiten und Empfindungen der Bevölkerungen der EU-Staaten seitens der Brüsseler Administration zu vermuten, entbehrt keineswegs jeglicher Grundlage. Wie die britische konservative Tageszeitung "Daily Telegraph" Anfang des Monats unter Bezugnahme auf vertrauliche Dokumente, die ihr zugespielt worden seien, berichtete, sei in Brüssel schon seit Juni vergangenen Jahres ein noch nie zuvor dagewesener propagandistischer Blitzkrieg ("propaganda blitz", so die Originalformulierung des Daily Telegraph) vor und während der Europawahlen im Juni 2014 beschlossen worden. [3]

Der Zeitung zufolge sollen mit Hilfe medialer Instrumente zur Beobachtung und Überwachung der öffentlichen Meinung, sprich veröffentlichter Auffassungen, bereits in einem frühen Stadium in Blogs und sozialen Netzwerken politische Debatten identifiziert werden, die das Potential (!) hätten, das Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Medien zu erwecken. Den als vertraulich klassifizierten Dokumenten des EU-Parlaments zufolge soll, wie der Daily Telegraph berichtete, eine dementsprechende "qualitative" Medienanalyse mit 1,7 Millionen Pfund finanziert werden. Offizielle Kommunikatoren des EU-Parlaments sollen in die Lage versetzt werden, den Bevölkerungen der Mitgliedsländer via elektronischer Medien den politischen Puls zu fühlen; sie sollen erkennen und unterscheiden können, wann, wo und inwiefern Diskussionen geführt, Meinungen ausgetauscht oder auch nur Stimmungen verbreitet werden, die als EU-kritisch oder -skeptisch klassifiziert werden könnten.

Damit nicht genug. Die Planungen für diesen "propaganda blitz" beinhalten nicht nur eine flächendeckende Überwachung, Kontrolle und Ausfilterung jeglicher gegenüber der EU irgendwie negativen Trends, sondern laufen ebenso darauf hinaus, die für eine zeitnahe, zielgerichtete und effektive Reaktion erforderlichen Kapazitäten zu entwickeln. Die EU-Kommunikatoren sollen in Blogs, Diskussionsforen und soziale Netze hineinwirken, sich an ihnen beteiligen und Einfluß auf die fraglichen Diskussionen nehmen, indem sie Fakten zur Zerstörung der "Mythen" präsentieren. [3]

Mit einer offenen und auf dem Respekt gegenüber Andersdenkenden, wie ihn Rita Süssmuth noch beschworen hat, beruhenden Kontroverse hat dies nicht viel zu tun. Würden die Offiziellen in EU-Parlament und -Kommission tatsächlich den kritischen Dialog suchen und führen wollen, hätten sie alle dafür erforderlichen medialen Mittel in der Hand. Den vom Daily Telegraph veröffentlichten Planungen zufolge soll eine besondere Aufmerksamkeit den Mitgliedsstaaten gewidmet werden, in denen es bereits zu einem Ansturm euroskeptischer bzw. -kritischer Positionen gekommen ist. In den vertraulichen EU-Dokumenten vom Juni 2012 sei ein scharfer Kontrast festgestellt und betont worden zwischen den Versprechen der EU, Freiheit, Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sowie einen prosperierenden Binnenmarkt zu garantieren und dem Europa, wie es die Menschen, die ihren Wohlstand zunehmend gefährdet sehen und in wachsender Unsicherheit und finanzieller Instabilität leben, wahrnehmen.

Die aktuelle wirtschaftliche wie finananzielle Krise habe, den Papieren zufolge, in Verbindung mit einer hohen Arbeitslosigkeit insbesondere unter jungen Menschen zu einem Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die EU-Institutionen geführt, worunter das Image der EU leiden würde. Im Kern zielt die von der Brüsseler Administration allem Anschein nach schon im vergangenen Jahr losgetretene Medien- oder vielmehr Kommunikationskampagne auf den gezielten Versuch ab, jede Fundamentalkritik an der EU in ihr Gegenteil zu verkehren. Wo und in welcher Form auch immer die Auffassung vertreten werde, die EU sei Teil des Problems und nicht der Lösung, gelte es, massiv Einfuß zu nehmen, um die umgekehrte und in Brüssel erwünschte Meinung herzustellen.

Orwellsche Visionen werden damit Realität. Brüssel gibt ein "Richtig- und Falsch-Denken" vor. Richtig wäre, mehr Europa und nicht weniger zu fordern. Falsch wäre jede Aussage, Stellungnahme oder Kritik, die davon ausgeht oder in Erwägung zieht, in Europa bzw. der Europäischen Union das Problem zu sehen. Euroskeptiker oder -kritiker haben in den meisten EU-Staaten ohnehin einen recht schweren Stand, gelten sie doch als rechts, konservativ, reaktionär, rückschrittlich, nationalistisch oder noch Schlimmeres. Kritik an den nun via Daily Telegraph lancierten Überwachungsplänen des EU-Parlaments in Internet und sozialen Netzwerken kam denn auch beispielsweise von der britischen, als liberal-konservativ geltenden United Kingdom Independence Party (UKIP) des ehemaligen Tories Michael Farage, der 1992 aus Protest gegen die Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages durch Premierminister John Major aus der Konservativen Partei ausgetreten war.

Die von ihm 1993 gegründete UKIP strebt den Austritt Britanniens aus der EU an, wofür die Chancen, zumal auch der jetzige Premier David Cameron angekündigt hat, bis spätestens 2017 ein Referendum über den Austritt durchführen zu wollen, gar nicht einmal so schlecht stehen. Michael Farage sieht seine bzw. andere nicht-etablierten Parteien als eigentliche Ziele der nach den jüngsten Enthüllungen des Daily Telegraph offenbar bevorstehenden progagandistischen Großoffensive aus Brüssel. Politiker seines Schlages werden gern zur Diffamierung kritischer Positionen instrumentalisiert. In einem Interview mit dem Schweizer "Blick" antwortete Farage auf die Frage, ob er Europa zerstören wolle:

Völlig falsch. Ich liebe Europa, ihre kulturelle und sprachliche Vielfalt. Es ist für mich aber grauenhaft, homogenisiert, harmonisiert und sogar pasteurisiert zu werden - allein für eine europäische Identität. [4]

Farage und die britische Unabhängigkeitspartei werden sich nicht unbedingt als eine für alle eurokritischen und von der EU enttäuschten Wählerinnen und Wähler akzeptable Alternative oder ein Sammelbecken der Nein-Sager anbieten können, da die Partei in aller Offenheit eine Renaissance des Britischen Commonwealth propagiert. Da das Feld der Fundamentalkritik an der EU von mehr oder minder stramm rechten Parteien und Organisationen dominiert zu werden scheint, ist es in den Parteien der politischen Mitte, die sich ohnehin zutiefst verwoben sehen mit dem EU-Projekt, wie auch im linken Spektrum bislang auffallend still geblieben. Möglicherweise tragen die jüngsten Enthüllungen dazu bei, in den Mitgliedsstaaten der Union einen Klärungs- und Diskussionsprozeß voranzutreiben, in dem nicht davor zurückgeschreckt wird, Fragen nach dem Sinn und Unsinn sowie Nutzen und Schaden dieser Mitgliedschaft ergebnisoffen zu stellen.

Völlig unabhängig von den eigenen (euro)politischen Auffassungen und Positionen könnten die folgenden Sätze des deutschen Sozialdemokraten und derzeitigem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, allen an diesen Fragen interessierten Bürgern zu denken geben. Anfang des Monats erklärte der als scharfzüngig geltende Politiker, dessen internationale Popularität 2003 sprunghaft angestiegen war, als er sich mit Italiens damaligem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi in einem Rededuell anlegte, gegenüber der Deutschen Welle, wie es seiner Meinung nach in der Europa-Politik weitergehen sollte:

Wir müssen es gemeinsam als Europäer, die für diese Union streiten, schaffen, die Leute davon zu überzeugen, dass wir selbst reformfähig sind, dass wir selbstkritisch sind und die EU nicht bejubeln um ihrer selbst willen, sondern ihre Defizite sehen. Gleichzeitig müssen wir ein Angebot machen: a) Wie können wir Defizite beseitigen? und b) Wozu ist die EU eigentlich nutze? Was bringt sie an Mehrwert, mehr an Jobs, mehr an sozialer Sicherheit, mehr Umweltschutz, mehr Bildung, mehr Wettbewerbsfähigkeit? Wenn wir das nicht schaffen, dann kriegen die Euro-Skeptiker richtig Aufwind. Ich bin aber nach wie vor der Überzeugung, mit einem gerüttelt Maß an Selbstkritik und einem gerüttelt Maß an Selbstbewusstsein, dass Europa eigentlich das richtige Projekt im 21. Jahrhundert ist. In dem Jahrhundert der globalen Entwicklung ist der Rückzug in den heimischen Vorgarten genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Wenn wir den Leuten das erklären können und sie dafür gewinnen können, dann kriegen die Euro-Skeptiker eins auf den Deckel. [5]

Unmißverständlich ist die darin enthaltene Botschaft: Wer nicht bereit ist, sich überzeugen zu lassen - nicht unbedingt von der Fehlerlosigkeit der Europäischen Union, wohl aber von ihrer prinzipiellen Reformierbarkeit sowie ihrer Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik -, wird sie von ihrer ungemütlichen Seite her kennenlernen. Und so liefert mit Martin Schulz ausgerechnet der Präsident des Europäischen Parlaments einen weiteren Anhaltspunkt für euroskeptische und -kritische Positionen, die die Brüsseler Eliten allem Anschein nach so liebend gern aus der Welt geschafft sehen möchten. Wer könnte da denjenigen einen Narren schelten, der ob Gaucks Europa-Rede argwöhnt, sie könne bereits Bestandteil einer gegen das schwindende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU-Institutionen gerichteten Kampagne sein, so er doch genau die "europäische Identität" über einen Werte-Kanon zu definieren trachtet, an der es seiner Einschätzung nach so mangelt?



Anmerkungen:

[1] Rede zu Perspektiven der europäischen Idee. "Europa: Vertrauen erneuern - Verbindlichkeit stärken". Von Bundespräsident Joachim Gauck, Schloss Bellevue, 22. Februar 2013
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/02/130222-Europa.html

[2] Demokratie: Mangelt es an Offenheit und Bürgerbeteiligung? Essay von Rita Süssmuth. Das Parlament Nr. 44 / 31.10.2011, Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte, Thema: Demokratie und Beteiligung
http://www.das-parlament.de/2011/44-45/Beilage/001.html

[3] EU to set up euro-election 'troll patrol' to tackle Eurosceptic surge. Von Bruno Waterfield. Daily Telegraph, 03.02.2013
http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/eu/9845442/EU-to-set-up-euro-election-troll-patrol-to-tackle-Eurosceptic-surge.html

[4] "Für die EU bin ich eine biblische Plage". Britischer Europa-Gegner Nigel Farage. Interview von Peter Hossli, Der Blick, 03.02.2013
http://www.blick.ch/news/ausland/fuer-die-eu-bin-ich-eine-biblische-plage-id2191526.html

[5] "Euroskeptiker kriegen eins auf den Deckel". Interview der Deutschen Welle (DW) mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz. Von Bernd Riegert, 07.02.2013.
http://www.dw.de/euroskeptiker-kriegen-eins-auf-den-deckel/a-16569046

28. Februar 2013