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LAIRE/069: Feindliche Übernahme - Island will "freiwillig" in die EU (SB)


Island unter massivem Druck - Antrag auf EU-Beitritt beschlossen

Die Europäische Union will ihre Reihen schließen und mit Blick auf die polaren Ressourcen eine geostrategische Vorteilsposition erlangen


Es gibt vermutlich keine elegantere Lösung für einen auf Expansion gebuchten Staatenbund, als wenn neue Mitglieder freiwillig einen Antrag auf Beitritt stellen. Das erleichtert die Erweiterung und verhilft ihm zu einer komfortablen Position. Der Begriff "freiwillig" verdient allerdings im Falle der Europäischen Union und die Art, wie ihr regelmäßig neue Mitglieder zufallen, eine genauere Betrachtung. So ging der portionsweisen Aufnahme bzw. den aktuellen Beitrittsverhandlungen der einzelnen ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken die Zerschlagung der Bundesrepublik Jugoslawien durch EU-Mitglieder wie Deutschland voraus. Wohingegen Islands aktuelles Beitrittsgesuch nicht kausal auf Druck der Europäischen Union, wohl aber aufgrund einer in dem auch von der EU betriebenen Wirtschaftssystem systemisch angelegten Finanzmarktkrise zustandekam.

Diese Woche Donnerstag hat das isländische Parlament Althing dem Vorschlag der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurdardóttir (SDA) für ein EU-Beitrittsgesuch mit knapper Mehrheit zugestimmt. 33 der 63 Abgeordneten befürworteten den Schritt, 28 lehnten ihn ab. Die Durchführung einer Volksabstimmung über das Beitrittsgesuch, wie von der Opposition gefordert, lehnte die Ministerpräsidentin ab. Dies war einer der vielen höchst umstrittenen Punkte, die in den letzten Tagen im Parlament diskutiert wurden. Das Volk soll in dem weltweiten Vorbildstaat Nummer 1 - ab November 2007 lag Island vor Norwegen auf Platz 1 des Human Development Index - erst nach Abschluß der Beitrittsverhandlungen, womit frühestens 2012 zu rechnen ist, gefragt werden, ob der Staat Mitglied der Europäischen Union werden soll. Bis dahin hat sich Island noch weiter als heute, wo bereits fast 70 Prozent der EU-Gesetze in eigenstaatliches Recht übernommen wurden, auf die Europäische Union zubewegt.

Sigurdardóttir bezeichnete den Parlamentsbeschluß als die sicherlich größte Entscheidung für das Althing seit Gründung der Republik Island. Die Entscheidung, an entscheidender Stelle das Volk nicht mitentscheiden zu lassen, wo es doch in der Vergangenheit über viel unwesentlichere Dinge befragt wurde, hat zwei Gründe: Zum einen möchte die EU angesichts der bevorstehenden Abstimmung des irischen Volks über den Lissabon-Vertrag verhindern, daß die Stimmung durch eine mögliche Ablehnung der Isländer auf das irische Wahlergebnis durchschlägt.

Zum anderen möchte natürlich auch die Ministerpräsidentin selbst nicht, daß das von ihr vorangetriebene Projekt namens EU-Beitritt bereits an einer frühen Stelle scheitert, noch bevor es überhaupt begonnen wurde. Das denkbar knappe Abstimmungsergebnis im Althing dürfte noch eine geschönte Sicht wiedergeben. Die Chancen, daß der EU-Beitrittsantrag bei einer Volksbefragung abgelehnt würde, hätten nicht schlecht ausgesehen. Zumal die schwere Wirtschaftskrise, die am 6. Oktober 2008 zu einer Verstaatlichung der drei größeren, im Spekulationsgeschäft aufgeflogenen Banken auf der rund 350.000 Einwohner zählenden Insel geführt hat, auch auf andere Weise gelöst werden könnte als durch die Heilsuche in den Armen der Europäischen Union.

Würde Island die Verstaatlichung vorantreiben - welch schauderhafte Vorstellung für alle Marktapologeten! -, riefe es zwar massive Gegenkräfte aus der EU, den USA und anderen westlichen Staaten auf den Plan, schüfe sich aber vermutlich auch neue Verbündete. Um einen auf den ersten Blick völlig absurd anmutenden Vergleich zu ziehen: Kuba hat jahrzehntelang in engster Nachbarschaft zu seinem erklärten Feind, den USA, überlebt. Bei einer weiteren Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftszweige hätten Island wirtschaftliche Einbußen bis hin zu Sanktionen gedroht - aber wäre diese Zukunft so viel unsicherer als eine, in der es Mitglied der Europäischen Union ist und massive Einbußen, wenn nicht gar langfristig den Totalverlust seiner staatlichen Souveränität hinnehmen müßte?

Ein Großteil der Gesetze, die der Deutsche Bundestag verabschiedet, stellt eine Reaktion auf Vorgaben der Europäischen Union dar. Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, dann postieren sich führende deutsche Regierungsmitglieder an die Spitze von Demonstrationen gegen EU-Entscheidungen, so als ob sie nicht selbst daran mitgewirkt hätten, daß die Union eine solche Fülle an Entscheidungsbefugnissen übertragen bekommt. Die Isländer fürchten nicht nur konkret, sich der Kuratel Brüssels hinsichtlich des Walfangverbots und der Fischereirechte unterwerfen zu müssen, sondern generell, daß der Geltungsbereich der EU-Gesetze in alle Lebensbereiche vordringt.

Nach Beginn der Finanzkrise im vergangenen Jahr verlor die Isländische Krone als Landeswährung massiv an Wert. Der Staat übernahm die größten Bankhäuser, konnte jedoch deren Schuldendienst nicht begleichen und ist faktisch bankrott. Das war die Stunde des Internationalen Währungsfonds (IWF), jener von der EU und dem übrigen Westen dominierten globalen Finanzinstitution, die in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hatte. Sie bewilligte dem Inselstaat zehn Milliarden Dollar Hilfe. Der IWF hat Island gedrängt, die Zinsen auf ein Rekordhoch anzuheben, was die Wirtschaft unter starken Druck gesetzt hat und die Arbeitslosigkeit ansteigen ließ. Gegenüber der "Financial Times Deutschland" (27.1.2009), sagte Politikprofessor Gunnar Helgi Kristinsson: "Die jüngsten Entwicklungen bedeuten, dass das Land gegenwärtig keine Regierung hat. Und niemand kann mit Gewissheit sagen, was als nächstes passiert."

Wirtschaftspolitik hat viel mit Abwägen zu tun. In diesem Fall stand die Entscheidung an, ob auf Geheiß des IWF versucht werden sollte, die Währung zu stabilisieren, womit die Wirtschaft unter Druck gesetzt und die Arbeitslosigkeit erhöht würde, oder ob versucht werden sollte, Firmen zu retten und soziale Standards zu halten, aber die Staatsverschuldung zu erhöhen. Daß sich die isländische Regierung nach den Vorstellungen des IWF gerichtet und für eine Erhöhung des Drucks auf die Bevölkerung entschieden hat, deckt sich nicht zufällig damit, daß der IWF von der EU und den USA dominiert wird (beide zusammen besitzen eine Sperrminorität für Entscheidungen) und daß die EU ein Interesse daran hat, Island in ihre Reihen aufzunehmen. Auch die USA sind einem starken (wenn auch nicht dominierenden) Europa interessiert, um sich den künftigen Herausforderungen insbesondere durch die BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China) zu stellen.

Ein Beitritt Islands brächte der Europäischen Union enorme geostrategische Vorteile im "Zukunftsraum" Arktis. In einer Zeit der Erderwärmung werden die hohen Breiten zu neuen Brennpunkten geostrategischer Verteilungskämpfe. Alle Arktisanrainerstaaten haben in den letzten Jahren ihre territorialen Ansprüche markiert. Kanada, die USA und Rußland bauen ihre militärische Präsenz in der Arktis deutlich aus. Dänemark, das über Grönland einen Anteil an der Nutzung der Arktis reklamiert, sucht die Nähe zu seinen EU-Partnern, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die EU wiederum hat im vergangenen November eine Arktis-Strategie vorgestellt, in der sie Ansprüche auf die künftige Ressourcennutzung in dieser Region erhebt.

Abgesehen vom Fischreichtum des Nordpolarmeeres sind in der Arktis größere Mengen Erdgas, Erdöl, Gold und andere Rohstoffe zu erwarten. Island selbst zählt nicht zu den Anrainerstaaten, es besitzt aber eine bedeutende geostrategischen Lage im Nordatlantik und stellt eine Brücke zwischen Grönland und West- bzw. Nordeuropa dar. Mit Island in den eigenen Reihen besäße die EU bei späteren Verhandlungen über die Nutzung der Arktis mehr Gewicht.

Daß die USA am 30. September 2006 ihren Militärstützpunkt auf Island endgültig abgebaut haben und nun die EU Fuß auf der Insel fassen könnte, sollte nicht als Konflikt zwischen den beiden westlichen Mächten interpretiert werden. Die EU ist ein Kind der US-Eliten, mit ihr haben sie ein festes Standbein auf dem eurasischen Kontinent. Hin und wieder kommt es zwar zu Differenzen innerhalb des transatlantischen Bündnisses, aber dessen Bestand dürfte für beide Seiten eine Überlebensfrage hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Führungsstärke sein.

Island würde nach heutigem Stand 12,7 Milliarden Euro Schulden mit in die EU hineinnehmen. Das ist keine Last, die von Brüssel nicht gestemmt werden könnte. Zur jüngsten Rettung der Banken und Wirtschaftskonzerne haben sogar einzelne EU-Mitglieder ein Mehrfaches dieses Betrags aufgebracht. Island wäre für die Gemeinschaft ein Schnäppchen, dessen geostrategische Bedeutung in der allgemeinen Berichterstattung über Wirtschafts- und Währungsfragen vernachlässigt wird.

Offiziell endete der Ost-West-Konflikt mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991. Doch es kommt zu neuen Konstellationen, es bilden sich neue Blöcke, die miteinander konkurrieren und einzelnen Staaten wenig Platz lassen, ihre Souveränität zu wahren. Auch in Norwegen und der Schweiz hat der Einfluß der EU-Befürworter in den letzten Jahren zugenommen, was man in Brüssel mit Wohlwollen beobachtet. Jedenfalls begrüßten EU- Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn die "freiwillige" Entscheidung des isländischen Parlaments, einen Antrag auf EU-Beitritt zu stellen. Beim nächsten EU-Außenministerrat am 27. Juli will der isländische Außenminister Ässur Skraphédinsson das Gesuch einreichen. Man wird es gönnerhaft entgegennehmen.

18. Juli 2009