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LAIRE/070: Mit Flüchtlingslagern sichert die EU ihre Privilegien (SB)


Extremes Wohlstandsgefälle zwischen Festung Europa und dem Umland

Auffanglager für Flüchtlinge befestigen dauerhaft den Unterschied


Nur die wenigsten EU-Bürger machen sich klar, daß sie in einer modernen Festung leben. Die ist nicht vollständig von der übrigen Welt abgeschlossen, verfügt aber über ein breites Spektrum an Instrumenten und Institutionen, die sicherstellen, daß so wenige Unbefugte wie möglich in den zu schützenden Raum eindringen. In ihm liegt der durchschnittliche Lebensstandard deutlich über dem, der außerhalb der Festung, also in Weißrußland, der Ukraine, Türkei und den nordafrikanischen Staaten üblicherweise anzutreffen ist. Diese Diskrepanz der Lebensverhältnisse würde sich tendenziell stärker angleichen, wenn nicht permanent daran gearbeitet würde, daß sie aufrechterhalten bleibt.

Das relativ privilegierte Leben innerhalb der Europäischen Union wird unter anderem durch ein Netzwerk an Lagern, in denen Menschen von außerhalb der EU "aufgefangen" werden, verteidigt. In den rund 225 Lagern, Auffangzentren und Haftanstalten, die die Europäischen Union 2007 unterhalten hat, lebten mehr als 30.000 Personen. Die Größe der Einrichtungen liegt zwischen 10 und 1000 Personen, ebenso variiert das Ausmaß, mit dem in den Einrichtungen grundlegende Menschenrechte mißachtet werden.

Die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln verfügen über ein eigenes ausgedehntes System an Flüchtlingslagern. In Lampedusa auf Sizilien kam es schon häufiger zu Aufständen, und die Verhältnisse im griechischen Lager Pagani auf Lesbos werden selbst von der Europäischen Union als inakzeptabel bezeichnet. Allerdings erst, nachdem Flüchtlingsorganisationen und Menschenrechtsgruppen den Hilferuf der in Pagani elendig eingepferchten Flüchtlinge aufgegriffen und weitergetragen haben. Auffangzentren in der Türkei und auf Malta und in der Ukraine (Pawschino) stehen diesem Flüchtlingslager in nichts nach.

Vor einigen Jahren ist die EU sogar dazu übergegangen, Flüchtlingslager nach außerhalb zu verlegen, beispielsweise nach Libyen, Mauretanien und Marokko, aber auch in die Ukraine, über die viele Menschen versuchen, in die EU zu reisen. Die Zustände in den Lagern und Haftzentren werden als unerträglich beschrieben. Manchmal befinden sich die Betroffenen nicht wochen-, sondern monatelang in den Lagern, während sie auf die Antwort ihres Asylgesuchs warten, die sie nie erhalten werden. Statt dessen werden sie irgendwann abgeschoben, irgendwohin, in die Wüste oder auch in Länder, in denen sie politisch verfolgt werden.

Über die exterritorialen Lager der Europäischen Union in Nordafrika erfährt man wenig, und was darüber berichtet wird, zeigt die Grausamkeit mit der die EU, die ihre "Probleme" zu externalisieren versucht, ihren Wohlstand verteidigt. Mit Hilfe der Gefangennahme von Flüchtlingen wird das extreme Wohlstandsgefälle zwischen den EU-Länder und den afrikanischen und den ost- bzw. südosteuropäischen Ländern aufgefangen. Darüber hinaus führen die EU-Mitglieder regelmäßig Massenabschiebungen in die afrikanischen Lager durch, beispielsweise im Oktober 2004 nach Libyen. Über 1000 Flüchtlinge wurden per Luftbrücke in die libysche Wüste verfrachtet - ob es sich um politisch Verfolgte handelte oder nicht, wurde gar nicht erst abgefragt.

Mittlerweile verfügt das nordafrikanische Land über 20 Lager für Flüchtlinge, drei davon hat Italien finanziert. Berüchtigt ist das Lager in Kufrah, in der libyschen Wüste in Richtung der sudanesischen Grenze gelegen. Dort hausen die Flüchtlinge zu Dutzenden in so kleinen Räumen, daß sie beim Schlafen übereinander liegen müssen - Matratzen sucht man hier vergeblich. Es mangelt an hygienischen Einrichtungen, der notwendigen medizinischen Versorgung und an nahrhaften Speisen.

Flüchtlinge berichten von regelrechten Kettenabschiebungen in afrikanische Länder und davon, daß sie von den dortigen Behörden am Rande der Wüste ausgesetzt wurden. Viele Flüchtlinge sind verdurstet oder schlicht verschollen.

Über Todesfälle in den Lagern der Europäischen Union ist noch weniger bekannt als über die Lager selbst. Wohl aber kursieren vereinzelte Zahlen über Flüchtlinge, die ums Leben gekommen sind. Im September 2009 starben vor der marokkanischen Küste 25 Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach Spanien. Im selben Monat hat die ägyptische Polizei acht Flüchtlinge, die versuchten über den Sinai nach Israel zu gelangen - eine traditionelle Fluchtroute nach Europa -, erschossen. Im Mittelmeer und Atlantik ertrinken Jahr für Jahr zahllose Menschen auf ihrem Weg nach Europa, während im Innern der Festung das Flüchtlingsthema weitgehend unter den Teppich gekehrt wird. Es anzusprechen löst anscheinend Angstreflexe und die Vorstellung aus, daß sich ohne die scharfen Einwanderungsrestriktionen der EU und ohne ein weitgehend ausgehöhltes Asylrecht noch mehr Menschen um die knapper werdenden Fleischtöpfe drängen würden.

Dieser sich gegenüber den Flüchtlingen abgrenzende Standpunkt ist kurzsichtig. Die bloße Existenz der Haftzentren und Lager für Flüchtlinge und Asylbewerber läßt darauf schließen, daß es lediglich eine Frage der äußeren Umstände ist, daß bislang keine EU-Bürger in Lagern gehalten werden. Was aber, so fragt man sich, würde geschehen, wenn sich aufgrund des Klimawandels und der allgemeinen Ressourcenverknappung - einschließlich des Trinkwassers - die Lebensverhältnisse auch innerhalb der EU verschlechterten? Welche Maßnahmen würden beispielsweise die klimatisch begünstigten nördlich gelegenen EU-Staaten ergreifen, wenn die Prognose der Klimaforscher zutrifft, daß sich die Sahelzone bis in die europäischen Mittelmeerländer hinein ausdehnen wird? Werden sie die dann Millionen "EU-Binnenflüchtlinge" bei sich aufnehmen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Oder wird es nicht irgendeine Form von Lagerhaltung geben, in denen die Menschen zwecks Vereinfachung für die Administration verbracht werden?

Und wenn Klimaflüchtlinge aus dem Süden der EU auf diese Weise verwaltet werden, liegt die Überlegung nahe, ob nicht eines Tages ähnlich auch mit dem überschüssigen Arbeitskräftepotential umgegangen werden wird. Prinzipielle Bedenken gegen diese Form der Menschenverwahrung gibt es offenkundig nicht, wie heute mehrere hundert Zentren und Lager innerhalb und außerhalb der EU zum Abfangen von Flüchtlingen beweisen.

3. November 2009