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STANDPUNKT/064: Die politische Souveränität der Europäischen Union (spw)


spw - Ausgabe 1/2019 - Heft 230
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die politische Souveränität der Europäischen Union

von Nikolaus Kowall(1)


Ist die Europäische Union ein Hebel für sozialen Fortschritt? Dies ist eine der im progressiven Spektrum am heißest umstrittenen Fragestellungen. Skeptische ZeitgenossInnen können auf die marktliberale Schlagseite verweisen, die der Durchsetzung des Binnenmarktes und der Währungsunion, sowie der Orchestrierung der Eurokrise, zweifelsfrei anhaften. Für OptimistInnen bietet der Verweis auf die Vergangenheit hingegen wenig Argumentationsstoff. Sie müssen vielmehr mit den künftigen Möglichkeitsräumen eines europäischen Projekts argumentieren. Räume, die sich erst durch deren politische Adressierung performativ öffnen müssten. Dieser Zugang schwankt zwischen Vision und Illusion, zumal unklar ist, welcher politische Akteur diese Adressierung vorantreiben soll. Andererseits haben die SkeptikerInnen das Problem, dass sich aus ihrer pessimistischen Analyse wenig Perspektiven entwickeln lassen - am ehesten noch die Rückkehr zur Erzielung sozialen Fortschritts durch die Nation. Nationalen Fortschritt im Rahmen international organisierter Volkswirtschaften durchzusetzen ist jedoch alles andere als trivial. Den VordenkerInnen der britischen Labour Party rauchen derzeit die Köpfe, wie mit einer möglichen Regierungsübernahme - voraussichtlich nach erfolgtem Brexit - umzugehen wäre.(2) In welchem Ausmaß kann eine, im internationalen Maßstab mittelgroße und stark globalisierte Volkswirtschaft, wie Großbritannien, noch eigene Akzente setzen? Wie souverän ist die Demokratie in Zeiten der Globalisierung?

Außenhandelsverflechtung und Globalisierung

Wie lässt sich Globalisierung messen? Der wohl markanteste Indikator für die internationale Wirtschaftsverflechtung einer Volkswirtschaft ist der Außenhandel. Das Verhältnis des Exports zur gesamten Wirtschaftstätigkeit bringt die Abhängigkeit von ausländischen Märkten zum Ausdruck. Angenommen, ein Land exportiert genauso viel wie es importiert - die Außenhandelsbilanz des Landes ist also ausgeglichen (für viele Länder trifft das über die Jahre gesehen auch in etwa zu). Wenn dieses Land beispielsweise ein Viertel seiner gesamten hergestellten Güter und Dienstleistungen (also ein Viertel seines BIP) exportiert, dann importiert es auch ein Viertel seines Verbrauchs. Jedes vierte im Land produzierte Produkt geht ins Ausland, jedes vierte im Land konsumierte Produkt kommt aus dem Ausland. Diese Zahlen treffen ziemlich genau auf die Situation der spanischen Volkswirtschaft zu.(3) Spanien hat eine relativ starke Außenhandelsverflechtung, insgesamt dominiert aber der Binnenmarkt. Im Umkehrschluss werden nämlich rund 75 Prozent der spanischen Produktion auch in Spanien verbraucht.

Das Verhältnis zwischen der Wertschöpfung, die für den Export generiert wird, zur gesamten Wertschöpfung, ist ein sehr nützlicher Maßstab für das Ausmaß, in dem eine Volkswirtschaft globalisiert ist. Typischerweise spielt die Größe des Landes eine gewichtige Rolle für den Grad an Globalisierung - aber genau umgekehrt, als viele intuitiv vermuten würden: Länder mit hohen Bevölkerungszahlen und großen eigenen Binnenmärkten sind verhältnismäßig weniger stark globalisiert als Länder mit geringen Bevölkerungszahlen und kleinen Binnenmärkten.

Die USA sind mit 330 Millionen EinwohnerInnen das Land mit der weltweit drittgrößten Bevölkerung. Die US-Volkswirtschaft verfügt über einen gewaltigen Binnenmarkt, folglich spielt der Außenhandel eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle: Nur ein Zehntel dessen, was die US-Volkswirtschaft produziert, wird exportiert (da die USA ein Defizit im Außenhandel aufweisen sind die Importe etwas höher)(4). Das liegt daran, dass die USA große landwirtschaftliche Flächen, eine breit aufgestellte Industrie, reichhaltige Rohstoffvorkommen, zahlreiche Tourismusdestinationen sowie einen hochmodernen Dienstleistungssektor (u.a. Technologieunternehmen) aufweisen. Die US-Wirtschaft ist eine Welt für sich, sie kann fast alles produzieren, was sie benötigt. Länder, die einen so großen Binnenmarkt und eine so geringe Außenhandelsverflechtung aufweisen, bezeichnet man als "geschlossene Volkswirtschaften".

Ganz anders die Situation in relativ kleinen Ländern, wie Belgien, mit einer Bevölkerung von 11,4 Millionen EinwohnerInnen. Das Land hat einen kleinen Binnenmarkt und verfügt beispielsweise weder über eine eigene Autoindustrie, eine eigene Flugzeugindustrie noch über mediterrane Strände. In Belgien wird mehr als die Hälfte aller produzierten Güter und Dienstleistungen für den Export hergestellt. Belgien importiert ebenso mehr als die Hälfte seines gesamten Konsums. Länder, die wie Belgien, die Slowakei oder Österreich kleine Binnenmärkte haben und stark in den internationalen Handel verflochten sind, bezeichnet man als "offene Volkswirtschaften". Eine im globalen Maßstab mittelgroße Volkswirtschaft, wie Frankreich, verfügt im Gegensatz zu Belgien über eine eigene Autoindustrie, eine eigene Flugzeugindustrie sowie über mediterrane Strände. Der Binnenmarkt ist zwar nicht so groß wie in den USA, trotzdem ist die Notwendigkeit zur Einfuhr geringer als in Belgien.(5) Frankreich exportiert knapp ein Viertel seiner Produktion und importiert etwa gleich viel seines Konsums.

Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Außenhandelsverflechtung verschiedener Volkswirtschaften im Jahr 2017.(6) Wie zu erwarten war, befinden sich kleine offene europäische Volkswirtschaften im Spitzenfeld der Außenhandelsverflechtung. Mittelgroße Volkswirtschaften, wie Südkorea, Frankreich oder Mexiko, nehmen Mittelplätze ein, während die großen Volkswirtschaften, wie die USA, Japan oder China,(7) relativ geschlossen sind.


Abb.1: Wertschöpfungsanteil der Exporte am BIP 2017.Quelle: OECD 'Domestic value added in gross exports'

Obwohl Deutschland die größte Volkswirtschaft der EU ist, exportiert es über ein Drittel seiner gesamten Produktion - also mehr als z.B. Großbritannien oder Frankreich. Gleichzeitig importiert es deutlich weniger als ein Drittel seines Konsums, weshalb es einen großen Überschuss im Außenhandel aufweist. Betrachtet man alle 28 EU-Staaten, ergibt sich eine durchschnittliche Außenhandelsverflechtung von rund einem Drittel, was im globalen Vergleich ein relativ hoher Wert ist. Die europäischen Länder sind also allesamt stark in den internationalen Handel verflochten und deutlich stärker globalisiert als beispielsweise Brasilien, die USA oder Indien. Doch das war nicht immer so.

Globalisierung seit 1960

Die Außenhandelsverflechtung der EU-Staaten hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen, wie Abbildung 2 illustriert. Aus Gründen der Datenverfügbarkeit wird zur Darstellung dieser Entwicklung auf Bruttoexportquoten zurückgegriffen.(8) Diese überschätzen zwar die Bedeutung von Exporten (speziell bei kleinen offenen Volkswirtschaften), verdeutlichen aber trotzdem, wie stark sich einzelne Volkswirtschaften in den letzten Jahrzehnten globalisiert haben.(9)


Abb.2: Entwicklung der Außenhandelsverflechtung von 1960-2017. Quelle: Weltbank

In Belgien ist die Bruttoexportquote seit 1960 um 47,3 Prozentpunkte angestiegen. Das ist im belgischen Fall ggü. 1960 mehr als eine Verdoppelung (die Quote lag damals bei 37,8 Prozent). Dieser Trend zeigt sich im Schnitt für alle EU-Staaten, nur in Großbritannien war die Bruttoexportquote bereits 1960 relativ hoch (damals 20,2 Prozent), weshalb die Zunahme weniger dynamisch ausfällt. In Polen hat sich die gleiche Entwicklung in einem wesentlich kürzeren Zeitraum abgespielt, nämlich seit der Wende in Osteuropa. Die polnische Außenhandelsverflechtung hat sich seit 1990 (damals 25,9 Prozent) verdoppelt. In den USA (1960 bei 5,0 Prozent) sowie in Japan (damals 10,7 Prozent) hat die Außenhandelsverflechtung ebenfalls stark zugenommen, wenngleich auf deutlich geringerem Niveau. In Deutschland hat sich die Bedeutung des Außenhandels am BIP seit 1970 verdreifacht, im Falle von Südkorea ist die Integration in den Weltmarkt quasi vollständig seit 1960 erfolgt. Nur in Russland ist die Außenhandelsverflechtung 2017 geringer als im Jahr 1993, weil der Zerfall der Sowjetunion eine Art Deglobalisierung dargestellt hat. Für alle anderen Länder zeigt sich, dass die Globalisierungsdynamik seit 1960 erheblich war.

Nation, Demokratie und Volkswirtschaft

Aus den Daten geht hervor, dass die Welt im Jahr 1960 eine andere war. Der Außenhandel spielte für die einzelnen Volkswirtschaften im Vergleich zum Binnenkonsum eine untergeordnete Rolle. Nur kleine europäische Volkswirtschaften wiesen schon damals eine bedeutsame Außenhandelsverflechtung auf. Mittelgroße Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, oder auch Mexiko und Südkorea, waren hingegen relativ geschlossene Volkswirtschaften. Für die USA - damals die mit Abstand größte Volkswirtschaft der Welt - spielte der Außenhandel im Verhältnis zum BIP nur eine marginale Rolle. Die wirtschaftliche Tätigkeit fand 1960 primär im Rahmen der Nation statt. Dementsprechend war die Regierung hochgradig souverän und konnte steuernd in den Wirtschaftsprozess eingreifen. Da Handel und Kapitalverkehr im Jahr 1960 ungleich weniger liberalisiert waren als heute, konnten Regierungen mittels Zoll und Kapitalverkehrskontrollen die Ströme von Waren und Kapital beeinflussen.(10)

Die in den Nationalstaaten demokratisch erstrittenen Präferenzen konnten im Rahmen der jeweiligen Regierungspolitik in hohem Maße umgesetzt werden. Die national organisierte Wirtschaftsstruktur sowie das nationale wirtschaftspolitische Instrumentarium harmonierten weitgehend. Die sozioökonomische Handlungsfähigkeit der Demokratie war evident. Volkswirtschaft und Demokratie passten beide in den demokratischen Rahmen der Nation. Die Nation war souverän und die Demokratie konnte bestimmen, wohin die Reise geht. Diese "gute alte Welt" löst in Zeiten globalisierter Sachzwänge oftmals Nostalgie aus. Ist es nicht verlockend, die Souveränität des Nationalstaats - vor allem gegenüber der Wirtschaft - zu neuem Leben zu erwecken?

Limitationen nationaler Politik

Die Idee, den Nationalstaat als Bezugspunkt für progressive Politik wiederzuentdecken, kollidiert regelmäßig mit der ökonomischen Struktur, die sich über Jahrzehnte der Globalisierung gebildet hat. Die globale industrielle Verflechtung, die Marktliberale als rhetorische Figur in jeder Diskussion verwenden (Stichwort: Standort)(11) ist keine Imagination sondern real. Nur die politischen Ableitungen der Wirtschaftsliberalen - die auf Erpressung der Demokratie hinauslaufen - sind falsch. Eine Untersuchung exportorientierter mittelständischer österreichischer Industrieunternehmen zeigt beispielsweise, dass die Unternehmen Teil einer extrem ausdifferenzierten globalen Wertschöpfungskette sind.(12) Die Nische ist die Regel und nicht die Ausnahme, faktisch sind große Teile des modernen Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbaus hoch spezialisierte Nischen eines globalen industriellen Netzwerks. Ganze Staaten haben sich auf eine Rolle als Standort im internationalen Wirtschaftsgeflecht spezialisiert.

Ein Beispiel ist die Slowakei. Das Land hat ein wesentlich günstigeres Lohnniveau als z.B. Deutschland und verfügte bis vor einigen Jahren sogar über eine Flat tax, also einen einheitlichen Steuersatz von 19 Prozent für alle Einkommensgruppen. Die Slowakei konnte viele ausländische Direktinvestitionen anlocken und hat sich zum Automobilstandort entwickelt, über 40 Prozent der slowakischen Industrie entfallen auf die KfZ-Branche. Konzerne wie VW, Peugeot-Citroen oder Kia produzieren dort. Nirgends auf der Welt werden pro Kopf so viele Autos hergestellt wie in der Slowakei.(13) In dem Land leben nur fünf Millionen Menschen, die Hälfte der gesamten Produktion hängt am Export (siehe Abb. 1) und die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist mit 75 Prozent vom Durchschnittswert der EU-28 relativ gering.(14) Die slowakische Volkswirtschaft ist nicht sonderlich wohlhabend, sehr offen und obendrein in hohem Maße abhängig von ausländischen Direktinvestitionen. Wie viel politische Souveränität bleibt der demokratischen Regierung der Slowakei überhaupt? Könnte der demokratische Souverän der Autoindustrie zumuten, nur noch Strom aus erneuerbarer Energie zu beziehen, deutlich höhere Mindestlöhne zu bezahlen, mehr Körperschaftssteuer abzudrücken oder einen strengeren Kündigungsschutz zu akzeptieren? In der Realität wäre es für liberal, national oder sozial orientierte Regierungen gleichermaßen unvernünftig, die mit Abstand wichtigste Industrie (deren Konzernzentralen durchwegs im Ausland angesiedelt sind) herauszufordern. Die Slowakei repräsentiert das eine Extrem innerhalb der EU: Sie ist ein politischer Zwerg und stark abhängig von wirtschaftlichen Riesen im Ausland.

Natürlich haben große EU-Volkswirtschaften mehr politische Souveränität als kleine. In Deutschland leben über 80 Millionen Menschen, das BIP pro Kopf liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt (2017 bei 124 Prozent der EU-28)(15) und die Volkswirtschaft ist deutlich geschlossener als jene der Slowakei oder Belgiens. Deutschland verfügt über einen großen Binnenmarkt, solide Staatsfinanzen und hohe Überschüsse im Außenhandel. Das Land hat theoretisch sehr viel Spielraum für politische Aktivität. Deutschland könnte die Arbeitszeit verkürzen, Mindestlöhne deutlich erhöhen, Hartz IV durch eine Mindestsicherung ersetzen, Umweltauflagen verschärfen und die Vermögensteuer wiedereinführen. Die negativen Auswirkungen auf sein Produktionsmodell wären marginal. Zur Umsetzung fehlen schlicht die politischen Mehrheiten. Deutschland repräsentiert das andere Extrem innerhalb der EU: Es ist ein wirtschaftlicher Riese mit einer starken inländischen Industriestruktur und auch politisch ein beachtlicher Akteur. Die übrigen EU-Staaten rangieren grosso modo innerhalb der Bandbreite Deutschland - Slowakei.

Deutschland gehört zu jenen Mitgliedsstaaten mit den potentiell größten Spielräumen für demokratische Gestaltung. Aber könnte Deutschland alleine eine substantielle Finanztransaktionssteuer einführen, ohne Kapitalflucht zu riskieren? Könnte es alle Importe mit hohen Standards belegen, ohne dass die Preise für KonsumentInnen und Industrie explodieren? Könnte es eigenständig eine Energiewende herbeiführen, die die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bis 2040 auf null reduziert? Derart weitreichende Eingriffe dürften selbst Deutschland überfordern, auch wenn sich demokratische Mehrheiten dafür fänden. Ist selbst die größte Volkswirtschaft der EU politisch nicht mehr souverän?

Vor genau diesen Fragestellungen stünde die britische Labourparty im Fall einer Regierungsübernahme. Um progressive Politik auf nationaler Ebene wirklich konsequent durchzusetzen, müsste man sich den objektiven Limitationen der ökonomischen Struktur in einer globalisierten Welt entziehen und seine Volkswirtschaft wieder primär national organisieren. Was für kleine Länder wie die Slowakei ohnedies illusorisch ist, ist auch für mittelgroße Volkswirtschaften wie Großbritannien kaum zu stemmen. Das Ausbrechen aus internationalen Wertschöpfungsketten brächte die Notwendigkeit mit sich, große Teile dieser Tätigkeit wieder ins Inland zu verlagern. Die Volkswirtschaft müsste ihre industrielle Grundlage (Stahlproduktion, Vorleistungsketten etc.) neu aufbauen. Doch was würde eine solche nationale Reindustrialisierung faktisch bedeuten? Man müsste dazu Arbeitskräfte aus vielen anderen Sektoren abziehen, um eine - im internationalen Vergleich wenig effiziente - Binnenindustrie zu schaffen. Dies wäre mit erheblichen Wohlstandsverlusten verbunden, außerdem wäre ein sehr hohes Maß an internationaler Abschottung nötig. Die Rückkehr zur Nation ist nach Jahrzehnten der Globalisierung keine plausible Option mehr.


Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union

Die einzelnen EU-Staaten sind isoliert betrachtet sehr stark in den internationalen Handel verflochten (kleine noch deutlich stärker als große). Wie bereits erwähnt, ist die Außenhandelsverflechtung aller EU-Staaten im Schnitt mit über einem Drittel ziemlich hoch. Doch für jedes EU-Land ist die Summe der anderen EU-Länder der wichtigste Handelspartner. Die hohe internationale Verflechtung der Slowakei, Belgiens oder Österreichs ist also primär eine europäische Verflechtung.

Der entscheidende Punkt aus europäischer Perspektive ist so simpel wie wahr: Die gesamte Europäische Union als Einheit betrachtet ist, ähnlich wie die USA oder China, eine relativ geschlossene Volkswirtschaft. Wie die USA verfügt die EU über fast alle Wirtschaftssektoren selbst. Sie hat zwar weniger Rohstoffe und keinen ganz so modernen Dienstleistungssektor wie die USA, dafür eine deutlich stärkere Industrie und Tourismusinfrastruktur. Die Wirtschaft der EU ist auch eine Welt für sich - sie kann fast alles produzieren, was sie benötigt. Nur 13 Prozent der Produktion der EU werden exportiert und ein ebenso großer Anteil des Konsums wird importiert. In Abbildung 3 ist der Unterschied zwischen einer Betrachtung der einzelnen EU Länder sowie der EU als Ganzes visualisiert.


Abb.3: Außenhandelsverflechtung der größten Volkswirtschaften 2017. Quelle: OECD 'Domestic value added in gross exports'

In der EU leben (inkl. Großbritannien) rund 500 Millionen Menschen. Das entspricht knapp sieben Prozent der Weltbevölkerung. Weil die EU im Weltmaßstab wohlhabend ist, ist ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt der Welt mehr als doppelt so hoch und beträgt rund 16 Prozent. Die EU ist nach China und knapp vor den USA der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt.(16) Die EU ist überdies relativ wohlhabend und verfügt über einen gigantischen Binnenmarkt. Durch die geringe Außenhandelsverflechtung ist die EU weder stark abhängig von Exporten, noch von außereuropäischen Direktinvestitionen. Für die EU gilt zwischen Politik und Wirtschaft die Spielanordnung einer geschlossenen Volkswirtschaft. In einer großen geschlossenen Volkswirtschaft mit einem starken eigenen Binnenmarkt hat die Demokratie prinzipiell mehr Durchschlagskraft gegenüber der Wirtschaft, als in einer kleinen offenen. Die EU ist - als Einheit betrachtet - ähnlich souverän wie die Nationalstaaten der 1960er Jahre.

Die EU zeigt schon jetzt immer wieder politische Handlungsfähigkeit. Sie verhängte 2013 Milliardenstrafen gegen europäische Großbanken wegen Zinsmanipulation. 2017 musste Facebook eine hohe Strafe wegen falscher Angaben bei der Übernahme von WhatsApp zahlen. Anfang 2018 ortete die EU ein "iPhone Kartell" und verhängte eine Bußzahlung gegenüber Apple. Derzeit stehen Google und deutschen Autobauern milliardenhohe Kartellstrafen wegen Marktabsprachen ins Haus. Die EU muss auf ausländische Konzerne keine Rücksicht nehmen und auf Schlüsselindustrien der jeweiligen Mitgliedsländer nicht so viel wie die nationalen Regierungen. Wenn die Slowakei mit Konzernen verhandelt, dann wackelt der Schwanz mit dem Hund. Wenn die EU mit Konzernen verhandelt, ist es umgekehrt.


Die EU ist ein Hebel für sozialen Fortschritt

Es gibt eine Vielzahl an berechtigter Kritik an den Konstruktionsfehlern der Europäischen Union und der Eurozone - Demokratiedefizit, mangelhafte wirtschaftspolitische Steuerungskraft etc. Es gibt auch viel berechtigte Kritik an der EU in Bezug auf schwere politische Fehler bei der "Lösung" der Eurokrise, beim langen Ignorieren der Migrationsthematik im Mittelmeerraum, beim Anheizen des Exportwettbewerbs zwischen den Mitgliedsstaaten, beim Versagen bezüglich Finanztransaktionssteuer und beim permanenten Vorantreiben von Freihandelsabkommen.

All diese Kritik ist zutreffend. Was nur übersehen wird, ist zweierlei: Erstens trägt das Scheitern mindestens so sehr die Handschrift des Europäischen Rates, also der Versammlung aller Regierungschefs, wie der EU-Kommission und des EU-Parlaments. Es handelt sich also um ein kollektives Politikversagen von Nationalstaaten und EU-Institutionen gleichermaßen. Zweitens ist die politische Ausrichtung der EU Resultat eines politischen Zeitgeistes und demokratischer Mehrheiten. Gruppierungen, die die Schlagkraft der EU im Sinne sozialer oder ökologischer Ziele einsetzen wollten, hatten bisher kein ausreichend attraktives Konzept zu bieten und blieben deutlich in der Minderheit.

Aus einer politökonomischen Perspektive ist die Frage, ob die EU das richtige Instrument für sozialen Fortschritt darstellt, wenig zielführend. Ja, große EU-Staaten sind stark genug gewisse Reformen auch eigenständig durchzuführen - doch auch sie stoßen an Grenzen. Es gibt viele relevante Politikfelder, die ohne europäisches Reglement limitiert sind - Stichwörter: Beendigung des innereuropäischen Unterbietungswettbewerbs, konsequente Umsetzung der Energiewende oder effektive Regulierung des Finanzsektors. Kleine EU-Staaten haben noch viel weniger Handlungsspielräume. Aus der Sicht der BürgerInnen der Slowakei, Österreichs oder Belgiens ist die EU ein noch viel wichtigerer Hebel zur Durchsetzung demokratisch gewünschter Maßnahmen.

Mit der EU ist sozialer Fortschritt denkbar. Ohne EU ist hingegen durchaus vorstellbar, dass soziale und ökologische Standards im Zuge der Globalisierung noch stärker unter Druck kommen. Wie man es dreht und wendet, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der EU ist ein Holzweg. Man muss in der Realpolitik immer mit dem arbeiten, was da ist. Gäbe es andere Mehrheiten im EU-Parlament und im Rat der Regierungschefs, wären auch ganz andere Politiken denkbar. Es geht ja bekanntlich nicht darum, Europa zu interpretieren, sondern es zu verändern.


Anmerkungen

(1) Nikolaus Kowall ist Vertretungsprofessor für "International Economics" an der Hochschule für Wirtschaft und Technik in Berlin. Er war von 1999 bis 2014 ehrenamtlich in der österreichischen Sozialdemokratie tätig.

(2) Vgl. Lapavitsas (2018):
https://www.jacobinmag.com/2018/05/corbyn-labour-eu-single-market-economic-policy

(3)Quelle: OECD "Domestic value added in gross exports":
https://data.oecd.org/trade/domestic-value-added-in-gross-exports.htm

(4)Quelle: OECD "Domestic value added in gross exports":
https://data.oecd.org/trade/domestic-value-added-in-gross-exports.htm

(5) Fremdenverkehr gilt als Export. Wenn ein tschechisches Paar in Mailand Bekleidung und Wein einkauft sowie schick essen geht, entspricht das volkswirtschaftlich einem Export dieser Waren von Italien nach Tschechien.

(6) Schätzungen der OECD in Bezug auf den Wertschöpfungsanteil der Exporte verschiedener Länder existieren für 2014. Hier wurden OECD-Daten von 2017 (Bruttoexporte) mit dem Wertschöpfungsanteil von 2014 berechnet. "Domestic value added in gross exports":
https://data.oecd.org/trade/domestic-value-added-in-gross-exports.htm

(7) China erreichte seine stärkste Außenhandelsverflechtung im Jahr 2006. Schon seit längerem war es das Ziel der chinesischen Regierung die Exportabhängigkeit zu verringern und einen starken Binnenmarkt zu etablieren (vgl.
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/konjunktur/reformbekenntnis-in-fernost-china-will-wieder-aufdrehen-11982826.html) Das ist gelungen, wie die Daten zeigen.

(8) Für den Wertschöpfungsgehalt der Exporte liegen keine Zeitreihen vor.

(9) Die Bruttoexportquote überschätzt die Bedeutung des Außenhandels, weil dabei nicht die Wertschöpfung der Exporte (die um Vorleistungen bereinigt ist), sondern der Exportumsatz durch das BIP geteilt werden. Das BIP ist aber die um Vorleistungen bereinigte Wertschöpfung, weshalb Zähler und Nenner bei der Bruttoexportquote nicht wirklich zusammenpassen. Z.B. wird ein Getriebe, das ein deutscher Autohersteller als Vorleistung aus Österreich importiert, beim Verkauf des deutschen Autos nach Russland als deutscher Export gewertet. Aus diesem Grund liegt etwa die Bruttoexportquote für Belgien im Jahr 2017 bei 85,1 Prozent, der Wertschöpfungsanteil der Exporte jedoch nur bei 55,3 Prozent (Quelle: OECD).

(10) Hinzu kommt, dass die Wechselkurse der Währungen im Rahmen des Bretton Woods Systems nicht den internationalen Devisenmärkten überlassen wurden, sondern politisch festgelegt waren. Überdies waren die Zentralbanken allesamt national organisiert und oftmals stärker an die Regierungen gebunden als heute (die Banque de France wurde beispielsweise erst 1993 unabhängig). Die französische Regierung verfügte 1960 über folgende wirtschaftliche Steuerungsinstrumente, die sie heute nicht mehr hat: Zölle, Kapitalverkehrskontrollen, Wechselkurspolitik und nationale Geldpolitik zur Steuerung von Zinsniveau und Inflation.

(11) Vgl. Kowall (2017):
https://makronom.de/der-rechtspopulismus-und-dasprimat-der-politik-in-europa-20285

(12) Vgl. Kowall (2015): https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_study_40_2015.pdf

(13) Vgl. Industriemagazin (2016):
https://industriemagazin.at/a/autoindustrieder-slowakei-erreicht-neuen-weltrekord

(14) BIP/Kopf in Kaukraftparitäten,Quelle: EU-Kommission 2017:
https:// ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=en&pcode=tec00114&plugin=1

(15)Quelle: EU-Kommission (2017):
https://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=en&pcode=tec00114&plugin=1

(16)Quelle: IWF-Daten für 2017

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2019, Heft 230, Seite 26-32
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2019

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