Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → MEINUNGEN


STANDPUNKT/085: Germany First - Teil 2 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 6. April 2020
german-foreign-policy.com

Germany First (II)

Stimmen in Berlin warnen vor Zerfall der EU und raten zu Zugeständnissen bei "Coronabonds". Berlin profitiert von der EU in Billionenhöhe.


BERLIN/BRÜSSEL - Stimmen im Berliner Establishment warnen vor einem Zerfall der EU in der Coronakrise und raten zu ökonomischen Zugeständnissen an Italien und Spanien. Die beiden Länder würden es "Europa und vor allem uns Deutschen 100 Jahre lang nicht vergessen, wenn wir sie ... jetzt im Stich lassen", heißt es in einem Appell, den die ehemaligen Außenminister Joseph Fischer und Sigmar Gabriel gestern veröffentlicht haben. Das dürfe nicht geschehen - denn dann gerate die EU in Gefahr. "Unser Land" aber sei "der größte wirtschaftliche und finanzielle Gewinner" der Union. In der Tat zeigen Studien, dass der EU-Binnenmarkt der Bundesrepublik jährlich 86 Milliarden Euro einbringt - mehr als jedem anderen EU-Mitglied. Die Einheitswährung hat Deutschland allein von ihrer Einführung bis 2017 fast 1,9 Billionen Euro beschert, Frankreich dagegen 3,6 Billionen gekostet, Italien gar 4,3 Billionen. Fischer und Gabriel dringen nun auf ein rasches EU-Hilfsprogramm, um die rasch wachsende EU-Kritik in Rom und Madrid zu dämpfen. In Italien waren zuletzt 67 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, die EU schade ihren Interessen.

Die EU in Gefahr

Das lange Zeit vollständige Ausbleiben von Unterstützung aus der EU im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie sowie die anhaltenden deutschen Blockaden gegenüber einer möglichen Einführung von "Coronabonds" [1] haben in Frankreich, in Spanien und besonders in Italien heftigen Unmut über Berlin und Brüssel ausgelöst. Sogar Kreise, die traditionell EU-freundlich orientiert sind, haben begonnen, sich von der Union abzuwenden. So hieß es in der italienischen Tageszeitung La Repubblica: "Das Virus hat die Heucheleien zertrümmert, es bleibt nur die Rhetorik."[2] Eine Umfrage, die in Italien am 12. und 13. März durchgeführt worden war, hatte gezeigt, dass sich 88 Prozent der Bevölkerung in der Krise von der EU im Stich gelassen fühlten; lediglich vier Prozent waren der Ansicht, die Union tue genug. Der Prozentsatz derjenigen, die die Mitgliedschaft in der EU für nachteilig hielten, war von 47 Prozent im November 2018 auf 67 Prozent in die Höhe geschnellt.[3] "Wenn wir keine gemeinsame Antwort auf diese Krise finden, dann ist das Europäische Projekt in Gefahr", warnte der Wirtschafts- und Währungskommissar der EU, Paolo Gentiloni, am Wochenende in der deutschen Presse. Es gehe gegenwärtig nicht nur um den Kampf gegen die Pandemie: "In dieser Krise müssen wir auch die EU retten."[4]

"Die Spaltung ist da"

Die Reaktionen in Deutschland sind gemischt. Außenminister Heiko Maas wiegelt ab. Es sei "nun einmal so, dass jedes Land" für den Umgang mit der Krise "selbst verantwortlich" sei, erklärt der Minister: "Die ersten Sofortmaßnahmen waren überall lokal und national".[5] Dann aber habe eine zweite Phase begonnen, "in der wir uns untereinander helfen". In der Tat hat Berlin, um der Kritik entgegenzuwirken, inzwischen laut offiziellen Angaben mehr als 100 Covid-19-Patienten aus Frankreich und Italien zur Behandlung auf Intensivstationen deutscher Krankenhäuser geholt. Das werde von allen respektiert, behauptet Maas: "Europa" werde "am Anfang jeder Krise totgesagt". Am Ende aber heiße es stets: "Ohne Europa wäre alles noch viel schlimmer ausgegangen." Andere nehmen den massiven Unmut in Südeuropa inzwischen etwas ernster. "Als es in der Corona-Krise wirklich ernst wurde, hat die EU keine Rolle gespielt", räumt Norbert Röttgen, Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, ein: "Wenn das so bleiben sollte, wird sich da in das Gedächtnis der Europäer eingraben. Wie werden fragen: Wie wichtig ist die EU wirklich?"[6] Der CDU-Politiker konstatiert: "Italiener, Spanier oder auch Franzosen empfinden tiefe Enttäuschung gegenüber Deutschland." Man könne fragen, "ob das gerechtfertigt ist". "Aber was zählt, ist die Wahrnehmung", urteilt Röttgen: "Man muss sehen: Die Spaltung ist da."

Gewinner und Verlierer

Beim Versuch, die Krise der EU zu überwinden, stehen für die Bundesrepublik Milliarden auf dem Spiel. Im vergangenen Jahr zeigte eine von der Bertelsmann-Stiftung publizierte Untersuchung, dass die Bundesrepublik dank des EU-Binnenmarkts jährliche Einkommenszuwächse in Höhe von 86 Milliarden Euro erzielt - mehr als jedes andere Land der Union. Pro Kopf der Bevölkerung liegt der jährliche Binnenmarkt-Zugewinn in Deutschland bei 1.024 Euro, in Spanien bei 589 Euro, in Griechenland bei 401 Euro.[7] Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik Hauptprofiteur der EU-Einheitswährung ist. Ebenfalls im vergangenen Jahr legte das Freiburger Centrum für Europäische Politik (cep) eine Studie vor, der zufolge das deutsche Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2017 um 280 Milliarden Euro geringer gewesen wäre, gäbe es den Euro nicht. Alles in allem habe Deutschland durch die Effekte der gemeinsamen Währung von der Einführung des Euro bis einschließlich 2017 fast 1,9 Billionen Euro hinzugewonnen. Frankreich und Italien hingegen hätten durch die Euro-Einführung verloren - Frankreich knapp 3,6 Billionen Euro, Italien mehr als 4,3 Billionen Euro.[8] Frankreich hätte ohne die Einheitswährung im Jahr 2017 auf ein um 374 Milliarden Euro höheres Bruttoinlandsprodukt hoffen können, Italien sogar auf 530 Milliarden Euro mehr.

Ein Hilfsprogramm für den Süden

Entsprechend mehren sich die Stimmen im deutschen Establishment, den Forderungen Italiens und anderer Länder vor allem Südeuropas ein Stück weit entgegenzukommen. Zwar sperren sich immer noch starke Kräfte gegen die Einführung von "Coronabonds". "Die notwendige Debatte auf ein Instrument zu reduzieren, ist wenig zielführend", erklärt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Auch in einer Krise müssten alle für die Folgen ihrer Entscheidungen aufkommen: "Das wäre bei gemeinschaftlichen Schulden nicht mehr der Fall." "Coronabonds" seien daher abzulehnen.[9] Dies halten andere mittlerweile für allzu riskant. "Länder wie Italien und Spanien werden es Europa und vor allem uns Deutschen 100 Jahre lang nicht vergessen, wenn wir sie ... jetzt im Stich lassen", heißt es in einem Appell, den die beiden einstigen Bundesaußenminister Joseph Fischer und Sigmar Gabriel gestern publiziert haben: "Und genau das tun wir gerade."[10] Dabei sei "unser Land ... der größte wirtschaftliche und finanzielle Gewinner" der EU: "Sogar an der Finanzkrise Griechenlands haben wir Geld verdient."[11] Um die EU zu retten, müsse man Ländern wie Italien und Spanien dreierlei zukommen lassen: zunächst "medizinisch-humanitäre Soforthilfe"; sodann "mittelfristige, langlaufende europäische Kredithilfen ... zur Stabilisierung der inländischen Realwirtschaft"; schließlich gelte es, ein "langfristiges Innovationsförderungs-Programm zur wirtschaftlichen und sozialen Zukunftssicherung" aufzulegen. Deutschland sei "gut beraten, sich an einem solchen Hilfsprogramm auf europäischer Ebene sofort zu beteiligen".

Ein "Marshallplan" für die EU

Tatsächlich sind erste Maßnahmen inzwischen in Arbeit. Berlin und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versuchen dabei trotz der fortdauernden Proteste insbesondere aus Rom und Madrid, "Coronabonds" zu vermeiden, davon aber mit großspurigen Begriffen wie "Marshallplan" abzulenken. So kündigt Kommissionspräsidentin von der Leyen an, das kommende EU-Budget solle als eine Art "Marshallplan" verstanden werden, um der EU aus der beginnenden tiefen Wirtschaftskrise zu helfen.[12] Zudem bringt von der Leyen ein "europäisches Kurzarbeitergeld" von bis zu 100 Milliarden Euro ins Gespräch. Es käme mutmaßlich allen EU-Staaten zugute, auch Deutschland, wäre also keine spezielle Hilfe für den besonders krisengeschüttelten Süden. Ähnliches gilt für einen "paneuropäischen Kreditgarantiefonds" mit einem Volumen von bis zu 50 Milliarden Euro, den Bundesfinanzminister Olaf Scholz über die Europäische Investitionsbank bereitstellen will und der Bankkredite an kleinere sowie mittelgroße Unternehmen absichern soll.[13] Speziell für Länder wie Italien und Spanien will Scholz Geld aus dem Euro-Krisenfonds ESM bereitstellen. Rom hat das bereits abgelehnt, weil ESM-Mittel mit dem Zwang zur Erfüllung einer von außen oktroyierten Wirtschaftspolitik und mit deren erneuter Kontrolle durch eine "Troika" verbunden sind. Berlin insistiert dennoch darauf, um etwaige "Coronabonds" zu vermeiden - bislang um jeden Preis.


Mehr zum Thema:
Germany First


Anmerkungen:

[1] S. dazu Wer die Regeln setzt
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8233/

[2]Stefano Folli: Coronavirus, c'era una volta l'Europa. rep.repubblica.it 15.03.2020.
S. dazu Die Solidarität der EU (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8220/

[3] Teresa Coratella: Whatever it takes: Italy and the Covid-19 crisis. ecfr.eu 18.03.2020.

[4] Tobias Kaiser: "Ich denke, Deutschland kann das akzeptieren". welt.de 04.04.2020.

[5], [6] Johannes Leithäuser: "Legen Sie erst Ihre eigene Maske an". Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.04.2020.

[7] Giordano Mion, Dominic Ponattu: Ökonomische Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen. Herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 2019.

[8] Alessandro Gasparotti, Matthias Kullas: 20 Jahre Euro: Verlierer und Gewinner. Eine empirische Untersuchung. cepStudie. Freiburg, Februar 2019.
S. auch Die Wahl der Wirtschaft
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7947/

[9] EU-Kommissar Gentiloni für gemeinsame Anleihen. welt.de 04.04.2020.

[10] Joschka Fischer, Sigmar Gabriel: In der Corona-Krise geht es um Leben und Tod - auch für Europa! tagesspiegel.de 05.04.2020.

[11] S. dazu Wer hat, dem wird gegeben
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7348/

[12] Beatriz Rios: Von der Leyen: EU budget should be the Marshall plan we lay out together. euractiv.com 02.04.2020.

[13] EU-Kompromiss zu Corona-Hilfen in Sicht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.04.2020.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang