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FRAGEN/031: Spardiktat in Italien - Heute zahlen wir den Preis dafür (Gerhard Feldbauer)


"Heute zahlen wir den Preis dafür"

Italien leidet auch wegen neoliberalem Spardiktat unter den Folgen der Coronaviruspandemie
Ein Gespräch mit Stefano G. Azzarà

von Gerhard Feldbauer, 29. März 2020


Gerhard Feldbauer (F): Italien wird noch schwerer als China von der Covid-19-Krise betroffen. Wo sehen Sie die Ursachen?

Stefano G. Azzarà (A): China, noch weitgehend ein Entwicklungsland, hat die Coronavirus-Krise tatsächlich besser und schneller gemeistert als Italien, ein führendes Industrieland. Der Notfall deckt die strukturellen Schwächen der kapitalistischen Gesellschaft auf, in der die politischen und Managemententscheidungen wesentlich von den wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Klassen abhängen, die Produktion nicht zu stoppen und der Wettbewerb um Gewinne weitergeht.

In China dagegen beherrscht die Politik nicht nur die Kräfte des Marktes und stellt sie in den Dienst der Interessen der Mehrheit, sondern die Planung ermöglicht es auch, die Produktion schnell wieder umzustellen.

Für Italien wie für jedes einzelne europäische Land wäre eine ähnliche Solidarität zwischen allen Ländern der EU erforderlich. Die Krise wird jedoch von den vorherrschenden Ländern genutzt, vorteilhafte Positionen zum Nachteil anderer zu erreichen.

In Italien wird deutlich, dass über 30 Jahre neoliberale Politik - soziale Kürzungen, Privatisierungen, Verkleinerung der Kapazitäten der Krankenhäuser, Steuersenkungen für die Reichen - das Wohlfahrtssystem entscheidend, vor allem das Gesundheitswesen geschwächt haben. Heute zahlen wir den Preis dafür. Diese Politik haben nicht nur die Rechten (Salvini, Berlusconi, Meloni) betrieben, sondern auch Mitte Links, vor allem der Partito Democratico (PD).

F: Italien hat als erstes westeuropäisches Land Kuba und China um Hilfe gebeten. Zwingt die Krise zum Umdenken?

A: Die politischen Kräfte in Italien akzeptieren mit großer Verlegenheit die Hilfe der sozialistischen Länder: Das bedeutet, dass sie nichts anderes tun konnten und dass die Situation sehr ernst ist. Das könnte der Auftakt zu einer signifikanten Änderung der öffentlichen Meinung sein. China zeigt konkret, dass es eine friedliche Macht ist, die sich für globale Solidarität einsetzt.

Aber die Diffamierungsmaschinerie - das industrielle Mediensystem - arbeitet kontinuierlich weiter, um zu verhindern, dass die Sympathien für China wachsen. Intellektuelle, Journalisten und Professoren fahren fort, täglich vor der "roten Gefahr" zu warnen und dass China kein "Vorbild" werden darf. Das schließt die Versuche ein, die Natur der NATO neu zu definieren und ihr globale Aufgaben im Bereich der Gesundheitsverwaltung zu übertragen.

F: In den Medien ist meist zuerst von der Hilfe für die Wirtschaft die Rede, welche Rolle spielen die Arbeiter?

A: In der Tat gilt die Sorge zuerst den Unternehmern. Bei der Bekämpfung der Epidemie ordnete die Regierung an, dass die Bürger zu Hause zu bleiben haben, ließ jedoch bis vor wenigen Tagen zu, dass Unternehmen ihre nicht wichtige Industrieproduktion fortsetzen und die Arbeiter unnötigen Risiken aussetzen durften. Als wenn das Leben eines Arbeiters weniger wert ist als das eines Bourgeois. Die Gewerkschaften haben das mit dem Aufruf zum Streik in diesen Betrieben unterbunden.

Um nochmals auf die EU zurück zu kommen: Mit und nach der Krise wird die Frage sein, ob es zu einem Wechsel des Wirtschaftsparadigmas kommt, was heißen müsste, expansiv auf der Grundlage öffentlicher Investitionen auf kontinentaler Ebene zu einem neuen Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft zu kommen. Die italienischen Populisten, die ich europhobe Sozialchauvinisten nenne, rufen heute: "Seht, Europa hat uns im Stich gelassen." Das gilt auch für andere Länder. In Wirklichkeit würde jedes Land, wenn es sich selbst überlassen wird, durch das Gewicht einer Krise niedergeschlagen werden, die zu groß für den Einzelnen ist. Eine Reaktion auf europäischer Ebene ist daher unabdingbar und der einzige Weg, auf dem Europa sich selbst retten könnte.

Leider, das muss man hinzufügen, wird jetzt mehr denn je das Fehlen einer Linken, die diesen Namen verdient und die in diese Klassenkämpfe eingreifen müsste, um Veränderungen zu bewirken, deutlich.


Stefano G. Azzarà ist außerordentlicher Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität von Urbino, wo er die Arbeit des 2018 verstorbenen Domenico Losurdo, den er seinen "Meister" nennt, fortsetzt. Er ist wissenschaftlicher Direktor der Zeitschrift "Materialismo Storico" und Koordinator der internationalen interuniversitären Forschungsgruppe "Domenico Losurdo". Er forscht zur Geschichte der Arbeiterbewegung, aber auch der "konservativen Revolution" mit Aspekten zu Moeller van den Bruck, Nietzsche und Heidegger.

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2020

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