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GROSSBRITANNIEN/005: Brexit - und nun? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 153/September 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Brexit - und nun?

Der Sieg des Leave-Lagers bereitet Großbritanniens Wissenschaft Probleme

von Ulrich Schreiterer


Sind die Briten noch ganz bei Trost? Die erschrockenen, ja entsetzten Reaktionen auf ihr Votum über den Verbleib in der Europäischen Union lassen daran zweifeln. Eine knappe Mehrheit der Wähler, überwiegend ältere, wenig verdienende und gering gebildete, hat am 23. Juni alle Warnungen vor den unabsehbaren ökonomischen, politischen und kulturellen Folgen eines Austritts in den Wind geschlagen und für einen "Brexit" gestimmt. Warum die vermeintlich stets pragmatischen, rational kalkulierenden Brits der fein austarierten Maschinerie des europäischen Miteinanders ihr Misstrauen bekunden und sich ins Abenteuer einer neuen splendid isolation stürzen wollten, können EU-freundliche Beobachter und Berufs-Europäer nicht verstehen. Doch die Scheidung von der EU ist noch lange nicht vollzogen und deren Messe noch nicht gelesen. Langsam dämmert es selbst den lautstärksten Brexit-Verfechtern, dass die gewünschte Entflechtung sehr kompliziert ist, langwierig und kostspielig wird.

Das Referendum zu wiederholen, verbietet sich. Die Politik kann das Ergebnis auch nicht einfach ignorieren oder auf Milde seitens der EU hoffen. "You can´t have the cake and eat it, too", wer wüsste das besser als die Briten? Freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt, freien Waren-, Kapital- und Zahlungsverkehr, woran ihnen so viel liegt, gibt es nicht umsonst. Wollen sie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer einschränken und dennoch vom gemeinsamen Markt profitieren, müssen sie tief in die Tasche greifen. Selbst ein "Brexit light" wird teuer. Die City, die um die Vormachtstellung des Finanzplatzes London bangt, weiß das alles genauso gut wie die Regierung. Sofort nach dem Referendum kündigte diese an, sie wolle die Unternehmenssteuern drastisch senken, um möglichen Abwanderungen vorzubeugen. Ein gewagtes Spiel zulasten der Staatseinnahmen, das auch andere Länder der EU in Zugzwang setzt, Geschenke an die Wirtschaft auszuteilen. So wird die viel beschworene Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung zu einer Fata Morgana, Subventions- und Steuer-Dumping zur allerorts praktizierten Realpolitik.

Dennoch wird Britannia nicht untergehen. Auch für die britische Wissenschaft wird es leidlich weitergehen, deren Vertreter massiv für einen Verbleib in der EU geworben hatten und zu einem Motor der "Remain"-Kampagne wurden. 150 Mitglieder der ehrwürdigen Royal Society appellierten öffentlich an ihre Landsleute, Vernunft walten zu lassen und die Verbindungen zur EU nicht zu kappen, während die Vice-Chancellors der britischen Hochschulen in einem offenen Brief an die "überlebenswichtige Rolle der EU bei der Unterstützung unserer Weltklasse-Universitäten" erinnerten. Stephen Hawking warnte gar vor einem "Desaster", sollte sein Land die EU verlassen: Es werde von der lebenswichtigen Ideenzirkulation abgeschnitten, bedeutende Ressourcen und Innovationskraft verlieren. Auch wenn daran vieles Schwarzmalerei gewesen sein mag, liegt es auf der Hand, dass der Brexit Hochschulen und Forschung enorme Probleme bereiten wird, deren Folgen unabsehbar sind und deren fallout weit über Großbritannien hinaus reicht.

Materielle Schäden drohen an zwei Fronten: Auf dem Spiel stehen zuvorderst fast 1 Milliarde Pfund (knapp 1,2 Mrd. Euro) an Forschungsgeldern, die Großbritannien derzeit jährlich aus Töpfen der EU erhält. Das entspricht einem Viertel aller Forschungsaufwendungen im Vereinigten Königreich und ist weit mehr, als die Briten in den EU-Forschungsetat einzahlen. In einigen Gebieten hängen britische Forscher längst fest am Tropf der EU: Zwischen 2006 und 2015 stellte diese gut die Hälfte aller öffentlichen Mittel für die Krebsforschung, die Nanotechnologie, die Biomedizin und die Evolutionsbiologie bereit. Interessanterweise schneiden die Briten sowohl bei hoch kompetitiven Förderformaten wie den Programmen des European Research Council (ERC) als auch in der Finanzierung industrieller Forschung besonders gut ab. Wie wichtig die Mittel der EU für sie sind, zeigt der Vergleich mit Deutschland: Betragen die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung hier etwa 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sind es in Großbritannien nur 1,6 Prozent. Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben der privaten Wirtschaft liegen unterhalb des EU-Durchschnitts und sind 80 Prozent niedriger als hierzulande. Ohne die EU-Förderprogramme ergäben sich erhebliche Lücken bei den laufenden Mitteln wie auch bei den Aufwendungen für die Infrastruktur.

Dass die britische Regierung diese Verluste aus Bordmitteln kompensieren wird, wie es der Präsident der Royal Society unmittelbar nach dem Referendum forderte, ist nach Lage der Dinge sehr unwahrscheinlich. Wollte Großbritannien wie die Nicht-Mitglieder Israel, Norwegen oder die Schweiz ohne Mitspracherechte an den Forschungsförderprogrammen der EU partizipieren, müsste es viel Geld in die Hand nehmen. Billig wird das nicht - sofern denn die EU-Mitglieder den Deserteur überhaupt wieder an den gemeinsamen Tisch lassen. Schon jetzt klagen britische Unis, viele ihrer Forschungspartner aus der EU übten sich in vorsichtiger Distanz bei längerfristig angelegten Projekten.

Wie ernst es der EU mit gemeinsamen Spielregeln ist, musste jüngst die Schweiz erfahren. Nachdem dort 2014 ein Referendum eine knappe Mehrheit für eine Begrenzung der Zuwanderung von Arbeitskräften aus der EU von 2017 an erbracht hatte, setzte die Kommission die Beteiligung am EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 sowie am Erasmus-Programm aus. Ob und zu welchen Konditionen eine Rückkehr möglich ist, hängt nun weitgehend vom taktischen Geschick der Bundesregierung bei der Umsetzung des Volksentscheids ab. Für Großbritannien gilt vermutlich dasselbe.

Die zweite Schadensfront droht an den Hochschulen. 2014/15 kam fast ein Viertel der Studenten in Großbritannien aus anderen EU-Staaten. Von den mehr als 18.000 Deutschen waren 4.400 für einen Erasmus-Austausch dort, die große Mehrheit für ein ganzes Studium. Bisher zahlen sie dieselben Studiengebühren wie Briten, nämlich 9.000 Pfund pro Jahr. Mit dem Brexit ändert sich in beiden Fällen die Geschäftsgrundlage. Wollte Großbritannien weiterhin am Erasmus-Programm partizipieren, müsste es das neu mit der EU verhandeln. Voll-Studenten werden künftig mit denselben Gebühren belegt wie "overseas students", je nach Fach mehr oder sehr viel mehr. Damit dürfte der Zustrom von Studieninteressenten aus der EU abebben und eine für viele Hochschulen wichtige Einnahmequelle versiegen. Universitäten vom Kaliber Oxbridge wird das kaum anfechten, solche aus der zweiten und dritten Reihe dafür umso mehr.

Für die deutsche Wissenschaft könnte der Brexit durchaus zwiespältige Folgen haben. In den letzten beiden Jahrzehnten sind viele jüngere Wissenschaftler am Anfang oder in der Mitte ihrer akademischen Karriere nach Großbritannien gegangen, weil sie dort attraktivere Beschäftigungsperspektiven erwarteten und dank der Personenfreizügigkeit in der EU weder eine extra Arbeitserlaubnis brauchten noch großen administrativen Aufwand betreiben mussten. Britische Universitäten haben in vielen Fächern eine Ventilfunktion für die angespannte Lage auf dem akademischen Arbeitsmarkt übernommen. Derzeit arbeiten etwa 5.200 Forscher aus deutschen Landen dort, Tendenz steigend. Mit dem Austritt aus der EU dürfte der Wechsel nach Großbritannien wenn nicht komplett verbaut, so doch deutlich schwerer werden. Andererseits könnten deutsche Forscher in wissenschaftsgeleiteten Förderprogrammen der EU zu Nutznießern des Exodus ihrer britischen Kollegen werden. Ohne diese hätten sie ein leichteres Spiel und könnten noch erfolgreicher sein. Aber das sind Spekulationen, für die das Referendum vom 23. Juni allerdings ein weites Feld eröffnet hat.


Ulrich Schreiterer befasst sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe der Präsidentin mit Wissenschaftspolitik und der Internationalisierung der Forschungs- und Hochschulpolitik.
uli.schreiterer@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 153, September 2016, Seite 54-55
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Oktober 2016

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