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GROSSBRITANNIEN/008: Brexit - Eine Absage an die EU, TTIP und die politische Kaste (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2016
Völlig losgelöst
Lässt sich die EU noch demokratisieren?

BREXIT
Eine Absage an die EU, TTIP und die politische Kaste

Von John Hilary


Die britische Referendumsentscheidung, die Europäische Union (EU) zu verlassen, eröffnet ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Großbritannien und dem europäischen Binnenmarkt. Für uns BritInnen bietet dies die Gelegenheit, die Prinzipen zu überdenken, nach denen wir unsere Beziehungen mit dem Rest der Welt ausrichten wollen: Wollen wir mit dem selbstsüchtigen und imperialistischen Programm fortfahren, das die europäische Politik für so viele Jahrhunderte gegenüber dem Globalen Süden gekennzeichnet hat? Oder sind wir endlich bereit für einen neuen Ansatz? Dieser Artikel umreißt, was die Brexit-Wahl für die Kampagnen für soziale Gerechtigkeit in Großbritannien bedeutet und welche Lehre die EU daraus ziehen sollte.


Den BürgerInnen der 27 Länder, die in der EU verbleiben, sollte der Brexit einen Denkanstoß geben. Warum hat die britische Bevölkerung, allen Vorhersagen zum Trotz, das europäische Projekt für mehr wirtschaftliche und politische Einheit abgelehnt? Warum werden die Institutionen der EU so häufig als Teil des Problems betrachtet und nicht als Teil der Lösung? Und welche Art von Wandel ist jetzt notwendig, um die EU vor weiterer Fragmentierung zu bewahren?

Extremer Neoliberalismus
Seit der Verabschiedung der Lissaboner Agenda im Jahr 2000 hat die EU sich in ihren Beziehungen mit anderen Ländern der extremsten Form des neoliberalen Kapitalismus verschrieben und dabei in ihren Handels- und Investitionsabkommen unerbittlich die Interessen der großen Konzerne auf Kosten der ArbeiterInnen, der Gesellschaft und der Umwelt vorangetrieben.

Nirgendwo ist diese Agenda offensichtlicher geworden als in dem Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (TTIP), das derzeit zwischen der EU und den USA verhandelt wird.

Über die Tatsache, dass nicht gewählte EU-BürokratInnen TTIP allem öffentlichen Widerstand zum Trotz vorantreiben, wurde sich in jeder einzelnen der Debatten, an denen ich in Großbritannien in den Monaten vor dem Referendum teilgenommen habe, beschwert und es wurde in vielen seriösen Meinungsartikeln auf beiden Seiten der Auseinandersetzung aufgegriffen.

Und dennoch handelt es sich bei der TTIP-Agenda von Deregulierung und marktwirtschaftlichem Fundamentalismus nicht um eine Verirrung Brüssels. Es ist vielmehr das Standardprogramm der EU für alle Völker innerhalb und außerhalb Europas. Seit der Einführung der 'Global Europe Trade-Strategie' im Jahr 2006 werden die Beziehungen der EU mit Ländern aus dem Globalen Süden von einem selbstsüchtigen Imperialismus charakterisiert, der darauf ausgelegt ist, die Bedürfnisse des europäischen Kapitals zu befriedigen, ohne dabei zu berücksichtigen, welche Folgen dies für die nachhaltige Entwicklung in anderen Regionen haben kann. TTIP und das zwischen der EU und Kanada parallel laufende Handelsabkommen CETA haben uns einen Gefallen damit getan, dieses politische Modell zum ersten Mal in das Bewusstsein einer breiteren europäischen Öffentlichkeit zu bringen.

Mit diesem Modell zu brechen, wurde für viele Menschen der politischen Linken zu einem entscheidenden Thema des Referendums in Großbritannien. Während das Plädoyer für den Brexit vor allem von MigrationsgegnerInnen und rechten Parolen dominiert wurde, gab es auch eine andere Debatte unter progressiven Kräften, die wesentlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Meinen persönlichen Erfahrungen nach wurde diese Debatte respektvoll und aufrichtig geführt und beide Seiten haben sich auf langfristige Ziele verständigen können, auch wenn sie in der Frage des Referendums zu keiner Übereinstimmung gekommen sind.

Die größten nationalen Gewerkschaften, die sich im Referendum von 1975 gegen die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen haben, haben dieses Mal für einen Verbleib in der EU geworben. Lediglich die Gewerkschaften der BäckerInnen und der Eisenbahnangestellten sowie der Verbund der Angestellten des nordirischen öffentlichen Dienstes haben sich klar für den Brexit ausgesprochen. Auch die Labour-Partei, die im Jahr 1975 mit großer Mehrheit gegen die EU-Mitgliedschaft gestimmt hatte, sprach sich dieses Mal für den Verbleib aus. Nur einige wenige Labour-Abgeordnete haben aktiv für den Austritt aus der EU geworben.

Am offensichtlichsten war die Unzufriedenheit der politischen Linken mit der EU auf regionaler Ebene, insbesondere außerhalb des reichen Zentrums - der Kapitalakkumulation - das wir als London kennen. Treffen, an denen ich im Norden und Westen des Landes teilgenommen habe, waren charakterisiert von einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber der EU und einer Ablehnung der neoliberalen Politik, die sie verkörpert. Sogar innerhalb Londons gab es beträchtliche Unzufriedenheit mit dem wirtschaftlichen Programm der EU, besonders in den Reihen der einfachen GewerkschaftlerInnen und anderer politischer AktivistInnen. Unter den kleinen, aber lautstarken sozialistischen Parteien gab es eine überwältigende Mehrheit für den Austritt.

Politische Kaste
Für den Austritt zu stimmen bedeutet, dass die britische Bevölkerung jedwedem zukünftigen TTIP-Abkommen als EU-Mitgliedstaat entflohen ist. Gleichzeitig war immer klar, dass uns ein Austritt mit einer britischen politischen Elite konfrontieren würde, die konsequent die radikalsten neoliberalen Positionen auf dem europäischen Spektrum verfolgt hat. Viele BeobachterInnen weisen korrekterweise darauf hin, dass eine neue britische Regierung nach wie vor versuchen könnte, uns zukünftig den Prinzipien von TTIP zu unterwerfen.

Für die unter uns, die einer gerechteren Handelspolitik Jahre ihres Lebens gewidmet haben, ist dies der entscheidende Punkt. Wir müssen nun sicherstellen, dass die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die EU abzulehnen, nicht in ein Mandat umgewandelt werden kann, welches es ermöglicht, das neoliberale Programm der EU im Vereinigten Königreich im Alleingang weiterzuverfolgen. Insbesondere müssen wir sicherstellen, dass die fremdenfeindlichen Stimmen in den kommenden Monaten zum Schweigen gebracht werden, damit progressive Argumente für positiven Wandel die "Little Englander"-Mentalität dominieren.

Die meisten KommentatorInnen stimmen darin überein, dass die Wahl für den Austritt zuallererst eine Ablehnung der politischen Kaste des Vereinigten Königreichs war. Die Tatsache, dass sich die WählerInnen in vielen traditionellen Labour-Hochburgen für den Brexit entschieden haben, sollte als Aufruf für eine neue Politik verstanden werden. Eine Politik, die auf Entscheidungen basiert, die allen zugutekommen, nicht nur einigen wenigen. Unsere Aufgabe als AktivistInnen ist es, dabei zu helfen, eine Bewegung aufzubauen, die diese neue Art der Politik realisiert. Dies gilt gleichermaßen für die EU wie für das Vereinigte Königreich.

Lehren aus der Vergangenheit ziehen
Die Regierungschefs der EU müssen Bilanz ziehen und sich fragen, warum die britische Wählerschaft sich für den Ausstieg ausgesprochen hat, um dann aus ihren Fehlern lernen.

Die Verachtung der europäischen Elite für die Menschen in Europa manifestiert sich mit aller Deutlichkeit in der permanenten Austeritätspolitik, die den Menschen in Griechenland, Zypern, Rumänien, Lettland, Irland und Portugal aufgezwungen wurde. Sie manifestiert sich auch in der Art, wie die TTIP-Verhandlungen gegen beispiellosen öffentlichen Widerstand vorangetrieben werden.

Infolge der Brexit-Abstimmung hat EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström versucht, den nationalen Parlamenten ihr versprochenes Recht auf Abstimmung über das Handelsabkommen CETA zu verwehren. Letztendlich musste Malmström sich demütig von dieser Position zurückziehen und CETA wurde als "gemischtes" Abkommen präsentiert, welches sowohl die Zustimmung der nationalen Parlamente als auch die der EUInstitutionen bedarf. Trotzdem wissen wir, dass sie nach wie vor hofft, diese Entscheidung mithilfe des Europäischen Gerichtshofs zu revidieren.

Wenn sie nicht für den Zerfall der EU verantwortlich sein möchten, müssen die Regierungschefs auch die demokratische Legitimität der EU überdenken. Mit seiner Weigerung, seinen Modus Operandi nach der Brexit-Entscheidung auch nur marginal zu verändern, hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker viele Mitgliedstaaten verärgert. Insbesondere die 4 Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) waren in ihrer Kritik, an einer aus ihrer Sicht außerordentlichen Arroganz von Seiten Brüssel, sehr deutlich. Die EU steht an einem entscheidenden Punkt in ihrer Geschichte: Kann sie die Bedürfnisse der Menschen in Europa erfüllen oder wird sie weiterhin ein alleiniges Instrument der elitären Minderheit bleiben?


Autor John Hilary ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation 'War on Want' und zugleich Autor der TTIP-Einführungsbroschüre, welche in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben und bisher in 12 europäische Sprachen übersetzt wurde.

Aus dem Englischen von Nadja Wieler.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2016, Seite 14-15
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2016

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