Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

HOLLAND/001: Die Wahlen in den Niederlanden und ihre Auswirkungen auf die EU (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012

Die Wahlen in den Niederlanden und ihre Auswirkungen auf die EU

Von Siebo M. H. Janssen



Die niederländischen Wahlen vom 12. September 2012 zur "Tweede Kamer" (zweiten Kammer, vergleichbar dem Deutschen Bundestag) endeten mit mehreren kleineren und einigen größeren Überraschungen, auf die im folgenden Beitrag eingegangen wird. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der Wahlen auf die EU und die Europapolitik der Niederlande beleuchtet.


Als im April 2012 der Rechtspopulist Geert Wilders und seine PVV (Partei der Freiheit) die Regierungskoalition aus rechtsliberalem VVD und christdemokratischen CDA als Tolerierungspartner scheitern ließ, ging es in erster Linie um Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Um die Haushaltskriterien des Maastrichter Vertrages zu erfüllen, müssen die Niederlande im Haushalt 2013 mehrere Milliarden Euro einsparen. Um dieses Ziel zu erreichen, einigten sich VVD und CDA auf umfangreiche Kürzungen im Sozial-, Gesundheits- und Kulturbereich. Während Wilders die Kürzungen im Kulturbereich und, aufgrund des Drucks des CDA, im weniger betroffenen Entwicklungshilfe-Etat, als zu gering empfand, gingen ihm die Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich zu weit. Wilders vertritt nicht nur rechtsdemagogische Positionen in Bezug auf den Islam und die EU, sondern geriert sich in der niederländischen Öffentlichkeit auch als Vertreter der sogenannten "kleinen Leute", deren soziale Anliegen er gegen Migranten, die EU und die nationalen Eliten zu verteidigen vorgibt.

Das Ende der Koalition kam gleichsam überraschend, gingen VVD und CDA doch davon aus, dass Wilders nach sieben Wochen Verhandlungen einer Einigung nicht seine Stimme verweigern würde.

Die Folge seines Verhaltens und das Ausbrechen einer neuerlichen politischen Krise in den Niederlanden führte, um die Vorgaben der EU-Kommission für 2013 doch noch einhalten zu können, zur Ausschreibung von Neuwahlen im September 2012 sowie der Bildung einer ad-hoc-Koalition im Parlament aus VVD, CDA, D66 (Linksliberale), Groen Links (Grüne) und Christenunie (gemäßigt konservativ-protestantisch-soziale Partei). Nicht beteiligt war die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische PvdA. Diese lehnte, ähnlich wie die PVV von Wilders und die linke populistische Sozialistische Partei (SP - vergleichbar der Linken) die vorgesehenen Kürzungen im Sozialhaushalt ab.

Die PvdA war politisch in den Monaten vor dem Auseinanderbrechen der Koalition, ähnlich wie der CDA, durch ein umfragepolitisches "Tal der Tränen" gegangen. Die zweitstärkste Partei der Wahlen von 2010 mit ihren 30 Sitzen lag seit Monaten in den Umfragen bei lediglich 15-20 Sitzen und wurde, je nach Umfrage hinter VVD, SP und teilweise PVV und D66, nur noch als dritt- bis fünftstärkste Fraktion eingestuft. Auffallend war vor allem der Aufstieg der SP in den Umfragen. Deren charismatischer und auf Regierungsfähigkeit hin orientierter Fraktionsvorsitzender und Spitzenkandidat Roemer schaffte es, seine Partei in den Umfragen von 15 realen Sitzen auf bis zu 38 virtuelle Sitze zu heben, wodurch sie sogar kurzfristig zur stärksten Partei avancierte. Relativ bald brach der Nimbus des charismatischen Siegertypen allerdings zusammen, da Roemer sich in den TV-Duellen einige peinliche Patzer erlaubte und in vielen Fragen bei den Wählerinnen und Wählern als unsicher und schlecht informiert ankam.

Mit dem Niedergang Roemers begann der politische (Wieder)Aufstieg des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Diederik Samsom und der PvdA. Samsom schaffte es als Einziger, neben Alexander Pechthold (D66), die Politik der bisherigen Koalition sachlich kompetent und mit einer klaren Alternative als ökonomisch und sozial gefährlich sowie explizit antieuropäisch zu dekonstruieren. Er wurde damit zum herausragenden politischen Gegenspieler des bisherigen Ministerpräsidenten Rutte vom VVD. Allerdings zeigte sich auch bereits während des äußerst kurzen (ca. 3-4 Wochen) und heftig geführten Wahlkampfs, dass alle Koalitionsoptionen, außer der einer Großen Koalition aus VVD und PvdA, so gut wie unmöglich waren, wollte man nicht auf eine weitere Legislaturperiode mit fragilen Mehrheitsverhältnissen bzw. dubiosen Partnern wie der PVV, der SP, der Tierrechtspartei oder der Rentnerpartei zusammenarbeiten.

Das Ergebnis der Wahlen am 12. September war dann zwar in der Höhe des Sieges von VVD und PvdA (beide gewannen noch einmal 10 bzw. 8 Sitze hinzu) überraschend deutlich, aber eine Mehrheit und damit mögliche Regierungsbildung dieser beiden Parteien zeichnete sich bereits in der letzten Woche vor den Wahlen ab.

Die großen Verlierer dieser Wahlen waren Wilders PVV (die von 24 auf 15 Sitze fiel) sowie die SP Roemers, die trotz anfänglich günstiger Umfragen, bei 15 Sitzen stagnierte. Dramatisch, von 10 auf 3 Sitze, verloren auch die Grünen (Groen-Links) unter ihrer erstmals antretenden und mittlerweile bereits wieder abgetretenen Spitzenkandidatin Jolande Sap, sowie der bereits 2010 nahezu halbierte CDA (2008:41 Sitze, 2010: 21, 2012: 13), dessen Wählerschaft die Zusammenarbeit mit Wilders offensichtlich für wesentlich dramatischer hielt, als eine Mehrheit des Parteiapparates dies wahrhaben wollte. Diese erneute Niederlage des CDA dürfte einerseits mit der Zusammenarbeit mit Wilders zusammenhängen, war und ist der CDA in vielen Politikbereichen doch immer noch eine stark christlich-sozial geprägte Partei, andererseits mit der zunehmenden Entkonfessionalisierung nicht nur in den protestantischen Landesteilen, sondern mittlerweile und deutlich später auch in den katholischen Südprovinzen Limburg und Nord-Brabant. Vor allem Limburg wählte 2010 massiv Wilders und die PVV (Wilders stammt aus dem nordlimburgischen Venlo) und 2012 den VVD, so dass in diesem Zusammenhang von einer Entkonfessionalisierung der katholischen Landesteile nach rechts gesprochen werden kann.

In den unmittelbar nach den Wahlen beginnenden Koalitionsverhandlungen zwischen den beiden großen Wahlsiegern hatten VVD und PvdA eine Reihe von grundsätzlichen innenpolitischen Problemen anzugehen, z.B. die Höhe der Krankenversicherungsbeiträge sowie zahlreiche weitere Fragen zur Sozial- und Wirtschaftspolitik. Überraschend schnell, für niederländische Verhältnisse, kamen die Verhandlungsführer beider Parteien nach nur ca. sieben Wochen zu konkreten Verhandlungsergebnissen.

Neben den wesentlichen innenpolitischen Streitpunkten wogen auch die Gegensätze in der Europapolitik schwer. Zwar gelten beide Parteien historisch gesehen als (gemäßigt) pro-europäisch, allerdings wird Europa von nahezu gegensätzlichen Standpunkten aus betrachtet. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass Samsom als Spitzenkandidat der PvdA mehrfach die pro-europäischen Grundsätze seiner Politik und der PvdA betonte und sich nachhaltig für weitere Hilfsprogramme für die "Krisenstaaten" ausgesprochen hatte. Der VVD hingegen hatte immer die strikte Linie von Haushaltssanierung und Sparprogrammen vertreten und sich als enger Verbündeter der deutschen Bundesregierung im Kampf gegen die "Krise" gesehen.

Die Ernennung des engagierten Europäers Frans Timmermanns (PvdA) zum Außen- und Europaminister dürfte in dieser Hinsicht ein deutliches Signal sein. Timmermanns, bereits mehrfach Staatssekretär für Europafragen, und eines der europapolitischen "Aushängeschilder" der niederländischen Politik, gilt als klarer Vertreter eines deutlichen Kompetenzzuwachses für Europa bei gleichzeitigem Ausbau bzw. Beibehaltung der Unterstützung für die Krisenstaaten. Auch der neue Vizepremier Lodewijk Asscher (PvdA) steht auf dem explizit pro-europäischen Flügel der PvdA. Zusammen mit Samsom, der Fraktionsvorsitzender in der zweiten Kammer bleibt, ist die PvdA in der neuen Koalition deutlich pro-europäisch und darüber hinaus politisch stark auf die Richtung der europäischen Wirtschaftspolitik des französischen Präsidenten Hollande ausgerichtet. Dies mag manchem im VVD als zu weit gehendes Zugeständnis an die Sozialdemokraten gelten und es ist davon auszugehen, dass beide Parteien einen Mittelweg in Bezug auf die europäische Finanzpolitik einschlagen werden, der zwischen den Positionen Deutschlands und Frankreichs verlaufen wird. Allerdings haben sich die Liberalen diesen Politikwechsel "teuer bezahlen lassen" denn im Gegenzug haben sie eine deutliche Kürzung der Entwicklungshilfe (um 1 Mrd. Euro) durchgesetzt. Diese Kürzungen sind für die traditionell stark auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtete PvdA problematisch, weil selbst unter der Tolerierung Wilders die seinerzeitige Regierung aus VVD und CDA, auf Druck des CDA, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit "nur" um ca. 500 Millionen Euro gekürzt hatte, obwohl Wilders wiederholt eine Reduzierung auf Null gefordert hatte.

Europapolitisch ist, trotz des bitteren Beigeschmacks in Bezug auf die Entwicklungszusammenarbeit, ein Durchbruch gelungen. Als Fazit lässt sich festhalten, dass es den antieuropäischen Populisten von links (SP) und rechts (PVV) nicht gelungen ist, die Angst gegen Europa weiter zu schüren, sondern es scheint vielmehr so zu sein, dass die Niederlande nach ca. 10 Jahren der (europa)politischen Verirrungen wieder an ihre Tradition als pro-europäisches Land anschließen wollen. Ob dieser Neubeginn in europapolitischer Hinsicht Erfolg haben wird, wird auch davon abhängen, ob es der sozial-liberalen Koalition gelingen wird, die weiterhin vorhandenen sozial- und wirtschaftspolitischen Gegensätze zu überwinden und für ihre Gesamtkonzeption von Politik auch in der ersten Kammer eine Mehrheit zu finden, denn dort benötigen sie den CDA oder die linksliberalen D66, um ihre politischen Ziele umsetzen zu können.

Sollten die oben angesprochenen Probleme gelöst werden und das Kabinett Bestand haben, so könnte das Kabinett Rutte II als erstes post-populistisches Kabinett in die jüngere Geschichte eingehen, das die positiven europapolitischen Traditionen beider Parteien und der Niederlande insgesamt wieder betont und zugleich ein weiteres Gegengewicht zur Austeritätspolitik der Bundesregierung darstellt.

Zu wünschen wäre dies nicht nur den Niederlanden, sondern auch der EU, die für jeden stabilen pro-europäischen Partner in diesen unsicheren Zeiten des anti-europäischen Populismus dankbar ist.


Siebo M. H. Janssen (* 1969), Politikwissenschaftler und Historiker, ist Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen zu den Themen: Europäische Integration, Politische Ideengeschichte, Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Politische Systeme der Benelux-Staaten und der USA.
(janssensmh@gmail.com)

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012, S. 10-12
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2013