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IRLAND/007: Martin McGuinness - Keine Alternative zu Dialog und Verständigung (Info Nordirland)


Info Nordirland - 31. August 2014

Rede von Martin Mc Guinness zum 20. Jahrestag des Waffenstillstands der IRA von 1994

Keine Alternative zu Dialog und Verständigung



Der stellvertretende Regierungschef Nordirlands Martin McGuinness war Anfang der siebziger Jahre Mitglied der IRA und ist seit vielen Jahrzehnten neben Gerry Adams und anderen Teil des kollektiven Führungsteams der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin. Heute hielt er im nordirischen Derry die zentrale Ansprache anlässlich des 20. Jahrestags des kompletten und unbefristeten Waffenstillstands der IRA vom 31. August 1994. Der Waffenstillstand war das Ereignis, das alle weiteren Schritte zur politischen Lösung des Nordirlandkonflikts erst möglich machte. Martin McGuinness warnt, der politische Prozess in Nordirland sei durch politische Stagnation und fehlende Weiterentwicklung in Gefahr:

"Heute vor 20 Jahren verkündete die IRA ihren Waffenstillstand, das vollständige Ende aller militärischen Aktivitäten. Diese einseitige Initiative der IRA-Führung durchbrach den Kreislauf des Konflikts in unserem Land und eröffnete neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Aber die späteren Erfolge des Friedensprozesses und die Transformation der Politik auf dieser Insel und zwischen dieser Insel und Britannien, die durch diese couragierte Initiative von 1994 möglich wurden, kamen nicht automatisch. Große Bemühungen und individuelles Einstehen, Mut und Hartnäckigkeit, sowie das persönliche Engagement politischer Schlüsselfiguren spielten eine wichtige Rolle.

Kollektive Anstrengung

Der Dialog zwischen Gerry Adams und John Hume war der Beginn dessen, was später als irischer Friedensprozess bekannt wurde. Aber viele andere spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Insbesondere arbeitete Vater Alex Reid unermüdlich daran, Dialog aufrecht zu erhalten und weiterzuentwickeln. Und das zu einer Zeit die durch Zensur und Ausgrenzung gekennzeichnet war. Anfang dieser Woche beerdigten wir Albert Reynolds, Taoiseach (irischer Premierminister) zur Zeit des Waffenstillstands von 1994. Albert spielte eine Schlüsselrolle für die Bildung des wichtigen Fundaments dieser Initiative. Er beendete persönlich die verfehlte und schändliche Politik der Isolation, der Zensur und der Unterdrückung, die die traditionelle Antwort des irischen Establishments auf den Konflikt waren. Die Ignoranz irischer Regierungen gegenüber den Ausschreitungen des (nordirischen) Oranierstaates und fehlende Unterstützung der nordirischen Nationalisten war einer der Gründe für den Konflikt im Norden Irlands. Albert Reynolds änderte diese Politik und autorisierte direkte Diskussionen seines Büros mit Sinn Féin. Sein Mut zu diesem Schritt zeichnet ihn aus. Genauso wie (den britischen Premiermister) Tony Blair und (den amerikanischen) Präsident Clinton, die die verfehlte Politik der Isolation und Unterdrückung in Frage stellten.

Die kollektive Anstrengung dieser Leute, erfahrene politische Führer und normale Bürger, führte schliesslich zur Transformation der politischen Landschaft auf dieser Insel. Und trotz der anhaltenden Schwierigkeiten sollte niemand der Erfolg unterschätzen oder kleinreden, insbesondere wenn man die Konflikte in anderen Ländern betrachtet. Trotz unserer offensichtlichen politischen Differenzen möchte ich all denen, die in unseren erfolgreichen Friedensprozess involviert waren, ob als Mitlgied einer Partei oder als Parteilose, gratulieren. Dialog war in Irland der Schlüssel zum Erfolg. Er ist auch heute des Schlüssel für Fortschritt und die Alternative zu fürchterlichem Konflikt, in Gaza, in Syrien, in Afrika oder in der Ukraine.

Demokratische Alternative

Als irische Republikaner betraten wir die frühe Bühne des Friedensprozesses mit dem tiefsten (und gesündesten) Skeptizismus bezüglich der britischen Absichten. Einige winzige republikanische Dissidentengruppen beharren auf dem Konflikt und der Vergangenheit trotz der politischen Transformation unserer Gesellschaft. Aufeinanderfolgende Abkommen, die von der großen Mehrheit der irischen Gesellschaft unterstützt werden, haben den Grund für den bewaffneten Kampf überwunden und eine friedliche und demokratische Alternative geschaffen. In 1994 war Dialog der einzige Weg, um die Konfliktspirale zu überwinden und irische Republikaner begannen diesen Dialog voller Zuversicht. Ich möchte heute die Dissidenten, die sich immer noch dem bewaffneten Kampf verpflichtet fühlen, drängen, denselben Schritt in die Politik und weg vom Konflikt jetzt in 2014 zu tun. Es kann keine Rückkehr zur Gewalt und zur Unterdrückung geben, die diese Gesellschaft so lange gezeichnet haben.

Eine Verpflichtung zum Dialog und die Zuversicht, diesen Dialog als irische Republikaner zu führen, aber mit dem Willen, den Sichtweisen der anderen zuzuhören, waren wichtige und zentrale Elemente des bisherigen Erfolgs. Die Abwesenheit von Dialog und die fehlende Verpflichtung auf Dialog als den Weg, um Meinungsverschiedenheiten zu lösen, ist der Kern der wachsenden Schwierigkeiten, denen wir uns in unserem Friedensprozess derzeit in einer Reihe von Themen gegenübersehen. Anstatt Fortschritt bezüglich der Themen Identität, Märsche und der Aufarbeitung der Vergangenheit zu machen, und sich dabei auf die wichtige Arbeit von Richard Haass und Megan O'Sullivan zu stützen, haben sich die DUP und die UUP in eine Koalition mit den unionistischen (pro-britischen) Gegnern des Friedensprozesses und loyalistischen (pro-britischen) Paramilitärs zurückgezogen.

Negative Politik unionistischer Politiker

Diese Vereinigung von Unionismus und Loyalismus auf Basis negativer Politik hat seine Ursprünge in den anti-demokratischen Protesten, die als Folge der Entscheidung des Belfaster Stadtrates entstanden, den Union Jack nicht mehr jeden Tag des Jahres zu hissen. Die Verschlechterung der politischen Beziehungen hat ihren Ursprung in der Unfähigkeit des Unionismus, demokratische Entscheidungen der Belfaster Stadträte zu akzeptieren und einzusehen. Die Entscheidung, die Fahne nur noch an besonderen Tagen zu hissen, ist eine Position des Kompromisses - ein Kompromiss, den Sinn Féin mitgetragen hat. Aber die unionistischen Parteien waren unfähig, diesen Kompromiss zu akzeptieren und sind gegen diese demokratische Entscheidung Sturm gelaufen. Diese Unfähigkeit - die Unfähigkeit, demokratische Entscheidungen zu akzeptieren, die Unfähigkeit, auf einen Kompromiss hinzuarbeiten, die Ablehnung, kritische Themen durch Dialog und Verhandlungen zu lösen - ist nun der Kern des Problems, dem wir gegenüberstehen. Der politische Unionismus hat sich vom Dialog verabschiedet und hat die Haltung der Oranierorden übernommen, Diskussionen durch Vorbedingungen und durch zuvor festgelegte Ergebnisse zu ersetzen. Das Versagen der Oranierorden, einen Prozess der vernünftigen Auseinandersetzung mit den Anwohnern in Ardoyne zu beginnen, spiegelt sich nun in der Politik und der Aufstellung der gesamtunionistischen Koalition. Die Bereitschaft zum Dialog ist nun abhängig von der Erlaubnis eines Oraniermarsches durch ein pro-irisches Gebiet in Nordbelfast.

Und die Ablehnung von Dialog und Verhandlungen hat sich wie ein Virus auf andere Themen ausgebreitet, darunter auch solche, zu denen es schon längst eine Übereinkunft gab, wie zum Beispiel die Entwicklung des Maze/Long Kesh - Arreals (das Gebiet auf dem das frühere Hochsicherheitsgefängnis Maze lag, das Republikaner als "Long Kesh" bezeichnen).

Dasselbe passiert mit den sozialen Einschnitten. Die Haltung der DUP ist, dass wir alle Einkommenseinbußen für die Ärmsten in unserer Gesellschaft akzeptieren sollen, nur weil die DUP die Anti-Armen-Agenda der Tory-Millionäre in London befürwortet. Sie lehen weitere Diskussionen zu den Einschnitten ins Sozialsystem ab, die die britische Regierung unserer Regionalregierung aufzwingen will und die nicht Teil unseresabgestimmten Regierungsprogrammes sind. Und ich sage ganz deutlich - Sinn Féin ist in scharfer Opposition zum Tory Programm der Sozialreform, weil es ein rechter, ideologiegetriebener Angriff auf die Ärmsten und Schwächsten in unserer Gesellschaft ist. Diese Einschnitte ins Sozialsystem würden die Rechte und Ansprüche vieler Menschen in den unionistischen und loyalistischen Vierteln untergraben und durch Reduktion von Unterstützungsleistungen ganze Familien in tiefere Armut stürzen.

Dreimal in den letzten sechs Monaten hat die DUP die politischen Institutionen bedroht, falls sie nicht ihren Willen durchsetzen. Das erste Mal zum Thema der OTRs; das zweite Mal als Antwort auf die Entscheidung der Parades Commission (Behörde, die über umstrittene Aufmärsche oder Demonstrationen entscheidet), den Oraniermarsch auf der Crumlin Road zu reglementieren; und das dritte Mal bezüglich der Kürzungen im Sozialbereich. Aber ernsthaft bedroht werden die politischen Institutionen durch Stagnation und fehlende Erfolge. Die echte Bedrohung ist der Rückzug des politischen Unionismus aus Dialog, Kompromiss, Abkommen und Versöhnung. Und da geht es nicht um liebgewonnene politische Einstellungen oder Positionen.

Neuer Fokus auf Weiterführung des Friedensprozesses nötig

Republikaner haben verstanden, dass Abkommen und Kompromisse dazu dienen, eine bessere Zukunft für alle unsere Menschen zu schaffen. Es geht um Versöhnung und darum zu lernen, mit unseren verschiedenen politischen Vorstellungen und Perspektiven zu leben. Ich habe persönlich versucht, die unonistische Bevölkerung zu verstehen, auf sie zuzugehen. Nicht zuletzt durch mein Engagement mit Queen Elisabeth. Aber Versöhnung ist keine Einbahnstrasse. Unionistische Führungspersönlichkeiten müssen sich in ähnlichen Initiativen engagieren. Sie müssen auf die verschiedenen republikanischen und nationalistischen Traditionen zugehen und auch auf die neuen und vielfältigen Traditionen, aus denen sich unsere moderne Gesellschaft zusammensetzt.

So gibt es eine enorme Verpflichtung für all diejenigen, die den enormen Erfolg anerkennen, den wir seit dem Waffenstillstand der IRA von 1994 gemacht haben und weiterhin machen, sich Gehör zu verschaffen. Der offensichtliche gute Wille, der existiert, die Unterstützung für die Allparteienregierung und für eine gemeinsame Zukunft, die in der nordirischen Zivilgesellschaft existiert, müssen sichtbarer werden. Und auch die internationalen Unterstützer des Friedensprozesses, insbesondere in den USA, müssen ihr Interesse zeigen und ihren Einfluss geltend machen.

In all dem haben die beiden Regierungen die Pflicht, entschieden zu handeln, um die neue politische Dispension zu verteidigen. Eine zentrale Säule des Friedensprozesses war die Einmischung der US-Administration bei Schwierigkeiten und die Rolle der beiden Regierungen (der irischen und der britischen), gemeinsam als Garanten des Prozesses zu agieren. Die beiden Regierungen müssen nun entschieden handeln, um ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Sie müssen Fortschritt ermöglichen, nicht wie in der jüngsten Vergangenheit, Trägheit decken. Die negative Achse der Gegner des Friedensprozesses muss verstehen, dass es keine Rückkehr in die Vergangenheit gibt, dass Einparteien-Herrschaft, Diskriminierung und Unterdrückung vorbei sind und nicht wiederkehren.

Wir brauchen einen neuen Fokus derer, die den Prozess unterstützen. Das sind Herausforderungen für uns alle für die nächste Regierungsperiode, aber ich bin überzeugt, dass wir eine Lösung finden werden, um die Schwierigkeiten, in denen der politische Prozess steckt, zu überwinden. Das erfordert Fokus, Aufmerksamkeit und Geduld, aber durch ehrliches Engagement aller Parteien und pragmatisches Handeln der britischen und irischen Regierungen können wir Erfolg erzielen. Dialog und die Suche nach Konsens bringt viele Herausforderungen mit sich. Das ist eine klare Lektion der letzten zwanzig Jahre. Aber es gibt keine Alternative zu diesem einzigen Weg in Richtung einer gemeinsamen und besseren Zukunft auf dieser Insel."

(Vollständiger Text der Rede von Martin McGuinness übersetzt aus dem Englischen von Uschi Grandel)

Erstveröffentlichung:
Sinn Féin, 31. August 2014
http://www.sinnfein.ie/contents/31319

Die Rede ist auf der Internetseite Info Nordirland zu finden unter:
Martin McGuinness (31.8.2014):
"Keine Alternative zu Dialog und Verständigung"
http://www.info-nordirland.de/news/2014/new2014_016_d.htm

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Quelle:
Info Nordirland / Baskenland
c/o Dr. Uschi Grandel
Holzhaussiedlung 15, 84069 Schierling
Telefon: 0049.(0)9451.949859
E-Mail: info@info-nordirland.de
Internet: www.info-nordirland.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2014