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ITALIEN/368: Empörung über Schandurteil - Flüchtlingshelfer Mimmo Lucano zu 13 Jahren Haft verurteilt (Gerhard Feldbauer)


Empörung über Schandurteil

Helfer der Migranten Mimmo Lucano zu 13 Jahren Haft verurteilt

von Gerhard Feldbauer, 4. Oktober 2021



Foto: Secretaría de Cultura de la Nación, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Domenico Lucano - Aufnahme vom 3. Juli 2017 in Buenos Aires, Argentinien
Foto: Secretaría de Cultura de la Nación, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Ein Gericht in Locri in der süditalienischen Region Kalabrien hat den bekannten Flüchtlingshelfer und früheren Bürgermeister der kleinen, kaum mehr als 2.000 Einwohner zählenden Gemeinde Riace, Mimmo (Domenico) Lucano, zu 13 Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Das Strafmaß liegt fünf Jahre höher als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Der 63-Jährige wurde der Beihilfe zu illegaler Migration, des Betrugs, der Veruntreuung, des Amtsmissbrauchs und der Bildung einer kriminellen Vereinigung beschuldigt, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur ANSA. Außerdem muss Lucano 500.000 Euro, die die Regierung in Rom und die EU für die Flüchtlinge bereitgestellt hatte, zurückzahlen. Seit Oktober stand Lucano unter Hausarrest. Der Verurteilte, der den Richterspruch als eine "Unerhörte Geschichte" bezeichnete, erklärte: "Mir fehlen die Worte; das habe ich nicht erwartet." Er habe sein Leben damit verbracht, gegen die Mafia zu kämpfen, sich auf die Seite der Schwachen gestellt, und nun werde er wie ein Mafioso verurteilt. Seine Anwälte Giuliano Pisapia und Andrea Daqcua, die den mittellosen Angeklagten kostenlos verteidigten, sprachen von einem "politisch motivierten" Prozess, einer "ungerechtfertigten Verurteilung, die völlig im Widerspruch zu den Beweisen steht". Ihr Mandant lebe in Armut und habe keine finanziellen oder anderweitigen Vorteile aus seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Riace gezogen. Sie legten sofort nach der Verlesung des Urteils Berufung ein.

Lucano gehörte zu den Bürgermeistern wie Leoluca Orlando aus Palermo, Luigi de Magistris aus Neapel oder Giuseppe Sala aus Mailand, die sich weigerten, das vom damaligen Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini (2018/19 im Amt), dem Chef der faschistischen Lega eingebrachte rassistische und gegen die Verfassung verstoßende "Sicherheitsgesetz" anzuwenden. Lucano trat für die Öffnung der Häfen für Schiffe mit Flüchtlingen und damit die Bürger- und Menschenrechte auch für Migranten ein. Er brachte sie in leer stehenden Häusern unter und half ihnen materiell. Dass er Italiener, die Migrantinnen heirateten, bei der Eheschließung unterstützte, wurde ihm im Prozess als Organisierung von Scheinehen, mit denen er den Frauen Aufenthaltsgenehmigungen verschafft habe, angelastet. Dass er die Abfallentsorgung des Dorfes nicht öffentlich ausgeschrieben und stattdessen an Genossenschaften, denen Migranten angehörten, vergab, zählte als Amtsmissbrauch.

Riace wurde unter seinem Bürgermeister Lucano weltweit bekannt, erhielt den inoffiziellen Beinamen "Willkommensstadt". 2016 wurde ihr Bürgermeister in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des Fortune-Magazins eingestuft. 2010 wurde Lucano als drittbester Bürgermeister der Welt ausgezeichnet und diente als Inspiration für einen Film von Wim Wenders. Die Stadt Dresden zeichnete ihn 2017 mit ihrem Internationalen Friedenspreis aus.


Foto: Marcuscalabresus, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Die kleine Gemeinde Riace 2014 - heute weltbekannt als "Willkommensstadt"
Foto: Marcuscalabresus, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Das Urteil hat nicht nur in Italien eine Welle der Empörung ausgelöst. Seenotrettungsorganisationen reagierten entsetzt auf das Urteil und das Strafmaß. Lucano habe seiner Stadt Leben und Zukunft durch Willkommenskultur und Solidarität gegeben, twitterte Sea-Watch Italien. Die Gruppe Mediterranea Saving Humans bezeichnete das Urteil als beschämend. Das linke Manifesto verweist auf den politischen Hintergrund, dass am kommenden Sonntag/Montag in Kalabrien ein neues Parlament und ein Präsident gewählt werden und Lucano für den Regionalrat kandidiert.

Während Linke empört reagieren, begrüßt die faschistische Allianz den Richterspruch und erhofft sich für ihren Präsidentschafts-Kandidaten bei der Wahl Stimmenzuwachs. "Die Linke stellt Kandidaten auf, die zu 13 Jahren Haft verurteilt wurden", hetzt Lega-Chef Salvini. Beobachter verweisen darauf, dass das Urteil gegen Lucano am Vorabend der Wahlen gefällt wurde, während der Prozess gegen Salvini wegen seiner verfassungsfeindlichen Flüchtlingsabwehr, gegen die Lucano Widerstand leistete, verschoben wurde.


Foto: Hiruka komunikazio-taldea, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

20. Juli 2018 - Solidaritätsveranstaltung "Offene Grenzen" im Amphitheater von Riace (vorne rechts Domenico Lucano)
Foto: Hiruka komunikazio-taldea, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

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Quelle:
© 2021 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021

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