Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 9. November 2023
german-foreign-policy.com
EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine
Von der Leyen empfiehlt Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Tritt diese bei, erhielte sie rund ein Achtel aller Mittel aus dem EU-Haushalt; zentrifugale Kräfte nähmen in der Union zu.
KIEW/BRÜSSEL - EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen empfiehlt den EU-Mitgliedstaaten die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Wie von der Leyen am gestrigen Mittwoch erklärte, habe Kiew die Voraussetzungen dafür zu "mehr als neunzig Prozent" erfüllt; nachgebessert werden müsse nur noch beim Kampf gegen die Korruption und bei Minderheitenrechten. Letztere müssten allerdings, so heißt es in Brüssel, nicht für den russischsprachigen Bevölkerungsteil gelten. Zwar ist der Beitritt der Ukraine auch dann, wenn die Staats- und Regierungschefs den Verhandlungen darüber Mitte Dezember zustimmen, nicht sicher. Doch wäre er mit gravierenden Umbrüchen in der Union verbunden. So müssten alle heutigen Mitgliedstaaten, bleibt der aktuelle Finanzrahmen erhalten, ihre Zahlungen in den EU-Haushalt deutlich erhöhen; zugleich würden die Mittel aus der Gemeinsamen Agrarpolitik für die jetzigen EU-Staaten um ein Fünftel gesenkt, während ein Achtel des gesamten EU-Budgets - rund 186 Milliarden Euro - an Kiew gingen. Experten warnen zudem, die zentrifugalen Kräfte in der EU nähmen weiter zu. Auch werde sich das Gravitationszentrum der Union noch weiter nach Osten verschieben.
Die Konsequenzen eines etwaigen EU-Beitritts der Ukraine wurden auf der Ebene der EU-Staats- und Regierungschefs laut einem Bericht der Financial Times zum ersten Mal Ende Juni ernsthaft diskutiert. Der Gedanke, das Land könne in die EU aufgenommen werden, sei noch vor nicht allzu langer Zeit als "absurd" eingestuft worden, hielt die Zeitung fest. Nun allerdings werde er detailliert erörtert.[1] Eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine werde gravierende Umbrüche bringen. Gemessen an der Vorkriegsbevölkerung wäre das Land das fünftgrößte der Union - nach Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien -, während es zugleich das mit Abstand ärmste wäre. Man müsse daher mit weitreichenden Folgen für den EU-Haushalt rechnen. Das gelte insbesondere für die Gemeinsame Agrarpolitik und für den EU-Kohäsionsfonds, die zusammen rund 62 Prozent des für einen Siebenjahreszeitraum geltenden EU-Etats ausmachten - im aktuellen Budget (2021 bis 2027) rund 370 Milliarden Euro. Einen Eindruck davon, worum es geht, vermittelte die Financial Times mit dem Hinweis, die landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Ukraine überträfen das Territorium Italiens; in der Landwirtschaft seien annähernd 14 Prozent der ukrainischen Bevölkerung tätig. In der heutigen EU liegt der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft bei unter 2 Prozent.[2]
Anfang Oktober legte die Financial Times unter Berufung auf interne Berechnungen der EU-Kommission konkrete Zahlen vor. Brüssel ging von der Annahme aus, man könne die Ukraine nicht integrieren, ohne gleichzeitig die sechs Staaten und Territorien Südosteuropas aufzunehmen, denen schon seit Jahrzehnten die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden sei: Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien sowie das Kosovo. Rechne man auch eine - nur wenig ins Gewicht fallende - Aufnahme Moldaus und Georgiens ein, dann müsse der EU-Siebenjahreshaushalt von zur Zeit 1,211 Billionen Euro um 21 Prozent auf 1,465 Billionen Euro aufgestockt werden - gut 256,8 Milliarden Euro mehr als bei einem Fortbestand der EU-27. Davon gingen 186 Milliarden Euro, rund ein Achtel des gesamten EU-Budgets, allein an die Ukraine, während vor allem Deutschland, Frankreich und die Niederlande erheblich höhere Summen in den EU-Haushalt einzahlen müssten; gleich mehrere heutige Nettoempfänger würden zu Nettozahlern.[3] Insbesondere würden die Mittel aus dem EU-Agrarhaushalt, die an die heutigen Mitgliedstaaten überwiesen würden, um ein Fünftel gekürzt, besagen die Berechnungen der EU-Kommission. Das wären Einbrüche jenseits dessen, was die Mitgliedstaaten womöglich noch hinzunehmen bereit sind.
Kiew dringt zusätzlich bereits auf umfassende Kurskorrekturen in der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. So erklärt der stellvertretende Wirtschaftsminister der Ukraine, Taras Katschka, der in Handels- und Wirtschaftsfragen für Verhandlungen mit Brüssel zuständig ist, die EU-Erweiterung werde "eine komplexe Neubewertung der Gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich machen".[4] Gegenwärtig werden die Agrarzuschüsse für Betriebe mit sehr großen Nutzflächen gedeckelt, um kleinere, weniger finanzkräftige Betriebe zu fördern. Nach Angaben von Eurostat besitzen nun allerdings Agrarkonzerne in der Ukraine besonders große Nutzflächen - im Durchschnitt 485 Hektar, während sich die Durchschnittsgrößen etwa in Frankreich auf 30, in Polen auf 8 Hektar belaufen. Katschka erklärt, er gehe davon aus, dass sich derlei Mechanismen, die für die Ukraine ungünstig seien, ändern ließen.[5] Ob derlei Korrekturen zum Nachteil der heutigen EU-Mitgliedstaaten durchsetzbar sind, muss freilich bezweifelt werden. Bereits ukrainische Getreidelieferungen in die EU hatten in mehreren östlichen Mitgliedstaaten, insbesondere in Polen, massive Proteste ausgelöst; Polen, Ungarn und die Slowakei untersagten zuletzt im September in nationalen Alleingängen den Import von Getreide aus der Ukraine.[6] Ein EU-Beitritt des Landes brächte ihnen viel größere Einbußen ein.
Darüber hinaus warnen Experten vor der weiteren Verstärkung zentrifugaler Kräfte in der Union. Die Washingtoner Brookings Institution etwa stellte in einer im Juli veröffentlichten Analyse fest, derlei Kräfte nähmen seit mindestens einem Jahrzehnt deutlich zu. So seien in der Eurokrise in den Jahren ab 2010 die Beziehungen zwischen den reicheren und den ärmeren Mitgliedstaaten "weniger kooperativ" geworden und hätten "einen antagonistischen Charakter angenommen", der nicht wieder verschwunden sei.[7] In der "Flüchtlingskrise" in den Jahren ab 2015 sei das Prinzip der "fairen Umverteilung" der Flüchtlinge von den östlichen Mitgliedstaaten missachtet worden. Auch dies habe dem Zusammenhalt in der EU geschadet. Im Jahr 2015 hätten sich die östlichen und südöstlichen Mitgliedstaaten zu der Gruppierung der Bucharest Nine zusammengeschlossen, die sich unter starkem US-Einfluss befinde und mit Ausnahmen - Ungarn, seit kurzem auch wieder die Slowakei - besonders leicht für US-Interessen mobilisierbar sei.[8] Insgesamt hätten "die Länder Westeuropas die klare Auffassung", dass sich "das Gravitationszentrum der EU-Prioritäten nach Osten verschoben" habe, urteilt die Brookings Institution. Mit einem Beitritt der Ukraine nehme diese Tendenz voraussichtlich noch weiter zu.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Mitgliedstaaten am gestrigen Mittwoch empfohlen, Beitrittsgespräche mit der Ukraine aufzunehmen; die Voraussetzungen dafür habe Kiew zu "mehr als neunzig Prozent" erfüllt.[9] Mängel gebe es noch im Kampf gegen Korruption; so müssten etwa die Lobbygesetzgebung an EU-Standards angepasst und die Vermögenserklärungen von Beamten überprüft werden. Auch beim Minderheitenschutz müsse die Ukraine weiter nachbessern. Vor allem Ungarn streitet sich seit Jahren mit der ukrainischen Regierung um allerlei Sonderrechte für die ungarischsprachige Minderheit. In Brüssel hieß es gestern, man lege Wert darauf, dass die ungarisch-, die polnisch- und die bulgarischsprachige Minderheit Sonderrechte erhielten; für russischsprachige Ukrainer - die mit großem Abstand wichtigste Sprachgruppe im Land - gelte dies jedoch nicht.[10] Über den Stand der Dinge und die tatsächliche Aufnahme der Beitrittsgespräche sollen die Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember entscheiden. Stimmen sie zu, wird die Kommission einen Verhandlungsrahmen erstellen, den wiederum die Staats- und Regierungschefs im Frühjahr billigen könnten. Grundsätzlich ist damit der Weg für die Ukraine in die EU offen - allerdings besteht keine Beitrittsgarantie. Bezeugen kann dies die Türkei: Die EU nahm im Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit ihr auf, kam damit allerdings nicht weit. Ein türkischer Beitritt gilt heute als ausgeschlossen.
[1] Sam Fleming, Henry Foy: The 'monumental consequences' of Ukraine joining the EU. ft.com 06.08.2023.
[2] Farmers and the agricultural labour force - statistics. ec.europa.eu November 2022.
[3] Henry Foy: EU estimates Ukraine entitled to EUR186bn after accession. ft.com 04.10.2023.
[4], [5] Gerardo Fortuna: Ukraine's EU membership will trigger a rewriting of CAP, says Kyiv official. euractiv.com 06.10.2023.
[6] Camille Gijs: Poland, Hungary, Slovakia impose own Ukraine grain bans as EU measure expires. politico.eu 16.09.2023.
[7] Carlo Bastasin: Want Ukraine in the EU? You'll have to reform the EU, too. brookings.edu July 2023.
[8] S. auch Osteuropas geostrategische Drift.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8412
[9], [10] Thomas Gutschker: Ein Feld weiter, immer unter Bedingungen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.11.2023.
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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. November 2023
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