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INNEN/417: Europa - Wo nur sind Deine Anwälte? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008

Europa - Wo nur sind Deine Anwälte?

Von Thomas Meyer


Das Elend des blame game

Das Projekt der europäischen Einigung ist, wer könnte das leugnen, im Ganzen gesehen eine große Erfolgsgeschichte. Fast unwahrscheinlich in seinem Gelingen. Ein großer, zerrissener Kontinent wächst von unten her politisch zusammen. Der europäische Fußgänger aber erblickt ringsum nichts als Schlaglöcher, unwegsames Gelände, Streit, Kompromisse, Unzulänglichkeiten, alltägliches Versagen, kurz: alle möglichen kleinen und großen Rückschläge, Tag für Tag. Er möchte meinen, zu besichtigen sei nicht viel mehr als eine endlose Misere. Beides, die große Linie und die Mühen der Ebene fügen sich kaum noch zusammen. Weder im Handeln der europäischen Akteure, noch in seiner medialen Spiegelung und daher auch nicht mehr im Bewusstsein der Bürger Europas. Was Wunder?

In der nationalen Politik sind es die Rivalitäten im politischen Machtkampf, die, wie unzulänglich auch immer, schon im Interesse des eigenen Wahlerfolgs dazu nötigen, die Verbindungslinien zwischen dem Großen und dem Kleinen zu ziehen. Wer leistet dies heute für Europa? Wo sind die Anwälte des großen Projektes in den politischen Arenen der Mitgliedsländer? Wer trägt seine Leistungen und Vorzüge, engagierte Erklärungen seiner schwierigen Erfolgsbedingungen, hartnäckiges Werben für die nützliche Sache noch hinein in die nationalen politischen Debatten? Die traurige Bilanz ist nicht zu leugnen: Europa hat, wenn es am meisten darauf ankommt, keine Anwälte mehr. Den unverbindlichen Lobliedern der Feierstunden folgt meist unversehens die lieblose Distanzierung, sobald der politische Alltag beginnt.

Was sich für den kleinen und schnellen Beifall in der heimischen Arena am besten auszahlt, ist vielmehr das europäische blame game. Erst in Europa fröhlich mitbeschließen und sich dann zu Hause empört davon distanzieren. Erst die Vorteile des jeweiligen package, des von Fall zu Fall gefundenen Kompromisses, in Brüssel kassieren und dann dessen Nachteile in Berlin, London, Lissabon, Warschau oder Prag verständnislos geißeln. Ohne packages aber geht naturgemäß, wo 27 Interessen verbunden werden müssen, fast gar nichts. Das wissen alle, die es auf der kurzen Reise von Brüssel nach Hause dann scheinbar so gründlich vergessen. Das ist die Grundlage des blame game, das in Europa allmählich zum einzigen Spiel im Ort zu werden droht. Und das kommt nicht von ungefähr. Es ist für jeden Politiker eine mächtige, natürliche Versuchung. Gewählt werden sie ja alle zu Hause, und bis auf die wenigen, kaum bekannten Europapolitiker, anscheinend ausschließlich für das, was sie für die eigenen Wähler in Europa rausholen. Umständliche Erklärungen größerer Zusammenhänge helfen da, wie sie meinen, nicht weiter. Die Medien aber finden in und um Europa auch keine spannenden Geschichten und Heldenkämpfe, es sei denn, Korruption und Skandale kochen mal wieder hoch. Und die Intellektuellen, haben sie schon resigniert?

Wen wundert es da, dass Europa keine großen Fortschritte mehr macht, wenn die Zufuhr der Energien versagt, ohne die sie nicht möglich sind? Dabei ist das unwahrscheinliche Projekt, 27 Regierungen, die am Ende stets zu Haus abrechnen müssen, in so vielen Lebensfragen Tag für Tag zusammen führen zu müssen, mehr als jedes andere auf großzügige und starke Anwälte angewiesen. Wir haben es zuletzt bei der Initiative der französischen Ratspräsidentschaft für eine europäische Lösung der Finanzmarktkrise gesehen. Die wurde auch hierzulande allenfalls mit Fingerspitzen angefasst.


Europa braucht wieder Anwälte

Offenbar dominierte die Überzeugung, dass hausgemachte Erfolge sich beim heimischen Publikum besser auszahlen. Ohne verlässliche Anwälte aber hat Europa keine Chance, die Zuneigung seiner Bürger zu gewinnen. Und das wird immer schwerer. Sind die ganz großen Erfolge der EU-Gründung und ihrer Geschichte doch längst konsumiert und dem Gedächtnis seiner Bürger fast restlos entwichen. Der Friede zwischen den europäischen Nachbarn scheint selbstverständlich, die Demokratie ist längst Alltag in Ost und West und scheint manchem schon wieder als Bürde. Spürbar ist nur noch, was im Augenblick drückt. Auch die Wohlstandsleistungen, die die Union erst möglich macht, sind abgehakt. Was zählt, sind allein noch die Defizite. Gewiss, diese sind, wie die wachsende Unsicherheit und Ungleichheit, gravierend genug, aber keineswegs alle in Europa gemacht, wie die skandinavischen Erfolgsländer zeigen. Und jedenfalls gegen die EU nirgends zu überwinden.

Europa braucht, das ist schon wahr, besonders viel Geduld. Die Logik seines Fortschritts besteht nun einmal darin, dass sich 27 selbstbewusste Akteure immer neu auf schwierige Kompromisse verständigen, die zu Hause oft schwer zu vermitteln sind, zumal die populistischen Schnäppchenjäger von rechts und links mittlerweile in allen Ländern auf der Lauer liegen. Eine Herkulesaufgabe, Tag für Tag. Eine Logik, das liegt in der Natur der Sache, die eher der Echternacher Springprozession gleicht als einem kühnen Pfeilschuss. Anwalt Europas sein hieße, bei dieser Sachlage, das Unbequeme erklären und mit den großen Zielen zu verbinden. Zu Hause zu dem zu stehen, wozu man in Brüssel seine Zustimmung gegeben hat, auch wenn es weh tut. Es hieße auch, Verständnis dafür zu wecken, dass in Europa mehr noch als anderswo der Kompromiss die hohe Schule der Demokratie ist, die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden. Kein Honigschlecken angesichts der vielen Kleingeisterei in den Mitgliedsländern und gelegentlicher bürokratischer Verirrungen in Brüssel. Aber eine notwendige Pflicht, zu der es keine Alternative gibt. Sie allein aber zahlt sich am Ende aus.

Wie wäre es, wenn auch die Intellektuellen des Landes und die so wirkungsstolzen "Alphajournalisten" der Großmedien zur Abwechslung hin und wieder diesen Part übernähmen, statt das leichte Spiel der Geringschätzung immer wieder neu aufzulegen? Wie wäre es, wenn sie Politiker, die die Verantwortung dafür tragen, in die Pflicht nähmen und nachfragten, wie denn die europäischen Beschlüsse zustande kamen, von denen sie so rasch nichts mehr wissen? Auch eine europäische Bürgerbewegung, die Europa nicht als bloßes Eliteprojekt, sondern als seine eigene Angelegenheit versteht, wäre eine große Hilfe. Wir haben es einmal erlebt, als Amerika auf der Suche nach Willigen für seinen Irak-Krieg war. Das Europa der Bürger hat Weichen gestellt. Wir brauchen es, wenn die Stagnation überwunden und unser Regionalstaat neuen Auftrieb gewinnen soll. Schließlich müssen wir darauf vorbereitet sein, in der soeben entstehenden neuen Weltordnung eine der Hauptrollen zu übernehmen - und zwar in unserem eigenen Interesse. Das "Menü-Europa", für das Vivien Schmidt plädiert, kann für den ausbleibenden Erfolg des Ganzen ja nur eine Notlösung sein und vor allem eine, die nur wirkt, solange sie nicht zur Gewohnheit wird.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008, S. 45-46
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2009