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INNEN/474: Starke Nachfrage - Bürger wollen mehr EU-Referenden (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 130/Dezember 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Starke Nachfrage

Bürger wollen mehr EU-Referenden - die meisten Politiker zögern

Von Heiko Giebler


Bürger in den meisten EU-Ländern sprechen sich weitaus häufiger für die Ausweitung direktdemokratisch gefällter Entscheidungen aus als die politische Elite. Dies gilt insbesondere für Referenden über EU-Verträge. Dabei befürworten sowohl euroskeptische Bürger als auch euroskeptische Kandidaten für das Europaparlament Referenden eher als die Befürworter einer weiteren EU-Vertiefung. Über kurz oder lang werden sich Politiker diesem Druck wohl beugen müssen; die Gefahr, dass Referenden sich als Stolpersteine der europäischen Einigung erweisen, wird dadurch wachsen.


In den letzten Wochen und Monaten ist bürgerschaftliche Mitbestimmung einmal mehr in aller Munde. Das Nichtraucherschutzgesetz in Bayern, die Schulreform in Hamburg oder der Bau des neuen Bahnhofs in Stuttgart - Entscheidungen, die von demokratisch gewählten Mandatsträgern getroffen wurden, werden nicht nur infrage gestellt, sondern manchmal sogar durch Volksentscheide ausgehebelt. Dabei werden die Entscheidungen nicht nur inhaltlich kritisiert; es geht auch um die demokratische Qualität des Entscheidungsprozesses selbst.

Diese Kritik ist dabei nicht nur auf die nationale oder regionale Ebene politischen Handelns beschränkt. Insbesondere die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen durch Organe der Europäischen Union (EU) wird in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft gleichermaßen skeptisch beurteilt. Dies zeigt nicht zuletzt die Debatte in Deutschland über eine Volksabstimmung zum EU-Vertrag 2007. Die zunehmende Bedeutung Brüsseler Entscheidungen für Politik und Gesellschaft der Mitgliedstaaten erhöht die Brisanz dieser Legitimitätsdebatte.

Gibt es tatsächlich unter den Bürgern den Wunsch nach mehr direkter Beteiligung, und sind europäische Politikereliten bereit, diesen zu unterstützen und auch umzusetzen? Lassen sich Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten oder im Bezug auf die Einstellung zum europäischen Einigungsprozess identifizieren? Aufschluss kann eine Analyse auf Basis der Europäischen Wahlstudie 2009 und deren Kernkomponenten - einer Befragung der Bevölkerung und einer Befragung der Kandidaten bei den Wahlen zum Europaparlament in allen 27 Mitgliedstaaten - geben.

In beiden Untersuchungen wurden die Teilnehmer befragt, ob zukünftige Entscheidungen über EU-Verträge per Referendum getroffen werden sollen oder nicht. Die Unterschiede in den Zustimmungsquoten zwischen Bürgern und Kandidaten für die einzelnen Mitgliedstaaten fallen teilweise dramatisch aus (siehe Abbildung). Im europäischen Durchschnitt liegt die Forderung nach Referenden bei EU-Vertragsentscheidungen bei den Bürgern mehr als 30 Prozentpunkte über dem entsprechenden Wert bei den Kandidaten. In nur zwei Ländern, Slowenien und der Slowakei, ist die Befürwortung bei den Kandidaten höher als in der Bevölkerung. In beiden Ländern fand bislang jeweils ein Referendum zum EU-Beitritt statt, deren Zustimmungsquoten bei knapp 90 Prozent lagen. Slowenien legte zudem auf der Basis eines breiten Elitenkonsenses bereits 1997 fest, dass die Beitrittsfrage nur über ein Referendum getroffen werden kann.

In allen anderen Ländern ergeben sich deutlich höhere Zustimmungsraten für Referenden bei den Bürgern, in Irland sogar eine Differenz von über 65 Prozentpunkten. Der irische Fall ist aufgrund der jüngsten Erfahrungen mit Volksabstimmungen zu Europafragen nicht verwunderlich: Während die politischen Parteien in Irland zu einem Großteil die Umsetzung des Vertrags von Lissabon befürworteten, führte das Referendum von 2008 zu einer Ablehnung. In den Niederlanden und Frankreich, weitere Länder, in denen die europäische Verfassung in Volksabstimmungen abgelehnt wurde, fallen die Unterschiede geringer aus. Allerdings gab es hier auch keinen ähnlich breiten Elitenkonsens. Deutschland weist im Übrigen die sechstgrößte Differenz zwischen Bürgern und Kandidaten auf (etwa 47 Prozentpunkte). Für Deutschland kann ebenfalls vermutet werden, dass der relativ breite Elitenkonsens in Europafragen - sieht man von außen- und sicherheitspolitischen Bedenken der Partei Die Linke ab - durch ein Referendum ins Wanken geraten könnte; damit lässt sich möglicherweise die besonders starke Ablehnung dieses Entscheidungsverfahrens bei deutschen Kandidaten erklären.

Referenden vielfältigen Inhalts und unterschiedlicher Bindungskraft sind seit Jahrzehnten Bestandteil des europäischen Einigungsprozesses. In vielen Ländern fanden Volksabstimmungen über eine potenzielle Mitgliedschaft statt (zum Beispiel in Österreich, Schweden, Norwegen und der Schweiz), in anderen Ländern gab es Referenden zu spezifischen EU-Verträgen oder dem Euro (zum Beispiel in Irland, Schweden und den Niederlanden). In Irland entschied das Volk bereits sieben Mal über relevante Themen der europäischen Einigung direkt.

In fünf der hier untersuchten Länder wurden noch keine Referenden zu Belangen der europäischen Union gehalten (Belgien, Zypern, Portugal, Deutschland und Griechenland, die obersten fünf Länder in der Abbildung). Vergleicht man diese Ländergruppe mit jener, in der es mindestens ein Referendum seit 1976 gab, so zeigt sich keine auffällige Differenz. Zwei der fünf Länder liegen auf oder unter dem Gesamtdurchschnitt, und vier Länder aus der anderen Gruppe weisen eine höhere Differenz zwischen Bürgern und Kandidaten auf als Griechenland, Portugal oder Deutschland.

Es kann also angenommen werden, dass jene Diskrepanzen zwischen Bürger- und Kandidatenmeinung weder auf Ermüdungstendenzen bei den Bürgern noch auf Gewöhnungseffekte bei den Kandidaten nach vielen Referenden zurückzuführen sind. Der Vergleich von Bürgern und Eliten auf Länderebene zeigt eindeutig, dass die Bürger mehr direkte Beteiligung in Form von Referenden zu Fragen der europäischen Integration wünschen.

Aufschlussreich ist eine weitere Differenzierung bei der Betrachtung der untersuchten Gruppen. Für beide erscheint es sinnvoll, die jeweilige Position zum europäischen Einigungsprozess sowie die Beurteilung der EU-Mitgliedschaft für das eigene Land zu berücksichtigen. So können nicht nur mögliche Motoren der Nachfrage, sondern zum anderen die möglichen Konsequenzen für den europäischen Einigungsprozess durch direktdemokratische Verfahren identifiziert werden.

Bürger, die ein Vorantreiben des europäischen Einigungsprozesses befürworten (oder zumindest eine neutrale Position einnehmen), fordern ebenso eindeutig Entscheidungen per Referendum über EU- Verträge wie Bürger, die einen solchen Prozess ablehnen (siehe Tabelle). Dabei liegt der Anteil bei den Gegnern einer voranschreitenden Einigung allerdings knapp 9 Prozentpunkte über dem Wert der Vergleichsgruppe. Ein identisches Bild ergibt sich, wenn man die Befragten danach unterscheidet, ob sie die EU-Mitgliedschaft ihres Landes positiv oder negativ beurteilen. In beiden Gruppen spricht sich eine eindeutige Mehrheit für die Einführung von Referenden aus. Die Differenz beträgt knapp 10 Prozentpunkte, wobei wiederum Personen mit einem negativen Bild der EU in höherem Maß für direktdemokratische Verfahren plädieren.

Von diesem Muster der Bürger unterscheiden sich die Einstellungen der Kandidaten bei der Europaparlamentswahl 2009 deutlich. Lediglich Kandidaten mit euroskeptischen Positionen sind mehrheitlich für Referenden über zukünftige EU-Verträge. Kandidaten mit einer neutralen oder positiven Einstellung zur europäischen Integration und ihren Effekten auf das jeweilige Land lehnen hingegen zu etwa zwei Dritteln eine solche Beteiligung ab.

Über die Gründe, warum die Bevölkerung und die Kandidaten unterschiedlicher Auffassung sind, lässt sich zunächst nur mutmaßen. In gewisser Weise kann der verbreitete Wunsch nach Volksabstimmungen bei den Bürgern als Antwort auf die empfundene Distanz zwischen europäischer Politik und Europas Bürgern verstanden werden, der sich unabhängig von inhaltlichen Positionen zu Europa äußert. Zugleich wurde in 22 von 27 Mitgliedstaaten bereits in Referenden über Themen im Kontext der europäischen Integration entschieden. Die Mehrzahl dieser Abstimmungen führte zu einer Stärkung der Integration, wobei in der Phase zwischen 2003 und 2008 auch ein Viertel der Entscheidungen (4 von 16) gegen eine voranschreitende Integration ausfielen. Das Fazit der Bürger könnte also lauten, dass es Chancen gibt, den Einigungsprozess in beide Richtungen direkt zu beeinflussen.

Eben jene Erfahrung könnte auch die Ursache für die Zurückhaltung bei den Europabefürwortern unter den Kandidaten sein. Die Europäische Union ist von ihren Anfängen bis heute in erster Linie ein Elitenprojekt, das durch Referenden vielleicht nicht gestoppt, aber doch zumindest blockiert und verlangsamt werden könnte. Den europaskeptischen Politikern ist hingegen bewusst, dass Referenden ihre Position stärken könnten. Eine verstärkte Nutzung direktdemokratischer Verfahren birgt die Gefahr, das ohnehin im europäischen Institutionengefüge noch immer schwach verankerte Europäische Parlament weiter zu schwächen. Zwar existieren rechtlich Möglichkeiten, Volksabstimmungen auf supranationaler Ebene in der EU abzuhalten, viel wahrscheinlicher sind aber nach wie vor nationale Referenden. Auf dieser Basis würde primär der Einfluss nationaler Regierungen und nicht jener des supranationalen Parlaments auf den Einigungsprozess gestärkt.

In vielen Mitgliedstaaten der EU liegt die Frage der Nutzung von Referenden jedoch nicht ausschließlich in der Hand der politischen Eliten. Sie ist vielmehr in den Verfassungen festgelegt, die Volksbegehren ermöglichen oder sogar erzwingen. Hier kann und wird im Zweifel der Drang nach vermehrter direkter Bürgerbeteiligung auch gegen die ablehnende Position der politischen Eliten durchgesetzt werden.

Sollte die Nachfrage nach Referenden konstant bleiben oder sogar steigen, werden diese in beträchtlichem Maß die Gestalt der EU bestimmen. Inwieweit dies eine Blockade des europäischen Einigungsprozesses zur Folge haben wird, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Es lässt sich aber vermuten, dass dort, wo insbesondere euroskeptische Eliten für Referenden eintreten - etwa in Frankreich, Schweden und besonders deutlich in Großbritannien -, auch eine stärkere Mobilisierung gegen die europäische Einigung vorherrschen wird.

Eine zweite relevante Frage folgt hieraus: Wie werden in der Zukunft Staaten ohne direktdemokratische Praxis auf nationaler Ebene mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Nachfrage und Angebot in Fragen der europäischen Integration umgehen? Es scheint längerfristig auch in Deutschland kaum vermittelbar, dass Bürger eine Schulreform oder die Raucherlaubnis in Bierzelten verhindern können, aber keinerlei Mitspracherecht bei der Annahme oder Ablehnung einer gemeinsamen europäischen Verfassung besitzen sollen.


Heiko Giebler ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen". Hier arbeitet er unter anderem an der Europäischen Wahlstudie 2009 mit, einem von der EU geförderten Forschungsprojekt, an dem verschiedene europäische Universitäten und Forschungseinrichtungen beteiligt sind.
giebler@wzb.eu


Literatur:

European Election Study: European Parliament Election Study 2009. San Domenico di Fiesole: European University Institute/Robert Schuman Centre for Advanced Studies 2010. Online: www.piredeu.eu (Stand: 3.11.2010).

Hobolt, Sara B.: Europe in Question. Referendums on European Integration. Oxford: Oxford University Press 2009.

Eijk, Cees van der/Marsh, Michael: Exploring the Irish Vote on Lisbon. Paper prepared for presentation at the meeting of the Elections, Public Opinion and Parties Group of the Political Studies Association, Glasgow, August 2830, 2009.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 130, Dezember 2010, Seite 14-17
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2011