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INNEN/528: Subsidiarität und kommunale Praxis in der EU (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2016

Subsidiarität und kommunale Praxis in der EU

Von Johano Strasser


In Artikel 5 des EU-Vertrages heißt es: "Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit." In einem Protokoll dazu ist die Anwendung der Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit genauer geregelt. Danach muss die Europäische Kommission bei jeder Gesetzesinitiative nachweisen, dass sie die jeweilige Aufgabe besser lösen kann als die Regionen oder die Mitgliedstaaten. "Der eigentliche Zweck des Subsidiaritätsprinzips", so der Text weiter, "ist es, die Union ihren Bürgern näher zu bringen. So sollen politische Maßnahmen nach Möglichkeit auf lokaler Ebene ergriffen werden, wenn dies notwendig ist."


Das klingt sehr vernünftig und erweckt den Eindruck, dass sich die europäische Politik konsequent um Bürgernähe und um die demokratische Mitwirkung der Betroffenen bei der Lösung ihrer Probleme bemüht. Allerdings ist in der politischen Praxis so gut wie immer nur vom Zusammenspiel der Europäischen Kommission und den im Europäischen Rat vertretenen Nationalstaaten, gelegentlich auch den Regionen die Rede, von den Städten und Gemeinden und der Zivilgesellschaft aber so gut wie nie.

Dabei sind die Städte und Gemeinden nicht nur die wichtigsten Einübungsfelder einer demokratischen Mitwirkung der Bürger, sondern auch der Ort, an dem viele öffentliche Aufgaben zugleich besonders effizient und bürgernah erledigt werden können. Bedauerlicherweise werden aber die Gestaltungsmöglichkeiten der gemeindlichen Demokratie und Verwaltung, erst recht die Möglichkeiten eines Effizienzgewinns durch Dezentralisierung heute viel zu wenig genutzt. Stattdessen wird allzu oft bei der Durchführung wichtiger Aufgaben die lokale Ebene ausgeblendet, werden großtechnische Lösungen und zentralistische Versorgungs- und Verwaltungsstrukturen auch dann bevorzugt, wenn dies der Sache nach keineswegs zwingend ist, im Gegenteil die Dezentralisierung absehbar mit erheblichen Effizienzgewinnen und mit größeren Möglichkeiten für die demokratische Mitwirkung der Bürger einhergehen würde.

Die seit Jahren wachsende Entfremdung zwischen der Mehrheit der Menschen und der Politik auf der nationalen und europäischen Ebene hat ihren tiefsten Grund darin, dass die komplizierten Prozesse der europäischen Mehrebenendemokratie auf der Ebene der Städte und Gemeinden zunehmend als Fremdbestimmung wahrgenommen werden. Viele Bürger haben das nicht ganz unberechtigte Gefühl, dass die für ihr Leben wichtigen Weichenstellungen über ihre Köpfe hinweg erfolgen. Was die EU in dieser Lage dringend braucht, ist eine gezielte - auch finanzielle - Belebung der Kommunalpolitik unter dem europäischen Motto in varietate concordia und eine Verstärkung der vertikalen europaweiten Kommunikation und Kooperation von Städten und Gemeinden.

Die bisherige Stadt- und Raumplanung hat, sofern von Planung überhaupt die Rede sein kann, fast überall lebendige Nachbarschaften zerstört, nicht selten kommunikative Öffentliche Räume in sozial entleerte Wüsteneien verwandelt, allzu oft eine längst sinnlos gewordene rigide Funktionstrennung fortgeschrieben und eine menschenfeindliche Verkehrsinfrastruktur geschaffen. Zugleich hat die politisch erzeugte chronische Finanznot - zuweilen auch die ideologische Verblendung der Politiker - Städte und Gemeinden dazu veranlasst, die kulturelle Infrastruktur zu vernachlässigen, Begegnungszentren, Theater und. Schwimmbäder zu schließen, viele öffentliche Einrichtungen zu privatisieren und in der Baupolitik weitgehend den Vorstellungen großer Investoren und einer wohlhabenden Minderheit zu entsprechen.

Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der viele Menschen, besonders im Alter, vereinsamen, viele Kinder und Jugendliche keine adäquaten Möglichkeiten haben, sich spielend auszuprobieren, sich in den großen Städten oder an ihren Rändern gettoähnliche Strukturen bilden, die Verständigung über alltägliche, kulturelle und politische Probleme durch die Zivilgesellschaft eher behindert als gefördert wird und so jenes Vertrauenspotenzial und Sozialkapital nicht in ausreichendem Maß entstehen kann, ohne welches ein halbwegs konflikt- und angstfreies Zusammenleben nicht möglich ist.

Angesichts der Krise Europas rücken heute auch die Kommunen neu in den Fokus des Interesses. Zunehmend betrachten Kommunalpolitiker ihre Gemeinde bzw. ihre Stadt nicht als länger als eine große Maschine, sondern als einen sozialen Organismus. Wo aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wurde, erkennen die Politiker, dass ein solcher sozialer Organismus am besten funktioniert, wenn eine rigide Trennung einzelner Lebens- und Arbeitsfunktionen vermieden und die Separierung von Alt und Jung, von ethnisch-kulturellen und Lebensstilgruppen verhindert wird. Und langsam wächst auch die Einsicht: Wer die Entwicklung städtischer Räume weitgehend der Marktdynamik überlässt, muss sich nicht wundern, wenn gated communities für die Reichen und verwahrloste Quartiere für die Armen entstehen. Wer auf der grünen Wiese Bauland für riesige Supermärkte und Malls ausweist, wer aufgrund veralteter Vorschriften die Ansiedlung kleiner emissionsarmer Betriebe in Wohngebieten behindert und Handwerksbetriebe und moderne Dienstleister in Gewerbeparks am Stadtrand verbannt, erzeugt nicht nur zusätzlichen Autoverkehr, sondern trägt auch zur Verödung der Innenstädte bei.

Dezentralisierung und Revitalisierung des Nahbereichs

Kein Zweifel: Im Zeitalter der Globalisierung ist lokale, regionale, ja, auch nationale Autarkie nicht mehr denkbar. Auch eine erfolgreiche Kommunalpolitik ist nur möglich, wenn auf den übergeordneten Ebenen bis hinauf zur EU und darüber hinaus ermöglichende, rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen geschaffen und erhalten werden. Dies bedeutet aber nicht, dass wir bei allem und jedem das Heil in der Zentralisierung suchen sollten. Gerade in der gegenwärtigen Akzeptanzkrise der EU wäre eine kritische Sichtung der Kompetenz- und Aufgabenverteilung innerhalb der europäischen Mehrebenendemokratie und eine Revitalisierung der Nahbereiche im Sinne des Subsidiaritätsprinzips besonders wichtig. Hoch zentralisierte Strukturen, das ist kaum zu bezweifeln, sind wegen der großen Menge zu verarbeitender Informationen besonders fehleranfällig, neigen dazu, von Ort zu Ort, von Gruppe zu Gruppe differierende Bedürfnisse an der Basis zu vernachlässigen oder zu verfehlen, haben erhöhte Transportkosten und Transportverluste zur Folge, erleiden im Fall einer Störung oder eines Anschlags wesentlich größere Schäden als dezentrale Strukturen und erfordern entsprechend einen bei Weitem höheren Sicherheitsaufwand.

Aus all diesen Gründen ist es klug, wo immer dies möglich ist, dezentralen Strukturen den Vorzug vor zentralen zu geben. Für den einzelnen Bürger und für die Allgemeinheit liegen die großen Vorteile einer Nahbereichsversorgung mit Ge- und Verbrauchsgütern auf der Hand:

• Teure Verpackung und die entsprechende Entsorgungsarbeit aufseiten der Konsumenten kann zumeist eingespart werden.

• Die kürzeren Transportwege bedeuten weniger Emissionen und weniger Lärmbelästigung durch Lastwagenverkehr.

• Die engere und manchmal persönliche Beziehung zwischen Konsumenten und Produzenten ermöglicht eine sorgfältigen Berücksichtigung der jeweiligen Konsumentenbedürfnisse und lässt es von vornherein angeraten erscheinen, den Konsumenten keine unfairen Nachfolgekosten aufzubürden.

• Viele, die Gesundheit der Verbraucher gefährdenden Maßnahmen zur Haltbarmachung von Nahrungsmitteln können entfallen.

Aufgabe einer vorausblickenden Kommunalpolitik sollte es sein, mit ihren Möglichkeiten eine Entwicklung zur funktionalen Dezentralisierung baupolitisch, infrastrukturell und verwaltungstechnisch zu unterstützen, wobei die neuesten digitalen Techniken, auch das bisher keineswegs ausgeschöpfte Potenzial des 3D-Drucks, hilfreich sein können. Erleichtert werden kann dies, wenn auf den jeweils höheren Ebenen im Zweifelsfall dem finalen Regelungstyp, der Ziele festschreibt, aber die Mittel und Wege zur Erreichung dieser Ziele weitestgehend offen lässt, Vorzug vor dem heute immer noch vorherrschenden konditionalen Regelungstyp gegeben wird. Dies würde es den untergeordneten Ebenen erheblich erleichtern, bei der Verwirklichung auf nationaler oder europäischer Ebene vereinbarter Ziele, die je lokal vorhandenen materiellen, personellen und kulturellen Ressourcen gezielt zum Einsatz zu bringen.

Selbstverständlich darf Dezentralisierung und Revitalisierung der Nahbereiche nicht heißen, einem Krähwinkel-Provinzialismus das Wort zu reden! Vitale und lebenswerte Nahbereiche brauchen den intensiven Kontakt zur weiten Welt. Wer sich in eine Wagenburg zurückzieht, um sich vor den bedrohlichen Herausforderungen der Welt zu schützen, bringt sich um die stimulierende Erfahrung des Fremden, läuft Gefahr, in seiner Entwicklung zu stagnieren und wird nicht selten Opfer von Angst- und Verfolgungsfantasien. Das gilt erst recht für die neuerdings wieder um sich greifende nationalistische Spießerei. Andererseits zerstören der krude kosmopolitische Individualismus, den uns die neoliberalen Ideologen aufoktroyieren möchten, und die Arroganz und der Größenwahn global operierender Geldeliten zunehmend die Räume, in denen die für ein gelingendes Zusammenleben entscheidende Ressource des Vertrauens wachsen kann.

Ohne Chance zur Beheimatung, das zeigt sich überall auf der Welt, ist das Leben für die allermeisten Menschen schlicht zu strapaziös. Auch deswegen sollte kluge Politik heute eine Synthese von Kosmopolitismus und Kommunitarismus, von Weltoffenheit und Geborgenheit im Nahbereich anstreben. Die typisch europäische Kleinteiligkeit und der kulturelle, religiöse und ethnische Pluralismus der Europäer könnten sich unter diesem Aspekt als entscheidende Vorteile erweisen. Um dieses Potenzial nutzen zu können, müsste die Europapolitik nicht nur die Interessen und Besonderheiten der Nationalstaaten, sondern auch die je besonderen Bedürfnisse, Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten auf der Ebene der Zivilgesellschaft, der Städte und Gemeinden stärker berücksichtigen.

Johano Strasser ist Politologe, Publizist und Schriftsteller und war von 2002 bis 2013 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Zuletzt bei J.H.W. Dietz Nachf. erschienen: Das Drama des Fortschritts.
johano.strasser@t-online.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2016, S. 13 - 16
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2016

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