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SICHERHEIT/046: Bewegung in Europäischer Verteidigungspolitik (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2007

Bewegung in der Europäischen Verteidigungspolitik

Von Jochen Thies


Vor einigen Wochen hat die NATO damit begonnen, bei Verlustmeldungen in Afghanistan nicht mehr die Nationalität der ums Leben gekommenen Soldaten zu benennen. Sicherlich geschieht dies auf Wunsch der betroffenen Länder, vor allem der Kanadier und der Holländer, aber neuerdings wohl auch auf Drängen des innenpolitisch schwer angeschlagenen britischen Premiers Tony Blair. Dieser Vorgang kann aber auch ganz anders gedeutet werden, nämlich als Hinweis darauf, dass die Zeit vorbei ist, multinational operierende Verbände nach nationaler Zugehörigkeit aufzuteilen anstatt von den militärischen Operationen einer europäischen Truppe zu sprechen, die sich auf dem Weg zu einer europäischen Armee befindet. Aus der Geschichte weiß man, dass militärische Gefahrensituationen oder Bewährungsproben oft die Geburtsstunde von etwas Neuem sind. Warum kann Afghanistan, dessen Stabilisierung in immer weitere Ferne rückt, nicht zum Anlass genommen werden, das Projekt einer europäischen Armee sehr viel energischer als bislang voranzutreiben?

Binnen weniger Jahre sind Großteile der in den europäischen Nationalstaaten aufgestellten Armeen aus ihren Kasernen ausgerückt und tun Dienst an vielen Plätzen auf der Welt, auf dem Balkan, im Nahen Osten, am Horn von Afrika, im Irak, im Kongo und in Afghanistan. Die alten europäischen Kolonialmächte sind darüber hinaus an zusätzlichen Orten engagiert, teils aus eigenen Interessen, weil sie dort Stützpunkte haben, teils in einer Art von Aufgabenteilung mit den USA. Denn wer Mitglied im UN-Weltsicherheitsrat ist, hat besondere Verpflichtungen. Die Volksrepublik China verweigert sich offiziell noch dieser Erkenntnis, Russland hat eine weltpolitische Verschnaufpause eingelegt, die es vermutlich aber schon bald beenden wird. Umso mehr sind Amerika, aber auch Großbritannien und Frankreich gefordert.

Unter dem Eindruck dieser neuen weltpolitischen Rolle der Europäer, die nur deswegen in ihrem vollen Umfang nicht wahrgenommen wird, weil jedes Land einzeln über die Entsendung seiner Soldaten und die Spielräume der Truppe vor Ort entscheidet, mehren sich nun die Stimmen, die die Aufstellung einer europäischen Armee verlangen.

Und wenn der Eindruck nicht täuscht, werden sie während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 zu einem Chor anschwellen. Denn auch in der Großen Koalition gibt es sehr viel Sympathie für die Schaffung einer europäischen Armee. Die Bundeskanzlerin ist dafür, ebenso der SPD-Vorsitzende. In Frankreich, wo im Mai 2007 Präsidentschaftswahlen stattfinden, haben sich wiederholt Politiker der Linken wie der frühere Premierminister Fabius für eine Europa-Armee ausgesprochen. Und am meisten vorgeprescht sind hier in letzter Zeit die Polen.

Schließlich bietet der Libanon, wo sich seit dem Spätsommer 2006 eine mehrere tausend Mann umfassende europäische UN-Truppe befindet, bestes praktisches Anschauungsmaterial.

Dennoch ist die Situation für Europa alles andere als einfach. Denn es fehlt die Dynamik für die Verteidigungspolitik, die von der europäischen Verfassung ausgehen sollte. Frankreich und die Niederlande ließen das Projekt bekanntlich bei Volksabstimmungen scheitern. Und es stellt sich die Frage, ob es der deutschen Ratspräsidentschaft gelingen wird, den Verfassungsprozess wieder in Gang zu setzen. Nun muss die Sicherheitspolitik unter dem Gang der Ereignisse quasi vorgezogen werden.

Auch der Ausgang der US-Kongresswahlen trägt dazu bei, dass eine koordinierte Sicherheitspolitik der Europäer wichtiger wird. Denn die USA werden nun damit beginnen, ihre Irak-Politik zu ändern, möglicherweise ihre gesamte Nahost- und Mittelostpolitik überdenken. Und dies verheißt nichts anderes, als dass die Anforderungen an die Europäer steigen werden.

Dabei hatten die Europäer ursprünglich mit ganz anderen zeitlichen Vorstellungen eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem Kürzel ESVP auf den Weg gebracht. Ihre Geburtsstunde schlug beim Europäischen Rat in Köln im Juni 1999. In Nizza, beim Europäischen Gipfel Ende 2000, wurden bereits die dazu erforderlichen praktischen Schritte eingeleitet. In Brüssel, am Sitz von EU und NATO, wurden neue militärische Strukturen geschaffen, die zunächst Symbolcharakter hatten, aber dann rasch wichtiger wurden. Die NATO, gegenüber dem Neuling zunächst ablehnend bis skeptisch, fing an, sich mit der Parallelorganisation abzufinden, die schon bald darauf zu ersten Einsätzen auf den Balkan (Operation Concordia in Mazedonien) und nach Schwarzafrika (Operation Artemis im Kongo) aufbrach, im Rahmen der sogenannten "Petersberg-Aufgaben". Darunter sind humanitäre Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfoperationen bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen zu verstehen.

Der 11. September 2001 schuf für die Europäer eine neue Lage, spaltete den Kontinent, der erst ein Jahrzehnt zuvor nach langer Teilung zu sich gefunden hatte. Vier Jahre später zerplatzten beim Scheitern der Europäischen Verfassung weitere Blütenträume. Denn Javier Solana wurde nicht erster europäischer Außenminister, der Präsident für den Europäischen Rat mit zweijähriger Amtsdauer wurde nicht gewählt, der europäische diplomatische Auswärtige Dienst kam nicht zustande und damit geriet am Ende auch die intergouvernementale Zusammenarbeit ins Stocken. Der ungewisse Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2007 trug schließlich auch dazu bei, dass vom deutsch-französischen Tandem, zumal nach dem Abgang von Schröder, so gut wie keine europapolitischen Impulse mehr ausgingen.

Viele Beobachter meinen, dass abgestimmte deutsch-französische Politiken im Zeitalter der Globalisierung, in einem immer größer werdenden Europa, ohnehin nicht länger ausreichen, dass es zu einer engen Zusammenarbeit der beiden Länder mit Großbritannien kommen muss. Die rot-grüne Koalition hat dies ohne jeden Zweifel versucht. Aber es bleibt offen, wer am Ende über den anderen mehr enttäuscht war: Schröder wegen Blairs Irak-Politik an der Seite der USA oder Blair über Schröder aufgrund der deutschen Modernisierungsblockade. Was für Frankreich und die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen gilt, trifft auch auf die deutsch-britischen Kontakte zu. Die lange Regierungszeit von Blair nähert sich ihrem Ende. Niemand weiß, wie sich die neue Regierung in London in diesen Fragen positionieren wird. Gordon Brown gilt europapolitisch als unbeschriebenes Blatt. Er verbringt seine Urlaube regelmäßig in den USA.

Allen Unkenrufen zum Trotz geben die Europäer zur Zeit genügend Geld für Verteidigung aus. In der Addition entspricht es in etwa sechzig Prozent (!) des US-Budgets. Aber die Europäer erreichen aufgrund ihrer Zersplitterung nur einen Bruchteil der Effizienz, ganze zehn Prozent. Alle Staaten haben in den 90er Jahren die sogenannte Friedensdividende einkassiert und die Zahl der Soldaten drastisch reduziert, die übermilitarisierten Mitteleuropäer wie die Ungarn und Tschechen um etwa die Hälfte der einstigen Stärke. Mit Ausnahme Deutschlands haben fast alle anderen Staaten die Wehrpflicht abgeschafft und auf Berufsarmee umgestellt. Aber das spart kaum Kosten und wirft neue Probleme auf.


Fehlen Solidarität und politischer Wille?

Als Ausweg für die Europäer bleibt daher nur, die Zahl der Soldaten noch weiter zu reduzieren und durch Standardisierung und Zusammenarbeit mit Truppenkontingenten anderer Staaten die eigenen Mittel so effizient wie möglich einzusetzen. In Deutschland geschah dies in den letzten Jahren durch die Schließung und Zusammenlegung von Standorten und durch die Aufstellung supranationaler Korps. So existiert ein deutsch-niederländisches, ein deutsch-polnisches sowie das Eurokorps mit Sitz in Straßburg. Die neue Form des Krieges, der sogenannte asymmetrische Konflikt, erleichtert diese Entwicklung. Denn Auseinandersetzungen zwischen Staaten, zwischen Bündnissen, gehören fürs erste der Vergangenheit an.

Beim Europäischen Rat in Helsinki, kurz nach den Verabredungen von Köln, noch vor Nizza, hatten die Europäer auf Drängen der USA ihren Einsatz noch gesteigert. Sie beschlossen eine Schnelle Eingreiftruppe mit 60.000 Mann, die im Notfall binnen 60 Tagen mobilisiert werden könne. Daraus ist bis heute nichts geworden. Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit kam hingegen das sogenannte 'battle group- Konzept', 2004 in Brüssel beschlossen, am 1. Juli 2006 seiner Verwirklichung nahe. 1.500 Mann pro Gruppe, dreizehn Gruppen insgesamt, sollen von 2007 an zur Verfügung stehen und binnen fünf Tagen verlegt werden können. Gut 30 Prozent der militär-politischen Beschlüsse von Helsinki sind damit in die Tat umgesetzt. Aber für Deutschland ist eine heikle Lage entstanden. Wie kann die Bundesregierung einer Entsendung zustimmen, wenn sich der Bundestag in der Sommerpause befindet? Man sieht, der Parlamentsvorbehalt ist in Zeiten einer Europäisierung der Streitkräfte in diesem Umfang nicht länger zu halten.

Der Historiker Walter Laqueur sieht die sicherheitspolitische Zukunft Europas aus diesem und anderen Gründen mit Skepsis. Hart werden die Europäer nur gegenüber Kroatien sein, meint er, nicht aber gegenüber Russland, China, der Arabischen Liga und Indien. Europa werde auch die iranische Bombe hinnehmen, wissend, dass es dann schon bald ein Dutzend weiterer Nuklearstaaten geben werde. "In Europa fehlen der notwendige innere Zusammenhalt und die Solidarität sowie der politische Wille zu einer effektiven gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik", urteilt Laqueur. Nahezu alle außen- und sicherheitspolitischen Fachleute in Deutschland sind der Auffassung, dass die USA ungeachtet aller gegenwärtigen Probleme auf absehbare Zeit der entscheidende Akteur in der Weltpolitik bleiben werden und dass die Volksrepublik China entgegen gängigen Annahmen Amerika nicht ablösen wird. Wenn dies zutrifft, bleibt die NATO die entscheidende Bündnisformation des Westens.

Nur wenn die Europäer den Willen zur gemeinsamen Verteidigung, für eine europäische Armee aufbringen, lässt sich an diesem Zustand etwas ändern. Es steht außer Frage, dass dies wünschenswert wäre. Denn die Europäer haben das zukunftsträchtigere Gesellschaftsmodell als die Amerikaner. Herfried Münkler, der ideenreiche und die Diskussionsprozesse antreibende Politologe, meint, dass Europa als Subzentrum, bei Hinnahme amerikanischer Herrschaftspraktiken, im Zeitalter der Globalisierung überleben könne. Aber dies klingt fast schon resignativ, wenn man an die Potenziale der Europäer denkt. Nur eines scheint sicher: die Welt wäre ärmer, würde sie ausschließlich von Amerikanern, Russen und Chinesen dominiert werden. Gegen diese Möglichkeit gilt es anzukämpfen. 2007 wird ein entscheidendes Jahr für die Sicherheitspolitik der Europäer. Das Fenster für die Schaffung einer europäischen Armee kann sich rasch wieder schließen.


(Jochen Thies (*1944) ist Sonderkorrespondent beim DeutschlandRadio Kultur in Berlin. jochen.thies@dradio.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2007, S. 48-52
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2007