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SOZIALES/126: Das soziale Europa - eine Schimäre? (reasearch*eu)


research*eu Nr. 57 - Juli 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Das soziale Europa: eine Schimäre?


Während Europa seinen Vertragsraum im wirtschaftliche Bereich mit Richtlinien konsolidiert, scheint die soziale Konvergenz weiterhin nur auf dem Papier zu bestehen. Regine Prunzel, Expertin für europäisches Sozialrecht, veröffentliche eine Arbeit (1), in der sie nachwies, dass die Rädchen des europäischen Sozialsystems sich sehr wohl drehen können. Allerdings müssen sie noch in Bewegung gesetzt werden.

Regine Prunzel: "Die Mitgliedstaaten müssen verstehen, dass nur der soziale Pfeiler die negativen Auswirkungen eingrenzen kann, die durch den Ausbau der wirtschaftlichen Dimension entstehen."


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RESEARCH*EU: Sie behaupten, das europäische Sozialmodell sei eine Schimäre. Warum?

PRUNZEL: Die europäische Sozialagenda und die zahlreichen dazugehörigen Maßnahmen zeigen, dass es viele Initiativen gibt. Aber genauso wie sich in der Mythologie die Schimäre aus verschiedenen Tieren zusammensetzt, ist auch das europäische Sozialmodell ein Flickenteppich, der sich jeder Definition entzieht, auch wenn es in den verschiedenen wissenschaftliche Disziplinen Ansätze zu seiner Charakterisierung gibt. Die grundlegenden Ideen des europäischen Sozialmodells sind ein buntes Gemisch verschiedener nationaler Modelle. Wenn sich daher jemand darauf bezieht, hat er jeweils die Regeln und Prinzipien vor Augen, die im eigenen nationalen System herrschen. Somit gestalten sich Diskussionen zu dieser Frage äußerst kompliziert, da alle Teilnehmer von einer anderen Realität sprechen.

Eine Schimäre ist aber auch ein Gespenst, eine nicht realisierbare Idee. Oft stehen die Mitgliedstaaten auf diesem Standpunkt, wenn sie behaupten, dass die notwendigen rechtlichen Grundlagen zur Einführung eines sozialen Pfeilers in Europa fehlen, wohingegen meine Untersuchung beweist, dass diese sehr wohl vorhanden sind. Aber viele Staaten befürchten, dass sich eine europäische Regelung in dieser Sache für sie negativ auswirken könnte, vor allem, wenn es um die kollektiven Arbeitsverhältnisse geht, einer höchst nationalen Angelegenheit mit großen Unterschieden von Land zu Land. Die Richtlinie 96/34/EG zum Elternurlaub zum Beispiel wurde von den Mitgliedstaaten jahrelang blockiert, bevor das Eingreifen der Sozialpartner ihr Inkrafttreten bewirken konnte.


RESEARCH*EU: Aber existiert das Sozialmodell auch in Wirklichkeit?

PRUNZEL: Ja und nein. Einerseits ist die Europäische Union im sozialen Bereich sehr aktiv. Der Lissabon-Prozess weist diesen Bereich neben Beschäftigung und Wirtschaft auch als einen der drei Ecksteine für die künftige Entwicklung der Union aus. Dies ist ein enormer Fortschritt, weil in der Vergangenheit die soziale Dimension als zweitrangig betrachtet wurde und an die Wirtschaft gebunden war, wie zum Beispiel beim Wegfall der Binnengrenzen, als die Modalitäten für Grenzgänger geregelt werden mussten.

Dies führt uns zum Hauptproblem des europäischen Sozialmodells. Im Vergleich zur wirtschaftlichen Dimension ist die Entwicklung hier stark im Rückstand. Dieses Ungleichgewicht lässt sich sowohl durch die Ursprünge der Union und das Zögern der Mitgliedstaaten erklären als auch durch das Problem der unzureichenden Messbarkeit der sozialen Dimension. Die Wirtschaftsleistung lässt sich dagegen leicht mithilfe von Indikatoren bewerten, wie z.B. mit Arbeitslosenraten oder dem BIP (Bruttoinlandsprodukt). Dies ist für die soziale Dimension so genau und eindeutig nicht möglich.


RESEARCH*EU: Wie soll man die soziale Dimension reglementieren, ohne die Souveränität der Nationalstaaten im Hinblick auf die kollektiven Arbeitsverhältnisse anzutasten? Sind soziale Dimension und Beschäftigung nicht grundlegend miteinander verbunden?

PRUNZEL: Sie sind es. Aber eine europäische Sozialpolitik bedeutet nicht die Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme, die schließlich auch nationale Vorrechte umfassen, wie die Sozialversicherung oder das Arbeitslosengeld, und die sich von einem Land zum anderen stark unterscheiden. Ihre Harmonisierung wäre nicht sehr angebracht und hätte wahrscheinlich viele negative Folgen. Dagegen könnten sich die Mitgliedstaaten auf Regelungen wie einen Mindestlohn einigen, um die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Zwänge auszugleichen. Dann wäre ein Unternehmen wie "Nokia" weniger versucht, wie es kürzlich der Fall war, eine ganze Produktion von Deutschland nach Rumänien zu verlagern, wo die Löhne niedriger sind. Für die Länder des Nordens, wo Arbeitskräfte wegen der im Allgemeinen ausgereifteren Sozialsysteme teurer sind, ist das eine katastrophale Situation. Dasselbe gilt auch für die neuen Mitgliedstaaten, deren qualifizierte Arbeitnehmer in den Norden ziehen, um dort für höhere Löhne zu arbeiten.

Die Mitgliedstaaten müssen verstehen, dass nur der soziale Pfeiler die negativen Auswirkungen begrenzen kann, die durch den Ausbau der wirtschaftlichen Dimension entstehen. Gesundheit, Bildung, Antidiskriminierung, Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Chancengleichheit und Sozialschutz, der Kampf gegen die soziale Ausgrenzung und der soziale Dialog - all dies sind Bereiche der Sozialpolitik, in denen gemeinschaftliches Handeln angebracht wäre. Sicherlich ist Wettbewerb notwendig und auch erwünscht, aber nur unter vergleichbaren Voraussetzungen.

Das Rad zurückzudrehen ist nicht möglich, aber wir können voranschreiten, indem wir einen neuen Weg einschlagen, einen Weg, der Europa tatsächlich sozial macht. Die Sozialpolitik darf daher nicht als ein Produktionsfaktor angesehen werden, sondern als ein Wert an sich. In meiner Dissertation schlage ich daher einen neuen Ansatz vor: den "europäischen Sozialkonsens". Dies ist ein Vorschlag für einen Fahrplan zur Etablierung eines Systems, das auf der Grundlage der bestehenden Verträge zur Entwicklung eines nachhaltigen sozialen Europas führt.


RESEARCH*EU: Wie würde das funktionieren?

PRUNZEL: Seine Einrichtung erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt sollen ein Rahmen und die allgemeinen Arbeitsachsen in Form einer Einigung der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat eingerichtet werden. Dann ist die Europäische Kommission an der Reihe. Unter Berücksichtigung der existierenden rechtlichen Grundlagen und der jeweiligen Zuständigkeiten wird sie sich mit der Festlegung der Verfahren und Instrumente befassen, die zur Verankerung der sozialen Dimension erforderlich sind. Und schließlich müssen die Aktionen, auf die man sich auf Ratsebene geeinigt hat, umgesetzt werden. Alle betroffenen Seiten (Gewerkschaften, Lobbys, NRO usw.) sind auf dieser Ebene des Verfahrens einbezogen.


RESEARCH*EU: Warum haben Sie für eine Frage, die so grundlegend die Individuen betrifft, einen Ansatz von oben gewählt?

PRUNZEL: Nur der Rat besitzt genügend Macht, um die weitreichenden Veränderungen der politischen Orientierung in die Wege zu leiten, die erforderlich ist, um der sozialen Dimension Geltung zu verschaffen. Soziale Probleme entstehen auf nationaler Ebene. Die Staaten stellen sie als Erste fest und können daher bereits im Anfangsstadium Lösungen vorbringen.

Mit diesem Ansatz ist es auch möglich, den Einfluss der Lobbys in Brüssel zu kanalisieren. Sie intervenieren in die politischen Entscheidungen, also in der ersten Phase des Konsenses, die auch am bedeutsamsten ist. Man muss auch hervorheben, dass der Konsens die Rolle der Europäischen Kommission als Motor für den Aufbau Europas nicht entwertet, auch wenn diese erst in der zweiten Phase aktiv wird. Allerdings kann sie in der ersten Phase auf die Entscheidungen des Rates unterstützend einwirken, indem sie die bestehenden Regulierungen zu sozialen Fragen zusammenstellt. Der Konsens packt die Probleme unter Berücksichtigung der Zuständigkeiten an, die im Hinblick auf die soziale Dimension vielfach bei den Regierungen liegen.

Die Vorteile dieses neuen Ansatzes liegen auf der Hand. Er ermöglicht es, die rechtliche Basis in einem Europa zu stärken, das seine soziale und seine wirtschaftliche Dimension auszugleichen versucht, und es stellt die einzige Möglichkeit dar, den zwischen den europäischen Institutionen und den Bürgern bestehenden Graben zu überwinden. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es ein bestimmendes Element: den politischen Willen.

Das Interview führte Julie Van Rossom


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Die Europäische Kommission und das europäische Sozialrecht

Respektiert die Europäische Kommission die sozialen Normen, die den Mitgliedstaaten von der EU auferlegt werden? Laut einer von der CONF-SFE (2) in Auftrag gegebenen Studie, die 2007 veröffentlicht wurde, steht die Art und Weise, wie der größte Arbeitgeber der europäischen Institutionen mit den Vertragsbediensteten umgeht, in direktem Widerspruch zum europäischen Sozialrecht. Das Statut des Vertragsmitarbeiters erlaubt es, Personal mit befristeten Arbeitsverträgen einzustellen, um die Beamten in Zeiten hoher Belastung oder auch bei einem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern zu entlasten.

Jedoch stellt die Europäische Kommission solches Personal auch zur Durchführung von Daueraufgaben ein, die normalerweise den Beamten vorbehalten sein sollten. Auch wenn sie eine Arbeit durchführen, die mit der ihrer Kollegen identisch ist, werden diese Mitarbeiter mit einem bis zu 50% niedrigeren Gehalt jedoch weitaus schlechter bezahlt. So scheinen Beschäftigungssicherheit und Lohngleichheit von einer Institution ignoriert zu werden, die diese zwei Grundprinzipien des Sozialrechts verteidigt.

"Aus wirtschaftlichen Gründen verstößt die Kommission in den eigenen Reihen gegen die Prinzipien der europäischen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge aus dem Jahr 1999. Eine untragbare Situation", bemerkt Roger Blanpain, Professor für Sozialrecht an der Katholischen Universität Leuven (BE) und Autor der Studie.

Die Kommission erinnert ihrerseits daran, dass viele Vertragsbedienstete, die Hilfsarbeiten (wie die Verteilung der Post) ausführen - Ende 2007 waren es ungefähr 2300 -, bei Vertragsende in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen werden können. Sie erkennt an, dass die Mehrheit der Vertragsbediensteten - Ende 2007 waren dies insgesamt 3200, das sind 15 % des gesamten Personals - nur auf maximal drei Jahre angestellt ist. Sie begründet diese Tatsache mit der Notwendigkeit, auch dann funktionieren zu können, wenn Mangel an qualifiziertem ständigen Personal herrscht.


Anmerkungen:

(1) Regine Prunzel, Der europäische Sozialkonsens als Instrument zur Stärkung des europäischen Sozialmodells, Duncker & Humblot, Berlin, 2007.

(2) Gewerkschaft der europäischen Beamten (www.conf.sfe.org).


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Quelle:
research*eu Nr. 57 - Juni 2008, Seite 38-39
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009