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SOZIALES/127: Perspektiven für ein soziales Europa (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008

Perspektiven für ein soziales Europa

Von Herbert Obinger


Das Integrationsprojekt EU benötigt die Unterstützung durch seine Bürger. Kaum ein anderes Politikfeld wäre besser geeignet diese zu generieren als das der Sozialpolitik. Doch trotz einiger Fortschritte hat sich die bereits bei der Gründung der EG angelegte Konstruktion einer sozialstaatlich nicht eingehegten Marktintegration weiter verhärtet.


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Die Europäische Sozialpolitik ist Gegenstand vieler Mythen. Weder ist es heute zutreffend, dass die Europäische Union sozialpolitisch abstinent ist, noch kann auf der Ebene der Mitgliedsstaaten ein einheitliches europäisches Sozialmodell ausgemacht werden. Beide Einschätzungen treffen am ehesten für die Gründungsphase der EG zu. Zum einen beschränkten sich im EWG-Vertrag die sozialpolitischen Kompetenzen auf die Geschlechtergleichheit in der Entlohnung, sowie Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zur Sicherstellung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Zum anderen bestand ursprünglich auf der Ebene der Mitgliedsstaaten insofern eine relativ große sozialpolitische Homogenität, als die Wohlfahrtsstaaten der sechs Gründungsmitglieder in der Tradition des Bismarckschen Sozialstaatsmodells standen. Mit jeder Erweiterungswelle ist jedoch die sozialpolitische Zersplitterung in Europa größer geworden. Die beiden jüngsten Beitrittsrunden haben diese Fragmentierung weiter verstärkt und zudem ein massives Wohlstandsgefälle in der Union verankert. Europa umfasst heute mehrere Sozialstaatswelten, die sich hinsichtlich der strukturellen Gestaltung des Wohlfahrtstaates und der Sozialstandards erheblich voneinander unterscheiden.


Fortschritte nicht überbewerten

Nicht minder bedeutsame Veränderungen fanden seither auf europäischer Ebene statt. Beginnend mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurden die sozialpolitischen Befugnisse der Gemeinschaft mit jeder Vertragsrevision ausgeweitet und in vielen Bereichen die Entscheidungsregeln im Rat zugunsten qualitativer Mehrheitsentscheidungen gelockert. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (z.B. Streik- und Koalitionsrecht) kann der Rat heute Mindestvorschriften in allen sozialpolitischen Bereichen erlassen. Gerade im Kernbereich der sozialen Sicherheit, den wohlfahrtsstaatlichen Transferleistungen, setzt dies aber nach wie vor eine einstimmige Ratsentscheidung voraus.

Dessen ungeachtet ist die Zahl an sozialpolitischen Rechtsakten in den letzten zwei Dekaden beträchtlich angestiegen. Allen voran gilt dies für soziale Mindeststandards im Bereich des Arbeitsschutzes und Arbeitsrechts. Die im Bereich regulativer Sozialpolitik zweifellos erreichten Fortschritte dürfen jedoch nicht überbewertet werden. Drei andere Prozesse setzten nämlich die nationalen Wohlfahrtsstaaten erheblich unter Druck bzw. verringerten den sozialpolitischen Handlungsspielraum des Nationalstaates.

Erstens schritt die von Kommission und EuGH vorangetriebene negative Integration ungleich rasanter voran als die sozialpolitische Re-Regulierung auf europäischer Ebene. Hier geht es im Wesentlichen um die Beseitigung von nationalen Vorschriften, die der Marktschaffung entgegenstehen. So dürfen etwa nationale sozialpolitische Regelungen nicht im Widerspruch zu den vier Grundfreiheiten stehen. In der sozialpolitischen Praxis führte dies zu Souveränitäts- und Autonomieverlusten des Nationalstaates und zur Entgrenzung der nationalen Sozialschutzsysteme.

Zweitens beraubte die Wirtschafts- und Währungsunion den Nationalstaat seiner klassischen geldpolitischen Instrumente, während die Fiskalpolitik durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt in ein engeres Korsett gepresst wurde. Dadurch brachen nicht nur die klassischen wirtschaftspolitischen Stabilisierungsinstrumente teilweise weg, sondern es erhöhte sich indirekt auch der Druck auf den Wohlfahrtsstaat als wichtigsten sozialen Stabilisierungspuffer. Das enger geschnürte fiskalpolitische Korsett zwingt nämlich die Mitgliedsstaaten zur Ausgabendisziplin und bleibt deshalb nicht folgenlos für den Sozialstaat, weil er als mit Abstand größter Einzelposten des Budgets im Fall eines fiskalischen Ungleichgewichts sehr wahrscheinlich zum Gegenstand von Ausgabenkürzungen wird.

Drittens hat der europäische Binnenmarkt den Regimewettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten intensiviert. Während die Mobilität von Arbeitskräften (noch) relativ gering ist, machen insbesondere Kapitaleigner und Unternehmen von der Freizügigkeit intensiv Gebrauch. Unternehmen können ihre Produktion zur Ausschöpfung von Fakturpreisdifferenzen ins EU-Ausland auslagern, ohne dabei höhere Marktzutrittskosten in Kauf nehmen zu müssen. Gerade durch den Beitritt von Billiglohnländern im Zuge der letzten beiden Erweiterungsrunden sind diese Anreize größer geworden. Zwar erzeugte die Marktausdehnung zweifellos wirtschaftliche Chancen, gleichzeitig erhöhte der dadurch entfesselte Standortwettbewerb aber auch die Gefahr eines sozialpolitischen Unterbietungswettlaufs.


Ein sehr langfristiges Unterfangen

Insgesamt betrachtet hat sich die bereits bei Gründung der EG angelegte Konstruktion einer sozialstaatlich nicht eingehegten Marktintegration verhärtet. Die liberale europäische Wirtschaftsverfassung wirkt dabei nicht auf alle Mitgliedsstaaten gleichmäßig ein, sondern sie setzt insbesondere koordinierte Marktwirtschaften unter Druck. Dies ist insofern problematisch, als es einigen dieser Länder - so etwa den nordischen Wohlfahrtsstaaten - gelungen ist, soziale Sicherheit mit einem hohen Niveau an Beschäftigung, Wohlstand und Einkommensgleichheit in Einklang zu bringen. Diese Erfolgsmodelle geraten nun ohne Not unter erheblichen Anpassungsdruck. Die jüngsten Erfolge regulativer EU-Sozialpolitik reichen dabei nicht aus, um hier gegenzusteuern. Es gibt heute nirgendwo ein Mehrebenensystem, das zwar die volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Waren und Dienstleistungen garantiert, wo aber die oberste Entscheidungsebene nicht umfangreich sozialpolitisch aktiv ist. Aus dieser Schieflage resultieren politisch höchst brisante Spannungen. Das Unterspülen der sozialpolitischen Souveränität und Autonomie des Nationalstaates, die Zurückdrängung der öffentlichen Daseinsvorsorge und der verschärfte Standort- und Steuerwettbewerb, der Steuerlasten verstärkt auf immobile Produktionsfaktoren verlagert und nationale Sozialstandards bedroht, kann nicht nur die soziale Kohäsion auf nationalstaatlicher Ebene beeinträchtigen, sondern in Folge davon auch veritable Legitimitätsprobleme auf allen Ebenen der Union erzeugen. Wenn die freigesetzten Marktdynamiken die Mitgliedsstaaten zu einer restriktiven Sozialpolitik zwingen und die Leidtragenden dieser Reformen das Wahlrecht als ihre einzige Machtressource dazu benutzen, um europaskeptische Positionen von Rechts- wie Linkspopulisten zu stärken, kann dies das gesamte Integrationsprojekt gefährden. Europa braucht daher eine starke soziale Dimension als Ferment für eine weiter reichende Integration. Angesichts des oft beklagten Demokratiedefizits ist es umso notwendiger, die Unterstützung der EU-Bürger für das Integrationsprojekt über den politischen Output der Union zu sichern. Kaum ein Politikfeld eignet sich für die Generierung von Output-Legitimation besser als die Sozialpolitik.

Die Chancen für eine umfassende sozialpolitische Re-Regulierung auf europäischer Ebene stehen allerdings alles andere als gut. Hier schließt sich der Kreis zu den obigen Ausführungen: Angesichts des gegenwärtigen Sozial- und Wohlstandsgefälles ist eine Einigung auf Mindeststandards auf dem Gebiet der redistributiven Sozialpolitik kurz- und mittelfristig ziemlich aussichtslos. Zu groß sind die Unterschiede zwischen den nationalen Sozialstaatsarchitekturen und Sozialstandards, zu ausgeprägt sind die Interessendivergenzen zwischen den reichen und armen Mitgliedsstaaten, und zu hoch sind mit dem Einstimmigkeitserfordernis die Konsensschwellen auf europäischer Ebene, um hier effektive Impulse setzen zu können. Eine finanzielle Einmischung der Union in die Sozialpolitik muss alleine an ihrer fiskalischen Impotenz scheitern. Europa hat zwar in den letzten Jahren mit der Offenen Methode der Koordinierung versucht, die Harmonisierung der nationalen Sozialschutzsysteme voranzutreiben. Ein im Wesentlichen unverbindlicher Informations- und Erfahrungsaustausch ist aber kein wirksames Instrument, um Marktkräfte zu disziplinieren. Die gegenwärtige Finanzkrise zeigt, welche massiven Folgeeffekte unregulierte Märkte erzeugen können. Die Europäer wären gut beraten, wenn sie den Binnenmarkt auf europäischer Ebene sozialpolitisch stärker einhegen und so einem Vertrauensverlust in Markt, Demokratie und das europäische Projekt selbst präventiv vorbeugen. Die Voraussetzungen dafür sind allerdings nicht günstig. Die Schaffung einheitlicher europäischer Sozialstandards auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit ist vielmehr ein sehr langfristiges Unterfangen.


Herbert Obinger (* 1970) ist Professor für vergleichende Staatstätigkeitsforschung am Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen und Projektleiter am dortigen Sonderforschungsbereich "Staatlichkeit im Wandel".
hobinger@zes.uni-bremen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008, S. 34-37
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2009