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SOZIALES/141: EU-Projekt Altersrisikoindividualisierung (spw)


spw - Ausgabe 6/2010 - Heft 181
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

EU-Projekt Altersrisikoindividualisierung

Von Björn Hacker


Deutschland führt sich gerne als Klassenprimus europäischer Reformempfehlungen in der Rentenpolitik auf. Während sich die Politikkoordinierung in der EU bislang prioritär finanziellen Aspekten der Alterssicherung widmete, ist für die "Europa 2020"-Strategie dringend ein neuer Diskurs um die Angemessenheit der Renten nötig. Das Grünbuch Renten der Europäischen Kommission macht wenig Hoffnung auf einen Neuanfang.


Vorreiter wider Willen? Während in Deutschland über Sinn und Unsinn der Rente mit 67 gestritten wird, erhebt die Europäische Kommission die Verlängerung der Lebensarbeitszeit zum wichtigsten Programmpunkt ihrer Reformagenda in der Alterssicherung. Zunehmend mischt sich die EU in sozialpolitische Belange ein, die eigentlich im Verantwortungsbereich der Mitgliedsstaaten liegen. Doch die konstitutionelle Asymmetrie der Union zwischen weit fortgeschrittener wirtschaftlicher Integration und gering ausgebauter sozialer Dimension vermag so nicht in die rechte Balance gebracht werden. Denn die rentenpolitische Aktivität der europäischen Institutionen ist zuförderst geleitet von finanziellen und wettbewerbsrelevanten Gesichtspunkten: Im selbst geschaffenen System von Wettbewerbsstaaten wird die Höhe der Lohnnebenkosten als entscheidender Standortfaktor angesehen. Die Beitragszahlungen für die Altersvorsorge spielen hierbei eine gewichtige Rolle. Das zahlenmäßige Verhältnis von Beschäftigten zu Rentenempfängern eines Landes gibt aus Brüsseler Sicht zudem Auskunft über den möglichen Beitrag der finanzintensiven Alterssicherung zu soliden Staatsfinanzen. Die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts als Reaktion auf die gestiegenen Staatsschuldenquoten infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise erhöht den Druck zu Einsparmaßnahmen und Konsolidierungskurs. Hinzu kommt der Anspruch zur Etablierung transnationaler Vorsorgemodelle und verbesserter Mitnahmemöglichkeiten von Rentenansprüchen.


Finanzpolitik schlägt Sozialpolitik

Als vor zehn Jahren mit der Lissabon-Strategie die Koordinierung der Rentenpolitiken in der EU gestartet wurde, verbanden die Akteure einer damals sozialdemokratisch gefärbten politischen Landkarte hiermit nicht nur Aspekte finanzieller Nachhaltigkeit. Die Offene Methode der Koordinierung (OMK) im Bereich der Alterssicherung startete im Jahr 2001 mit zwei weiteren Zielen, der Sicherung angemessener Rentenbezüge und der Modernisierung der Rentensysteme durch Anpassung an die veränderte Gesellschaft. Doch in der Folge wurde Modernisierung schnell mit der Herstellung finanzieller Tragfähigkeit der Systeme gleichgesetzt und die "Angemessenheit" kam unter die Räder.

Der Zeitgeist der 2000er Jahre war geprägt vom Glauben an Marktmacht und individuelle Risikoabsicherung, ein jeder sollte seines eigenen Glückes Schmied sein können. Sozialer Zusammenhalt würde sich am ehesten durch die Ergänzung sozialer Rechte durch persönliche Pflichten einstellen, wenn, ja wenn nur endlich die angeblich ausufernde staatliche Umverteilungspolitik eingeschränkt würde. Dies glaubten nicht nur Liberale und Konservative, auch viele Sozialdemokraten wurden Anhänger eines neuen Staat-Markt-Verhältnisses. Betrachtet man die Rentenreformen des vergangenen Jahrzehnts in Europa, legen sie Zeugnis ab von diesem Leitbild. Die EU stand den Reformern dabei durch ihre mittels der OMK durchgeführten Analysen unterstützend zur Seite.


Bismarcksche Rentenversicherung? Für gestrig erklärt

Die Zielrichtung der Politikkoordinierung traf die europäische Staatengemeinschaft ganz unterschiedlich: Während jene Länder mit gering ausgebauter und so relativ kostengünstiger staatlicher Alterssicherung bei umfassenden betrieblichen und privaten Vorsorgesystemen Lob einheimsten, konzentrierten sich Reformempfehlungen auf die Länder mit umfassenden gesetzlichen Rentenversicherungen in der Tradition der Sozialgesetzgebung Otto von Bismarcks. In dieser Staatengruppe gab es Vorreiter, die wie Italien, Schweden, Ungarn und Polen bereits Ende der 90er Jahre radikale Reformschritte einläuteten. Die Beitragsstabilität wurde damals zum neuen Paradigma erhoben, umfangreiche Leistungskürzungen des umlagefinanzierten Systems wurden vorgenommen und zu ihrer Kompensation mit der betrieblichen und privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge zwei neue Systemsäulen eingeführt.

In die gleiche Richtung hat sich Deutschland unter der Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf den Weg zur Reform seines Alterssicherungssystems gemacht. 2001 wurde die Riester-Reform beschlossen, die ganz der Herstellung finanzieller Nachhaltigkeit verschrieben war. Am folgenschwersten dabei: Das tradierte Ziel der Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rente wurde aufgegeben. Projektionen deuten darauf hin, dass künftigen Generationen die Bezüge aus dem Umlageverfahren nur noch als bescheidene Hilfe zur Vermeidung von Altersarmut dienen könnten. Die EU aber war zufrieden. Das Mutterland der Bismarckschen Sozialversicherung hatte gezeigt, dass es reformfähig ist und einen Paradigmenwechsel vollzogen. Doch damit nicht genug: In den Folgejahren entwickelte sich Deutschland zum Musterschüler der Europäischen Kommission. 2004 wurde durch den Nachhaltigkeitsfaktor die Beitragsäquivalenz weiter gestärkt, 2007 die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters beschlossen.

Andere EU-Staaten waren da renitenter, wollten partout nicht die Leistungsdefiniertheit ihres Alterssicherungssystems gegen die Dominanz stabiler Beiträge eintauschen (Österreich) oder einer institutionalisierten kapitalgedeckten Systemsäule besondere Relevanz zukommen lassen (Frankreich). Diese Länder traf vor allem der Bannstrahl der Kritik. Und die reformbereiten Regierungen nutzten nur zu gerne den mittels der OMK erhobenen Zeigefinger aus Brüssel, um die Reformskeptiker in Opposition und Gewerkschaften auf Linie zu bringen. Motto: Niemand könne schließlich das eigene Land als Schlusslicht in der EU sehen wollen - sei es bei der Reduzierung der öffentlichen Rentenausgaben oder bei der Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer.


Zehn Reformjahre und nun steigt die Altersarmut

Nach einem knappen Jahrzehnt des Lobs und Tadels zog man in den Europäischen Institutionen Bilanz des Erreichten. Erfrischend ehrlich. Der letzte Gemeinsame Bericht zu Sozialschutz und Sozialer Eingliederung von Kommission und Rat im Rahmen der Lissabon-Strategie deutet an, dass die Notwendigkeit für strukturelle Reformen der Rentensysteme zu einem großen Teil auf die Erfordernisse des Stabilitäts- und Wachstumspakts zurückgingen. Hier, wie auch im diesen Sommer veröffentlichten Grünbuch Renten der Kommission, wird als Erfolg verbucht, dass die meisten Mitgliedstaaten strukturelle Reformen durchgeführt haben, um ihre Alterssicherungssysteme auf eine nachhaltigere Basis zu stellen. So sei die Bereitstellung von Leistungen heute stärker konditioniert und die individuelle Verantwortung für das Altersrisiko sei deutlich gestiegen. Unumwunden wird aber zugegeben, dass als Kehrseite der Konzentration auf die finanzielle Nachhaltigkeit in den nächsten Jahren in vielen Staaten mit stark sinkenden Rentenniveaus, unter Umständen auch mit einem erheblichen Anstieg der Altersarmut zu rechnen sei. Nur nach langen, ungebrochenen Karrieren werde es überhaupt möglich sein, mit einem angemessenen Alterseinkommen zu rechnen.

Ein Dilemma! Und die Antwort der EU? Das Grünbuch Renten stellt eine Reihe von Suggestivfragen ("Sollte der politische Koordinierungsrahmen auf EU-Ebene gestärkt werden?") und hat eine verblüffende, doch altbekannte Lösung parat: Wenn die Renten ähnlich hoch bleiben sollen wie in der jüngeren Vergangenheit, müssten die Menschen eben erheblich länger im Arbeitsleben bleiben und zudem ihre Bereitschaft zum freiwilligen privaten Rentensparen erhöhen. Zur Rekapitulation: Die EU drängt zehn Jahre lang ihre Mitgliedstaaten zu Strukturreformen der Alterssicherung, die so erreichte Verbesserung der finanziellen Nachhaltigkeit geht zu Lasten der künftigen Rentenbezüge und zur Vermeidung der drohenden Altersarmut wird eine Verschärfung der durchgeführten Strukturreformen empfohlen. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Fast zynisch muten dabei Initiativen wie die Etablierung einer "europäischen Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung" an, wenn zeitgleich mit Vermarktlichung und Risikoindividualisierung der Alterssicherung die Voraussetzungen für eine Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung geschaffen werden. Dies trifft umso mehr zu, als sich beide Ziele auf die "Europa 2020"-Strategie berufen und so deren inhärente Widersprüche aufdecken.


Nutzt die OMK endlich sozialpolitisch!

Es ist höchste Zeit, die OMK in der nationalen politischen Arena ernster zu nehmen. Das "Europäische Semester", wird ab 2011 die Koordinierung der Sozialpolitiken stärker an die Vorgaben des verschärften Stabilitäts- und Wachstumspakts binden. Hierdurch steigt die Gefahr eines gänzlichen Verlusts sozialer Kohäsion als Zielbestimmung europäischer Governance. Das Potenzial der OMK, radikale Reformschritte zur Sicherung finanzieller Nachhaltigkeit im Rentensystem zu katalysieren, kann jedoch ebenso gut als sozialpolitisches Instrument genutzt werden. Mit der existierenden Vielfalt an Indikatoren und Benchmarks lassen sich auch die Entwicklung der Rentenhöhe, die Bedrohung durch flächendeckende Altersarmut oder Ungleichbehandlungen der Geschlechter thematisieren. Zu einem neuen Diskurs um die Angemessenheit der Renten im Rahmen der nun beginnenden "Europa 2020"-Strategie gehören darüber hinaus die Realisierung einer Erwerbstätigenversicherung, die Flexibilisierung des Renteneintrittsalters, die Prüfung obligatorischer Betriebsrenten und die Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze. Die SPD geht mit der Koppelung eines erhöhten gesetzlichen Rentenalters an eine Zunahme der Beschäftigungsquoten Älterer einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Denn gerade der EU-Klassenprimus Deutschland, der in vorauseilendem Gehorsam und mit gut gemeintem Reformeifer sämtliche Grundfesten seiner Alterssicherung eingerissen hat, täte gut daran, im eigenen Lande zu korrigieren und nach Brüssel Konzepte für alternative Reformwege zu schicken.


Dr. Björn Hacker ist Referent für Internationale Politikanalyse in der Friedrich-Ebert-Stiftung.

LITERATUR:

Dedring, Klaus-Heinrich/Demel, Jörg/Döring, Diether/Steffen, Johannes/ Zwiener, Rudolf (2010): Rückkehr zur lebensstandardsichernden und armutsfesten Rente, Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, August 2010.

Europäische Kommission (2010): Grünbuch. Angemessene, nachhaltige und sichere europäische Pensions- und Rentensysteme. KOM(2010)365 endgültig, Juli 2010.

Europäische Kommission (2010): Inerim EPC-SPC Joint Report on Pensions, Mai 2010.

Europäische Kommission (2010): Joint Report on Social Protection and Social Inclusion 2010, Februar 2010.

Hacker, Björn (2010): Das liberale Europäische Sozialmodell. Rentenreformen in der EU und die Offene Methode der Koordinierung, Baden-Baden: Nomos.

Hacker, Björn/van Treeck, Till (2010): Wie einflussreich wird die europäische Governance? Reformierter Stabilitäts- und Wachstumspakt, Europa 2020-Strategie und "Europäisches Semester", Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2010.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2010, Heft 181, Seite 54-57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2011