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WIRTSCHAFT/103: Das "Europäische Semester" - die Entmündigung des Parlaments (guernica)


guernica Nr. 2/2010
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Das "Europäische Semester" - die Entmündigung des Parlaments
EU-Neoliberalismus stellt grundlegende demokratische Errungenschaften in Frage

Von Gerald Oberansmayr


Beim EU-Finanzministerrates wurde - so berichten die Medien - viel über eine Finanztransaktionssteuer gestritten. Viel weniger berichtet wurde darüber, worauf sich die Finanzminister einmütig verständigen konnten. Es trägt den harmlosen Titel "Europäisches Semester" - und beinhaltet einen einschneidenden Demokratieabbau. Den Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten wird durch das "Europäische Semester" (ES) nämlich de facto das Budgetrecht entzogen, zumindest wird es so eingezwängt in einen Schraubstock von EU-Rat, EU-Kommission, Finanzministerrat und Finanzmärkten, dass davon wenig übrig bleibt.


Wie schaut das "Europäische Semester" nun im Detail aus? Ab 2011 soll die Budgeterstellung der einzelnen EU-Staaten nach einem fix vorgeschriebenen Muster ablaufen:

Phase 1: Im März legt der Europäische Rat (Rat der Staats- und Regierungschefs) ausgehend von einem Kommissionsbericht (Arbeitstitel: "Jährlicher Wachstumsausblick") wirtschaftspolitische Prioritäten fest. Daraus werden Empfehlungen für die Haushaltspolitik (Stabilitäts- und Konvergenzprogramme) und Wirtschaftspolitik (Nationale Reformprogramme) abgeleitet.

Phase 2: Im April reichen Mitgliedsstaaten ihre mittelfristige Haushaltsplanung und wirtschaftspolitische Planung entlang dieser Vorgaben bei der Kommission ein. Die Kommission bewertet die Pläne der Länder und entwirft ein Votum für den Ministerrat.

Phase 3: Im Juni und Juli geben Europäischer Rat und der Rat der Finanz- und Wirtschaftsminister (Ecofin) länderspezifische Politikempfehlungen zur allgemeinen Wirtschaftspolitik und zur Haushaltspolitik ab.

Phase 4: Erst jetzt, nachdem das EU-Paket aus "Empfehlungen" geschnürt worden ist, kommen die nationalen Parlamente ins Spiel: Sie dürfen diese "Empfehlungen" nun exekutieren und in ein konkretes Budget gießen.


Mit Strafen gepanzerte "Empfehlungen"

Viel Spielraum haben die Parlamente dabei nicht. Denn folgen sie den EU-"Empfehlungen" nicht, kann sich rasch ein Sanktionskarussell zu drehen beginnen. Die drohenden EU-Strafen sind zwar noch nicht im einzelnen festgelegt, dürften aber deutlich über die bisherigen Sanktionen im Fall der Verletzung des sog. "Stabilitätspaktes" hinausgehen. Vertreter der deutschen Bank schwärmen bereits von einem geharnischten Strafkatalog für sog. "Defizitsünder": "Vorstellbar sind die künftige Konditionierung von Mitteln aus Struktur- und Kohäsionsfonds, Zwangseinlagen als Faustpfand oder der vorübergehende Entzug von Stimmrechten im Ecofin. Nicht zuletzt ist eine Umkehr der Beweislast im Defizitverfahren denkbar: quasi-automatische Sanktionen würden beim Übertreten der Defizitschwelle unweigerlich ausgelöst und könnten nur mit einer qualifizierten Mehrheit aufgehoben werden." (1) Zusätzlichen Druck würden die EU-"Empfehlungen" außerdem über die Finanzmärkte entfalten. Denn, so freut sich die Deutsche Bank: "Das Europäische Semester ist nicht nur Signalgeber für die Politik. Die Bewertungen im Jahresturnus machen das europäische Semester auch als Informationsquelle für die Anleihemärkte interessant. Zum Gruppendruck im Ecofin käme dann der Druck von Investoren."(1) Am Ende eines "Europäischen Semesters" könnte damit das Nachsitzen der "Ungehorsamen" unter einem neokolonialen Zwangsregime stehen, wie es derzeit von EU-Kommission und IWF am Beispiel Griechenland vorgeführt wird.

Grundlagen der EU-Vorgaben ist das neoliberale Korsett der EU-Verträge, vor allem der sog. Stabilitätspakt, der strenge Defizit- und Verschuldensgrenzen festlegt. Ziel dieser Maßnahmen sei es, so der Vertreter der Deutschen Bank, die "deutsche Schuldenbremse zum Vorbild" (1) für die gesamte EU zu machen. Einer der letzten Akte der großen Koalition in Deutschland war es nämlich, eine Selbstverpflichtung zum öffentlichen Sparzwang in nationalen Verfassungsrang zu heben. Da die Parlamente andere EU-Staaten zu dieser Selbstentmündigung bislang nicht bereit waren, soll nun im "Europäischen Semester" deutscher Nachhilfeunterricht erteilt werden.


Großangriff auf Sozialsystem und Demokratie

Dabei geht es nur vordergründig um die Verhinderung von Schulden und Defiziten. Tatsächlich geht es um einen Großangriff auf die Sozialsysteme der Mitgliedsstaaten und deren Möglichkeit, über den Kurs der Wirtschaftspolitik in demokratischen Auseinandersetzungen entscheiden zu können. Die Ausgestaltung der Budget- bzw. Fiskalpolitik, d.h. welche und wie viel Steuern bzw. Schulden für welche Ausgaben, gehört zu den wichtigsten politischen Entscheidungen einer Gesellschaft. Die öffentlichen Budgets sind in Zahlen gegossene Wirtschafts- und Sozialpolitik. Fortschrittliche Politik setzt auf expansive Budgetpolitik, d. h. Ausweitung von öffentlicher Ausgaben, um Investitionen in jenen Bereichen sicherzustellen, wo der Markt oft kläglich versagt, um Wirtschaftskrisen gegenzusteuern, Arbeitslosigkeit zu reduzieren und soziale Existenzsicherheit für die unteren Schichten zu heben. Neoliberaler Wirtschaftspolitik dagegen will die öffentlichen Ausgaben vor allem im Sozialbereich senken. Damit sollen den Reichen Steuergeschenke gegeben und den weniger Reichen Existenzsicherheit genommen werden, um die "Marktkräfte" in Schwung zu bringen.

In Vor-EU-Zeiten musste diese Richtungsentscheidungen zwischen fortschrittlicher und neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik noch in (mehr oder weniger) demokratischen Auseinandersetzungen ausgefochten werden. Das soll nun endgültig der Vergangenheit angehören. Die neoliberale Grundrichtung der EU-Verträge soll weder abgewählt oder wegprotestiert werden können. Auf der Ebene der Geldpolitik ist das bereits der Fall. Im Statut der Europäischen Zentralbank (EZB) ist explizit festgehalten, dass es keinen wie immer gearteten Einfluss demokratisch gewählter Organe auf die Politik der EZB geben dürfe. Warum dieser Horror vor Demokratie? Weil die EZB per EU-Vertrag dazu verpflichtet ist, die Interessen der kleinen Minderheit der großen Vermögensbesitzer (Geldwertstabilität) bedingungslos über die der breiten Mehrheit der Bevölkerung (Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit) zu stellen. Im Bereich der Fiskalpolitik (Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalte) fehlte den neoliberalen Gralshütern in Brüssel noch eine entsprechende Möglichkeit, die Eliteninteressen von demokratischer Einflussnahme abzuschotten. Zwar verpflichtete schon bisher das EU-Primärrecht die EU-Staaten zu einer Wirtschaftspolitik "der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb", zwar schrieb auch bislang der Stabilitätspakt eine restriktive Budgetpolitik vor, doch es fehlte Kommission und Rat der direkte und präventive Durchgriff auf die Ausgaben und Einnahmenseite der nationalen Budgets. Deshalb knickten Regierungen angesichts von sozialen Massenprotesten oder bevorstehenden Wahlgängen zu oft ein und konnten unsoziale Sparprogramme nicht wie gewünscht durchdrücken. Das "Europäische Semester" soll dem Einfluss von unten auf die Budgetpolitik endgültig einen Riegel vorschieben, indem restriktive Budgetpolitik und Sozialabbau den jeweiligen Parlamenten von Kommission und Rat diktiert werden - pardon bei entsprechender Strafankündigung "empfohlen" werden können.


Verlierer an den Rändern...

Dass vor allem die deutschen Machteliten Druck für das "Europäische Semester" gemacht haben, ist wenig verwunderlich. Denn die Wirkungsweisen von EU-Binnenmarkt, Währungsunion und Europäischem Semester ergänzen sich zugunsten der deutschen Exportindustrie und Banken. Währungsunion und Binnenmarkt sorgen dafür, dass kleinere EU-Staaten mit einer weniger produktiven Industrie bzw. mit weniger angepassten Gewerkschaften ihre Märkte der deutschen Exportindustrie bedingungslos öffnen müssen. Das führte - siehe Griechenland, Spanien, Portugal, usw. - zu explodierenden Leistungsbilanzdefiziten, während Deutschland zum Exportchampion aufgestiegen ist. Die Leistungsbilanzdefizite mündeten schließlich in einer wachsenden Verschuldung der Staatshaushalte, wiederum im hohen Maß bei deutschen Banken. Das "Europäische Semester" soll nun sicherstellen, dass diese Schulden gehörig bedient, d.h. mit ihnen weiterhin gut verdient werden kann, indem Löhne und Sozialleistungen nach Kräften gedrückt werden und der Ausverkauf der wirtschaftlichen Juwelen dieser Länder an transnationale Konzerne reibungslos über die Bühne geht.


... und im Zentrum der EU

Doch nicht nur die Menschen in den EU-"Rand"gebieten, auch breite Schichten in den EU-Zentrumstaaten zählen zu den Verlierern dieses neoliberalen Teufelskreises. Denn die Überlegenheit der Exportindustrie von Ländern wie Deutschland oder auch Österreich resultiert nicht zuletzt aus dem massiven Lohndumping, das in diesen Ländern im letzten Jahrzehnt betrieben wurde. Nirgendwo in der EU sind die Lohnquoten so rasant in den Keller gerasselt wie in Deutschland und Österreich; in Deutschland arbeiten bereits 20% der Menschen in sog. Niedriglohnsektoren. Das untere Viertel der österreichischen ArbeitnehmerInnen musste Reallohnverluste seit dem EU-Beitritt von über 10% hinnehmen. Erinnern wir uns: 1994 erklärten die ÖGB-Spitzen den ArbeitnehmerInnen, man müsse der EU beitreten, um die Solidarität der ArbeitnehmerInnen in Europa zu stärken. Tatsächlich war die ÖGB-Politik nie so unsolidarisch mit ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften in anderen europäischen Staaten wie seit dem EU-Beitritt. Mit ihrer Unterstützung von Lohnzurückhaltung, Arbeitszeitflexibilisierung, Sozialabbau und Privatisierung im eigenen Land haben die ÖGB-Spitzen die Interessen der ArbeitnehmerInnen hierzulande weitgehend den Expansionsinteressen der heimischen Großindustrie und Banken untergeordnet, damit diese zum ökonomischen Süd-Ost-Feldzug aufbrechen konnte, den nun die ArbeitnehmerInnen dort mit drakonischem Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit bezahlen müssen.

Nachdem der Neoliberalismus in der Jahrhundertkrise seit 2008 spektakulär gegen die Wand gefahren ist, ist diese Wirtschaftspolitik in breiteren Schichten der Bevölkerung diskreditiert. Die derzeitige "Radikalisierung des Neoliberalismus durch die EU" (2) bedient sich daher immer offener autoritärer Methoden, wo elementarste Rechte von Parlamenten wie das Budgetrecht, die über Jahrhunderte erkämpft wurden, über Nacht zur Disposition gestellt werden.


Pröll: Sozialabbaubudgets bis 2014 als "Muster für das Europäische Semester"

Bezeichnend ist die Reaktion des österreichischen Finanzminister Pröll zum "Europäischen Semester". Er lobt die radikalen bis ins Jahr 2014 reichenden Sparziele, die die SP-/VP-Koaltion im April vorgelegt hat, bereits als "Muster für das Europäische Semester" (Standard, 7.9.2010). Bekanntlich sollen 70% der Einsparungen im Sozial- und Bildungsbereich erfolgen. Von Seiten der Parteien und Parlamentarier aber auch der Gewerkschaften herrscht bislang Funkstille zu diesem Großangriff auf die Demokratie. Der Beschluss des Ecofin wird offensichtlich bereits als eine Art höherer Macht gesehen, die außerhalb von Debatte und Kritik zu stehen hat. Einmal mehr zeigt sich: So wie die demokratischen Errungenschaften von unter erkämpft worden sind, werden sie auch von unten verteidigt werden müssen.


Anmerkungen:

(1) Nicolaus Heinen, Volkswirt bei Deutsche Bank Research in Frankfurt am Main, 10.09.2010, in:
http://www.euractiv.de/finanzplatz-europa/artikel/das-europaische-semester-signalgeber-fr-politik-und-markte-003619

(2) Joachim Becker, WU-Ökonom, in guernica 1/2010. Siehe dazu auch
http://www.werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=269&Itemid=1


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Quelle:
guernica Nr. 2/2010, Seite 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2010