Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

WIRTSCHAFT/116: Europäische Wirtschaftsregierung - Lohndiktate durch die Hintertür? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011

Zwischenruf: Europäische Wirtschaftsregierung - Lohndiktate durch die Hintertür?

von Hans-Joachim Schabedoth


Es hat lange gedauert, bis es der deutschen Bundesregierung aufgefallen ist: Euro-Stabilität, das setzt irgendwie auch wirtschaftspolitische Absprachen in Europa voraus. Unter dem Stichwort "Europäische Wirtschaftsregierung" war das ja schon länger in der Debatte. Denn in der Tat: Das EU-Projekt litt schon immer unter mangelnder Begeisterung für ein koordiniertes Vorgehen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Allerdings, wenn Angela Merkel und ihr Amtsbruder im Geiste, der französische Präsident Nicolas Sarkozy, über eine europäische Wirtschaftsregierung nachdenken, geht es weniger um einheitliche Unternehmenssteuerkorridore, Investitionsschwerpunkte oder Binnenkaufkraft.

Mehr begeistert man sich für Aufgewärmtes aus der Trickkiste des Neoliberalismus. Vorschläge für ein reguliertes Bankensystem bleiben in der Warteschleife. Es sind Vorgaben für Haushaltsdisziplin - am liebsten festgeschrieben in den Verfassungen als Schuldenbremse nach deutschem Muster, das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters - auch ohne verbesserte Arbeitschancen für Ältere - sowie Vorgaben für die Tarifpolitik zulasten des vollen Ausgleichs der nationalen Inflationsraten, für die sich deutsche und europäische konservative Regierungen jetzt stark machen. Merkel und Sarkozy begreifen so etwas als "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit". Einige ihrer Amtskollegen haben - wenn auch weniger laut und deutlich - ein paar Stoppsignale für solche Blütenträume gesetzt. Aber in EU-Europa ist es nicht üblich, dass die Großen auf Kleinere hören, auch wenn sie was zu sagen haben.

Die Wahrheit ist: Die ohnehin schon miserable gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in Deutschland samt Niedriglohnsektor und fortschreitender Prekarisierung der Arbeit sind Teil der europäischen Problemursachen und keineswegs exportfähig. Das Verallgemeinern einer rigiden Sparpolitik nach deutschem Vorbild und eine institutionalisierte Lohnsenkungsspirale würde Europa in eine deflationäre Abwärtsspirale zwingen. Lohnindexsysteme, sie gibt es in Portugal, Belgien und Luxemburg, sollen abgeschafft oder missachtet werden. Das Zementieren der heutigen Verteilungsverhältnisse in Deutschland und des Reallohnabbaus in den Defizitländern hätte mit europäischer Wirtschaftsregierung soviel zu tun wie Diebstahl mit Edelstahl.


Subtile Attacken auf die autonomen Lohnfindungssysteme

Politisches Rumpfuschen in der Tarifpolitik, das geht doch in Deutschland überhaupt nicht, sollten alle meinen, die schon einmal etwas von der grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie gehört haben. Die Noch-Regierenden in unserem Land trauen sich deshalb neue Breitseiten gegen die Tarifautonomie bei offenem Visier auch nicht zu. Die Attacken auf die autonomen Lohnfindungssysteme laufen subtiler. Da ist zum einen die fortgesetzte Verweigerung des gesetzlichen Mindestlohns. Dieses Schleusentor für stetigen Nachschub bei der Prekarisierung der Arbeitswelt steht immer noch offen. Da gibt es zum anderen die Stellschraube, Lohnersatzleistungen niedrig zu halten. Und schließlich gibt es mit dem öffentlichen Dienst eine tarifpolitische Arena, in der die Politik sehr direkt den Staatsbediensteten exemplarisch den Ausgleich für Preissteigerungen verweigern kann. Seit Jahren sind die Arbeitsverhältnisse in öffentlicher Verantwortung schon nicht mehr mustergültig. So wie gestern den Beschäftigten im öffentlichen Dienst Teilhabeansprüche mit Verweis auf eine vorgeblich nicht so üppige Situation der Privatwirtschaft beantwortet worden waren, könnte es in mittlerer Sicht anders herum laufen: Im öffentlichen Dienst wird exekutiert, was für alle irgendwann zur Norm werden soll.

Die Arbeitgeber sind erfahrungsgemäß für jeden Vorwand dankbar, der ihnen in Tarifauseinandersetzungen nützlich sein kann, um Einkommensverbesserungen zu verweigern. Müssen wir uns Sorgen machen, dass die Tarifpolitik zukünftig in Brüssel gemacht wird? Sieht man von der Sonderrolle der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ab, sind die deutschen Gewerkschaften vorerst noch weniger in ihrer Tarifautonomie bedroht als viele der anderen Gewerkschaften in der EU. Tarifpolitik wird letztendlich immer noch durch Einsatz der Mitglieder in den Betrieben und Branchen autonom entschieden. Und es bleibt dabei: Die Tarifforderung addiert sich nach der Maßgabe der Produktivitätsentwicklung und des nationalen Inflationsausgleichs und nicht nach der Summe des Unverstandes an der Spitze der EU-Länder.

Aber nicht unbedeutend ist, ob der Wind wieder von vorne gegen die Tarifautonomie weht. Europäische Wirtschaftsregierung? Ja, wenn es um besseres Arbeiten und Leben geht. Europäische Wirtschaftsregierung als neue Spielwiese für neoliberale Politiker, die nicht dazulernen wollen? Es würde die Idee vom Europa der Bürgerinnen und Bürger ein weiteres Mal unnötig belasten.


Hans-Joachim Schabedoth (*1952) ist Sozialwissenschaftler, leitete bis 2009 die Abteilung Grundsatzfragen beim DGB-Bundesvorstand in Berlin und arbeitet jetzt beim Vorstand der IG Metall zu Grundsatzfragen der Gewerkschafts- und Gesellschaftspolitik.


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011, S. 62-63
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2011