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WIRTSCHAFT/129: Neues Wachstum für Europa (spw)


spw - Ausgabe 5/2014 - Heft 204
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Neues Wachstum für Europa

von Michael Dauderstädt



Europa stagniert; allerdings nicht ganz Europa. Vor allem in Mittel- und Osteuropa ist teilweise noch Wachstum zu beobachten. Aber in den GIPS-Schuldenländern (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) und wichtigen Zentralökonomien wie Frankreich, Italien Niederlanden und selbst dem viel gepriesenen Deutschland lagen die Wachstumsraten 2012 und 2013 zwischen -7 Prozent und +1 Prozent. In der Folge ist es schwer, die Staatsschulden zu verringern und die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Wie Wachstum bewirkt werden könnte, darüber herrscht zwischen eher linken Kräften (wie den französischen Sozialisten) und eher rechten (wie den deutschen Christdemokraten) keine Einigkeit. Die einen wollen die Nachfrage stimulieren, die anderen fordern Sparmaßnahmen und schmerzhafte Reformen. Gemeinsam ist jedoch beiden, dass sie Wachstum als Lösung sehen.

Dagegen wenden sich Gruppen, die Wachstum grundsätzlich skeptisch betrachten und deren Spektrum ebenfalls von Konservativen (wie Meinhard Miegel) über Linke (Karl-Georg Zinn) bis zu Alternativen (wie Niko Paech) reicht. Sie befürchten den Ruin des Planeten durch Klimawandel, Ausrottung von Arten, Ressourcenerschöpfung und Umweltverschmutzung. Damit paart sich eine Ablehnung eines expandierenden Konsums mit einer immer rascheren Umschlagsgeschwindigkeit der technischen Ausstattung und Moden, dessen Fähigkeit, die Menschen glücklich zu machen, fraglich ist und der weniger Bedürfnisse befriedigt als der sozialen Distinktion dient.

Was soll, was kann wachsen?

Bezeichnenderweise fordern die wenigsten Wachstumsskeptiker einen Wachstumsstopp für Einkommen (angefangen bei sich selbst). Aber wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht mehr wachsen soll, darf es auch das Volkseinkommen (das sich nur durch Auslandseinkommen, Abschreibungen und Gütersteuern vom BIP unterscheidet) nicht mehr. Nun kann man - zumal aus sozialdemokratischer Perspektive - sicher gegen das Wachstum ohnehin schon hoher Einkommen sein. Bekanntlich sind diese in den letzten Jahrzehnten viel schneller gewachsen als die niedrigen Einkommen. Aber wie sieht es mit den Armen in Europa aus? Sollen sie arm bleiben? In einem Null- oder Minuswachstumskontext (Degrowth) wäre das dann nur durch Umverteilung von reich zu arm zu bewerkstelligen.

Insbesondere in Europa stellt sich die Frage auch regional: Sollte den ärmeren Mitgliedstaaten nicht ein höheres Wachstum vergönnt sein als den reicheren? Tatsächlich sind seit etwa 2000 - vor allem bis zur Krise 2009 - die Volkswirtschaften der neuen Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas sowie in der Peripherie (GIPS) stärker gewachsen als der (reichere) Rest. Nach der Krise konnten die meisten osteuropäischen Länder wieder auf den Pfad aufholenden Wachstums zurückkehren, aber die Opfer der Austeritätspolitik (GIPS) fallen weiter zurück.

Ungeachtet der regionalen Verteilung ist zunächst auch offen, welche Einkommen und - damit eng verbunden - welche Tätigkeiten und welcher Output zunehmen sollen. Auch hier gibt es ideologisch geprägte Kontroversen. Für die konservativ-liberale Seite soll der private Sektor wachsen (oder jedenfalls auf keinen Fall der Staat) und am besten der Export und die Investitionen. Das hat auch den Vorteil, dass dann die Gewinne und Kapitaleinkommen schneller wachsen können als die Löhne, denn auf die (inländische) Konsumnachfrage ist man in diesem Wachstumsmodell kaum angewiesen. Aus sozialdemokratischer Sicht ist der Zweck des Wirtschaftens die Deckung der Bedürfnisse der Bevölkerung. Damit steht der (inländische) Konsum im Vordergrund. Inwieweit dabei der öffentliche oder der private Konsum wachsen sollen, hängt davon ab, wo die Bedürfnisse liegen, ob eher ein ungedeckter Bedarf an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen wie Bildung oder Gesundheit oder an privaten besteht. Dabei spricht unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit einiges für eine langfristige Expansion des öffentlichen Sektors, da die private Bedürfnisbefriedigung über den Markt für die ärmeren Bevölkerungsschichten oft am Mangel an Einkommen und Kaufkraft leidet.

Eine weitere Kontroverse betrifft die Verteilung des Wachstums auf Industrie und Dienstleistungen. In Deutschland herrscht derzeit die Erzählung vor, dass das Land in der Vergangenheit vor allem aus angelsächsischen Kreisen zu Unrecht wegen seiner angeblichen Industrielastigkeit kritisiert worden sei, während die Krise und die Erholung danach die Vorteile deutscher industrieller Stärke gezeigt hätten. Entsprechend empfiehlt man den europäischen Partnern eine Re-Industrialisierung. Auch die angelsächsischen Regierungen von Obama und Cameron sehen in ihren Volkswirtschaften entsprechende Defizite. Tatsächlich wächst die US-Wirtschaft schneller als die deutsche und auch die deutsche Industrie verliert kontinuierlich Arbeitsplätze, weshalb die niedrige deutsche Arbeitslosigkeit sich vor allem dem Beschäftigungswachstum im Dienstleistungssektor verdankt. Aber im Kontext eines stark auf Exporte gestützten Wachstums liegt ein Fokus auf die Industrie nahe, da sie eher handelbare Güter anbietet als der Dienstleistungssektor. Daher wird Ländern mit hohen Außenhandelsdefiziten eine Reindustrialisierung empfohlen, damit sie mehr exportieren oder Importe substituieren können.

Drei Sorgen: Arbeit, Umwelt, Verteilung

Wachstum hängt in ambivalenter und komplexer Weise mit drei zentralen Anliegen der Menschen zusammen, die Beschäftigung, eine nachhaltige Ökologie und eine sozial ausgeglichene Verteilung wünschen.

Arbeit und Wachstum sind über die Produktivität miteinander verbunden. Je mehr und je produktiver gearbeitet wird, desto höher ist der Output. Wachstum erfordert entweder mehr Arbeitsinput oder eine steigende Produktivität. Umgekehrt erfordert höhere Beschäftigung Wachstum oder sinkende Produktivität. Das deutsche Beschäftigungswunder bei geringem Wachstum verdankt sich zwei Entwicklungen, einem Rückgang der Arbeitszeit pro Beschäftigten und einem schwachen Produktivitätswachstum. Die Arbeitszeitverkürzung erfolgte aber nicht im Zuge einer - von Gewerkschaften immer wieder geforderten - Reduzierung der Wochenarbeitszeit, sondern durch eine Zunahme der Teilzeitarbeit auf Kosten der Vollzeitarbeitsplätze. Das geringe Produktivitätswachstum äußerte sich auch in einem geringen Lohnwachstum. Wachsende Gruppen mit wenig produktiven Teilzeitjobs sind die Basis für zunehmende Ungleichheit und Armut.

Die Umwelt leidet - wie eingangs schon erwähnt - unter dem Wachstum, wenn es traditionellen Mustern mit hohem Ressourcenverbrauch und starken Emissionen (vor allem auch von CO2) folgt. Aber ein Wechsel von diesem Wachstumspfad auf einen umweltschonenden Pfad "grünen Wachstums" würde auch Wachstum bedeuten, etwa in Bereichen alternativer Energieproduktion. Dieses spezifische Wachstum könnte aber durch Schrumpfen anderer Bereiche kompensiert werden. Vertreter des grünen Wachstums können sich positive Beschäftigungseffekte erhoffen, wenn die grüne Produktion arbeitsintensiver wäre als die verdrängte traditionelle Produktion, eventuell allerdings um den Preis niedrigerer Produktivität.

Die Verteilung der Einkommen (und damit real des Outputs) hängt ebenfalls vom Wachstum ab. Piketty (2014) hat gezeigt, dass langfristig die Kapitalrendite relativ stabil bei 4 Prozent und damit über der Wachstumsrate des BIP liegt. Gleichzeitig wächst der Kapitalstock bzw. der Vermögensbestand relativ zum BIP (Piketty's ß). Damit sinkt zwangsläufig die Lohnquote. Will man diese fatalen Verteilungsfolgen vermeiden, müsste entweder das Wachstum höher als die Kapitalrendite sein oder die Kapitaleinkommen und Vermögen stärker besteuert werden. Ungeachtet politischer Gegenmaßnahmen dürfte dieses Wachstumsmodell aber kaum stabil sein, da fraglich ist, ob kontinuierlich so viel investiert wird, wenn die Nachfrage wegen der sinkenden Lohnquote eher schwach bleibt.

Das Dilemma besteht darin, dass geringes Wachstum tendenziell Beschäftigung und Einkommensverteilung beeinträchtigt, starkes Wachstum dagegen die Umwelt, soweit es nicht einem neuen, grünen Muster folgt. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Das in der FES entwickelte Leitbild des "sozialen Wachstums" bietet eine Alternative.

Soziales Wachstum - Leitbild progressiver Wirtschaftspolitik

Das soziale Wachstum (FES 2011) stützt sich angebotsseitig auf eine Expansion von Branchen, die den einheimischen Bedarf befriedigen, vor allem der sozialen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit oder Pflege, aber auch alternativer Energie- und Transportsysteme. Nachfrageseitig beruht das Modell auf Lohnwachstum durch mehr Beschäftigung und gute Arbeit und auf einer effizienteren Umverteilung (Besteuerung der Vermögen, Erbschaften und hohen Einkommen). Konservative befürchten, der darin angelegte Strukturwandel könnte gesamtwirtschaftlich die Zunahme der Arbeitsproduktivität bremsen, wenn Branchen mit stark steigender Arbeitsproduktivität (Industrie) an Gewicht verlieren und Branchen mit schwach steigender Arbeitsproduktivität (eventuell soziale Dienstleistungen) an Gewicht gewinnen.

Aber der (relativ langsamere) Anstieg der Arbeitsproduktivität im Bereich der sozialen Dienstleistungen kann beschleunigt und das Abflachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in der Gesamtwirtschaft gebremst werden: Erstens kann bei der Produktion der sozialen Dienstleistungen qualitativ höherwertige Arbeit eingesetzt werden. Damit verbessert sich die Qualität des Produktionsergebnisses, und die verbesserte Qualität wird als Bestandteil des realen Wachstums verbucht. Eine verbesserte Qualität der eingesetzten Arbeit ist wachstumswirksam, wenn sie zu höheren Einnahmen der Dienstleister und mittelbar zu höheren Löhnen führt. Das führt bei den Haushalten, die durch die zusätzliche Beschäftigung begünstigt werden, zu (noch) höheren Einnahmen. Zweitens werden sich die Wertproduktivität und die (Real-)Löhne im Dienstleistungssektor erhöhen, wenn die Nachfrage nach Dienstleistungen steigt und die Preise im Industriesektor dank der dort steigenden Produktivität relativ sinken (Dauderstädt 2012).

Eine Expansion der sozialen Dienstleistungen kann auch aus Gründen wachstumswirksam sein, die jenseits der kreislaufmäßigen Zusammenhänge liegen. Dazu zählt etwa die Transformation von Hausarbeit (z.B. Pflege oder Kinderbetreuung) in Erwerbsarbeit, die mit dem Fachbegriff "Marketization" bezeichnet wird (Schettkat 2010). So entstehen neue Einkommensströme, die auch im Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfasst werden und es vergrößern. Aber auch vom Output sozialer Dienstleistungen können positive Wachstumswirkungen ausgehen. Eine verbesserte Erziehung und Bildung, die durch den erhöhten Einsatz von professioneller Arbeit bei deren "Produktion" zustande kommt, verbessert den gesellschaftlichen Kapitalstock qualitativ und trägt zu einer höheren Beschäftigungsfähigkeit der (künftigen) Arbeitskräfte bei. Quantitative Modellierungen dieses Wachstumsmodells durch Prognos (Gramke u.a. 2012) und RWI (Augurzky u.a. 2012) im Auftrag der FES belegen, dass sich diese Expansion im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf selbst finanziert und zu einem - allerdings strukturell anders aufgebauten - Wachstum führt.

Dieses soziale Wachstum schafft Beschäftigung, verbessert die Verteilung und belastet die Umwelt deutlich weniger als eine vergleichbare Expansion industrieller Fertigwarenproduktion, die außerdem viel stärker exportorientiert wäre.

Soziales Wachstum für Europa?

Für Deutschland ist das Modell des sozialen Wachstums tragfähig und angesagt, da das exportlastige deutsche Wachstumsmodell Binnenwachstum verschenkt, indem es Ersparnisse ins Ausland verschiebt, wo sie an Wert verlieren, und die europäischen und globalen Ungleichgewichte erhöhen. Stattdessen würde eine Expansion der Binnennachfrage Wohlstand im eigenen Land schaffen und dazu beitragen, die Ungleichgewichte abzubauen.

Problematischer ist jedoch die Übertragung dieses Modells auf defizitäre Länder, die eigentlich ihre Exportfähigkeit verbessern müssten. Die Länder Südeuropas haben bis zur Krise Wachstumsmodelle verfolgt, die hauptsächlich auf einer Expansion der Binnennachfrage und der Branchen, die nicht-handelbare Güter produzieren (z.B. Bausektor), beruhen. Preise und Löhne stiegen schneller als bei ihren Handelspartnern und untergruben so die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Aber der Kollaps dieses Modells war primär dem externen Schock von Finanzkrise und globaler Rezession geschuldet und der falschen europäischen Reaktion auf die Staatsschuldenpanik.

Die Spuren dieser fatalen Vollbremsung haben sich tief, zu tief in die betroffenen Volkswirtschaften und ihre Gesellschaften eingegraben. Das Überschießen der Löhne ist inzwischen korrigiert. Das künftige Wachstum sollte aber nicht nur exportorientiert sein. Letztlich ist Europa als Ganzes zu groß, um mit Exportüberschüssen sein Wachstum anzukurbeln. Auch wenn der Bedarf für Branchen wie den Bausektor erst mal gedeckt ist, bleiben viele Bedürfnisse der Menschen in Europa und gerade in den Krisenländern unbefriedigt. Hier geht es wie im Konzept des sozialen Wachstums darum, Kreisläufe wieder in Gang zu setzen, die Arbeit schaffen, deren Output diese Bedürfnisse deckt und deren Einkommen die dazu nötige Kaufkraft bereitstellt. Die Konservativen, die darauf bestehen, dass die Rettung nur im Export liege, müssen sich der Frage stellen, wie die Weltwirtschaft denn ohne Exporte wachsen kann. Europa ist zwar kleiner als die Welt, aber nicht zu klein für ein binnenmarktorientiertes Wachstum und zu groß, um den Rest der Welt mit Exportüberschüssen deutschen Ausmaßes zu überfluten.


Dr. Michael Dauderstädt war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung und arbeitet heute als freiberuflicher Berater.


Literatur

Augurzky (2012) Soziale Gesundheitswirtschaft - Impulse für mehr Wohlstand, Bonn (FES)
(http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08872.pdf)

Gramke, Kai, Reinhard Schüssler und Markus Matuschke (2012) Soziales Wachstum durch produktive Kreisläufe, Bonn (FES)
(http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08886.pdf)

Dauderstädt, Michael (2012) Produktivität im Dienstleistungssektor: Eine Grenze des Wachstums? In: Wirtschaftsdienst 1/2012

FES (2011) Soziales Wachstum. Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik, Bonn
(http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08628.pdf)

Piketty, T. (2014) Capital in the Twenty-First Century, Cambridge: Harvard University Press, translated by Arthur Goldhammer (Original: Le capital au XXIe siècle, Paris: Edition du Seuil, 2013)

Schettkat Ronald (2010) "Dienstleistungen zwischen Kostenkrankheit und Marketization" Bonn (FES)
(http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07406.pdf).

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2014, Heft 204, Seite 21 - 24
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2014


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