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AGRAR/091: Abkehr von Biosprit-Zielen - bekommt EU kalte Füße? (SB)


Französische Umweltministerin deutet Abkehr von Agrospritziel an

Bewegt die EU eine tiefe Sorge über Nahrungsnot der Menschen oder ist sie einfach noch nicht ausreichend auf das Eindämmen von Hungerrevolten vorbereitet?


Die französische Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet hat am Montag erklärt, daß die Zielvorgabe der Europäischen Union, den Anteil des Agrosprits am Treibstoffverbrauch auf zehn Prozent bis zum Jahre 2020 zu erhöhen, "wahrscheinlich ein Fehler" war. Langfristig könnte die EU nicht eine Neubewertung des Ziels ausschließen, auch wenn das zur Zeit noch kein Thema sei, sagte die Ministerin unmittelbar vor Beginn der französischen Ratspräsidentschaft laut einem Reuters-Bericht.

Vielleicht wäre es besser gewesen, im ersten Schritt strenge Umwelt- und Sozialstandards für Agrotreibstoffe festzulegen und anschließend zu schauen, bis zu welchem Anteil sie genutzt werden können, nicht umgekehrt, erklärte sie. Pflanzen für die Lebensmittelproduktion dürften nicht von Pflanzen für Agrosprit verdrängt werden.

Kosciusko-Morizet ist nicht die erste europäische Politikerin, die eine Abkehr von der Zielvorgabe oder eine zeitliche Verschiebung andeutet. EU-Kommissar Stavros Dimas erklärte bereits vor Monaten, daß die EU-Ziele Nachhaltigkeitskriterien unterworfen werden müßten, ähnlich äußerten sich auch die Bundesminister Horst Seehofer (Landwirtschaft) und Sigmar Gabriel (Umwelt). Italien hat eine Abkehr von den EU-Vorgaben verlangt, und Großbritannien gab sich ebenfalls skeptisch.

Es hat den Anschein, als bekämen die Politiker kalte Füße angesichts des enormen Konfliktpotentials, das sich durch den rasanten Anstieg der Not der Menschen aufgebaut hat und weiter aufbauen dürfte. Noch sind die EU-Institutionen nicht darauf vorbereitet, erstens Heerscharen hungernder Flüchtlinge aus Afrika und Osteuropa abzuwehren und zweitens den Deckel auf dem brodelnden Hexenkessel innerhalb der Festungsmauern der Europäischen Union zu halten, sollten Hungeraufstände nicht mehr nur eine sporadische Erscheinung sein wie im zurückliegenden halben Jahr außerhalb der EU, sondern zu einem Dauerkonflikt auch innerhalb des EU-Raums ausarten. Mit dem materiellen Ausbau und der Kompetenzerweiterung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex sowie der permanenten Vereinheitlichung der europäischen Sicherheitsarchitektur (Datenaustausch, europäischer Haftbefehl, Satellitenüberwachung, etc.), teils in transatlantischer Kooperation, bereitet sich die Europäische Union auf kommende gesellschaftliche Zerwürfnisse vor.

Mit der Festlegung der Agrospritziele hat die EU den Bogen überspannt. Das hat sie wohl nicht so eingeschätzt, denn plötzlich wurde deutlich, was offenbar bedeckt gehalten werden sollte, nämlich daß Europa faktisch über keine Lagerbestände an Lebensmitteln mehr verfügt und daß dies kein Schicksalsschlag war, sondern Folge einer gezielten Mangelpolitik. Agrarsubventionen wurden von den Produktionsmengen entkoppelt, und anstatt die kleinen und mittelständischen Landwirte zu unterstützen oder bei der Subventionsvergabe Sozialfaktoren wie Anzahl der Beschäftigten einzuführen, wurden fortan flächenstarke Betriebe gefördert. Dieses System wird zwar inzwischen ebenfalls über die nächsten Jahren hinweg Schritt für Schritt abgeschafft, aber die sogenannten Getreideberge wurden bis auf den Bodensatz verbraucht, es wird sie vermutlich nie wieder geben.

Vor dem Hintergrund des sich gegenwärtig abzeichnenden ungünstigen Trends hinsichtlich der globalen Nahrungsversorgung hat sich die EU in eine zugespitzte Druckposition manövriert und muß laufend mit bangem Blick auf die Entwicklung von Faktoren (Klima, Weltmarkt) schauen, über die sie keine Kontrolle hat. Diese Entwicklung hätte sich jeder EU-Politiker schon vor der Agrarreform des früheren EU-Kommissars Franz Fischler ausrechnen können.

Die Aussage der französischen Umweltministerin, daß die EU einen Fehler begangen hat, bedeutet keineswegs zwangsläufig eine endgültige Absage an die geplante Erhöhung des Agrospritanteils, sondern könnte auch als Beschwichtigungsversuch der Bevölkerung gewertet werden, um die Zügel in der Hand zu behalten und den krassen Widerspruch zwischen einer kleinen Oberschicht von rundum versorgten und einer wachsenden Zahl von Nahrungsnot leidenden Menschen verdaulich erscheinen zu lassen.

1. Juli 2008