Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → REDAKTION

DILJA/006: Kein Ermittlungsinteresse an Mord und Organraub im Kosovo - Teil 6 (SB)


Erdrückende Hinweise im Marty-Bericht zu Mord und Organhandel im Kosovo bzw. in Albanien

Das Fehlen jeglichen Ermittlungsinteresses westlicher Institutionen wirft Fragen nach Mitwisserschaft und direkter Beteiligung auf

Teil 6: Auch die Schlußfolgerungen des Marty-Berichts werden ignoriert


In seinen Schlußanmerkungen stellt Marty selbst noch einmal klar, zu welchen Ergebnissen seine Untersuchungen geführt haben, welche Konsequenzen und Schlußfolgerungen seiner Meinung nach daraus zu ziehen sind und mit welchen Absichten dieser Bericht erstellt wurde. In Anbetracht dessen, daß dem Schweizer Juristen seitens der EU nach der Veröffentlichung seines Berichts lapidar entgegengehalten wurde, er möge "Beweise" erbringen, soll an dieser Stelle mit folgendem Zitat dokumentiert werden, wie der Sonderermittler des Europarats am Ende seines Berichts zu dem "Schweigen und die mangelnde Reaktion angesichts eines derartigen Skandals" Stellung genommen hat [22]:

We have highlighted and documented the shady, and in some cases open, connections between organised crime and politics, including representatives of the authorities; that too is nothing new, at least for those who have not sought to close their eyes and ears at all costs. The silence and the failure to react in the face of such a scandal is just as serious and unacceptable. We have not engaged in mere rumour-mongering, but have rather described events on the basis of multiple testimonies, documents and objective evidence. What we have uncovered is of course not completely unheard-of. The same or similar findings have long been detailed and condemned in reports by key intelligence and police agencies, albeit without having been followed up properly, because the authors' respective political masters have preferred to keep a low profile and say nothing, purportedly for reasons of "political expediency". But we must ask what interests could possibly justify such an attitude of disdain for all the values that are invariably invoked in public?

[Wir haben die im Schatten - und in manchen Fällen auch offen - liegenden Verbindungen zwischen dem Organisierten Verbrechen und der Politik, Vertreter der Obrigkeiten eingeschlossen, aufgezeigt und dokumentiert. Auch das ist nichts Neues, zumindest für jene, die nicht ohne Rücksicht auf Verluste versuchten, Augen und Ohren geschlossen zu halten. Das Schweigen und die mangelnde Reaktion angesichts eines derartigen Skandals sind ebenso ernst zu nehmen und inakzeptabel. Wir haben uns nicht an der bloßen Verbreitung von Gerüchten beteiligt, sondern die Ereignisse vielmehr auf Grundlage mehrfacher Zeugenaussagen, von Dokumenten und objektiven Beweisen beschrieben. Was wir aufdeckten, war natürlich nicht vollkommen unbemerkt geblieben. Das gleiche oder ähnliche Erkenntnisse wurden schon seit langem detailliert in Berichten relevanter Nachrichtendienste und Polizeibehörden festgehalten und verurteilt, allerdings ohne daß ihnen richtig nachgegangen wurde, weil es die jeweiligen politischen Herren der Autoren angeblich aus Gründen "politischer Zweckdienlichkeit" vorzogen, sie nicht allzu bekannt werden zu lassen und nichts weiter darüber zu verlauten. Wir müssen jedoch die Frage stellen, welche Interessen wohl eine solche Haltung der Geringschätzung für alle Werte, die in der Öffentlichkeit unterschiedslos beschworen werden, rechtfertigen können.] [Übersetzung der Schattenblick-Redaktion]

Diese Frage wäre es wert, aufgegriffen und in eine breite, öffentliche Kontroverse übergeführt zu werden. Sollte nicht nur der Rechts- bzw. Menschenrechtsausschuß der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, wie am 16. Dezember 2010 geschehen, den Bericht annehmen und die in ihm aufgeworfenen Forderungen erheben, sondern auch die Parlamentarische Versammlung in ihrer Sitzung am 25. Januar 2011 den Resolutionsentwurf annehmen, wäre damit ein politisches Zeichen gesetzt - mehr nicht. Ein solches Votum des Europarats, sollte es denn zustandekommen, würde das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit in den EU- bzw. Europaratsstaaten nicht kompensieren können. Es spricht Bände, daß in ersten Reaktionen auf die Veröffentlichung des Marty-Berichts eher der Berichterstatter selbst in Mißkredit gezogen wurde, so als seien seine Reputation oder fachliche Kompetenz in Frage zu stellen, als die in dem Bericht benannten mutmaßlichen Täter.

Dies wirft Fragen nicht nur nach der Mitwisserschaft und politischen Rückendeckung, sondern sogar nach einer möglichen direkten Tatbeteiligung westlicher Stellen auf. Zu den Feststellungen des Marty-Berichts gehört unter anderem, daß KFOR und UNMIK, nachdem sie die Kontrolle über die serbische Provinz Kosovo nach den Bombenangriffen der NATO 1999 übernommen hatten, nicht fähig (oder nicht willens?) waren, den gesetzlichen Status in der, wie in der UN-Resolution 1244 bestätigt, serbischen Provinz herzustellen sowie die Bewegungen der Menschen und die Grenze zu Albanien zu kontrollieren [23]. Dem Bericht zufolge hat die Regierung Albaniens behauptet, daß zu keinem Zeitpunkt Leichname von aus dem Kosovo stammenden Opfern auf albanischem Territorium begraben wurden. Dies ist laut Bericht nachweislich falsch. Als Beleg wird ein zu einem Geheimgefängnis der UÇK umfunktioniertes Fabrikgebäude in den Außenbezirken der nordalbanischen Stadt Kukës angeführt, in dem Zivilpersonen gefangengehalten wurden [24]. Hinweise auf Massengräber in Albanien, die auf Satellitenaufnahmen beruhten, die den Europaratsermittlern von der serbischen Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen zur Verfügung gestellt wurden, konnte noch nicht nachgegangen werden. Unterlagen der örtlichen Friedhofsverwaltung in Kukës enthalten jedoch ein fünfseitiges Dokument mit einer Liste verstorbener Immigranten aus dem Kosovo aus der Zeit vom 28. März 1999 bis zum 17. Juni desselben Jahres, die demnach im Norden Albaniens bestattet wurden.

Dem Bericht ist auch zu entnehmen, daß nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) über 6000 Menschen als vermißt galten. 1400 von ihnen konnten später gefunden werden, sie hatten den Krieg und die in ihm von allen Kriegsparteien begangenen Verbrechen überlebt. 2.500 Leichname, die meisten von ihnen Kosovo-Albaner, konnten laut ICRC in Massengräbern, die sich zur Hälfte in Serbien und zur anderen Hälfte im Kosovo selbst befanden, gefunden und identifiziert werden. Das Schicksal weiterer 1.869 Vermißter gilt noch immer als unaufgeklärt. 470 von ihnen werden seit einem Zeitpunkt nach dem 12. Juni 1999 vermißt. An diesem Tag marschierten die KFOR-Truppen in die von den serbischen Kräften verlassene Provinz Kosovo ein. Bei 375 dieser Vermißten handelt es sich um Nicht-Albaner, die meisten von ihnen Serben, während die übrigen 96 Vermißten Kosovo-Albaner waren. All dies wird auch im Marty-Report vermerkt [25].

Ebenso wird angemerkt, daß viele kosovo-albanische Familien, die nach dem 12. Juni 1999 einen Angehörigen verloren haben, ein früheres Datum des Verschwindens angaben aus Angst davor, als Verräter angesehen und von der UÇK bestraft zu werden. Dies bedeutet, daß die tatsächliche Zahl derer, die möglicherweise von den UÇK-Verbänden entführt, nach Albanien verschleppt, dort gegen ihren Willen gefangengehalten und mißhandelt wurden, um am Ende eines oder mehrerer Organe beraubt und womöglich sogar getötet zu werden, noch größer gewesen sein könnte als bislang vermutet. In den Gesetzen des Kosovo, in denen Kompensationszahlungen an die Hinterbliebenen verstorbener "Märtyrer" geregelt werden, werden Opfer, die nach der Ankunft der KFOR-Truppen zu beklagen waren, explizit ausgenommen.

Da strafrechtlich relevante Ermittlungen, banal gesagt, ein dementsprechendes Ermittlungsinteresse auf seiten derjenigen voraussetzen, die tatsächlich ermittlungsbefugt sind, muß sich hier natürlich die Katze in den Schwanz beißen. Der Marty-Bericht krankt nicht etwa, wie die Reaktionen der EU nahezulegen versuchen, an seiner mangelnden Beweiskraft im strafrechtlichen Sinne, da in ihm gar nicht der Versuch unternommen wird und werden kann, die mangelnde Ermittlungskompetenz im strafjuristischen Sinne zu kompensieren oder kleinzureden. Sein politisch-moralisches Gewicht liegt gleichwohl nicht zuletzt darin, daß Menschen wie der Schweizer Abgeordnete und ehemalige Staatsanwalt Dick Marty, offiziell vom Europarat beauftragt, mit ihrer persönlichen Integrität dafür einstehen, daß die in dem Bericht aufgeführten Angaben auf aus seiner Sicht glaubwürdigen und verifizierbaren Angaben vieler, vieler Zeugen beruhen, die allesamt, um dies noch einmal ganz deutlich zu machen, aus nackter Angst um ihr Leben schweigen und schweigen müssen. Der Berichterstatter erhebt nicht einmal den Anspruch, tatsächlich neue Verdachtsmomente oder Hinweise auf bislang unbekannte Verbrechen zu präsentieren. Im Kosovo soll das, was der Bericht offenbart und was in der westlichen Welt bislang nur zu geringfügigen Reaktionen geführt hat, ohnehin als ein offenes Geheimnis gelten, wie Martys Schlußsätzen zu entnehmen ist [22]:

Everyone in Kosovo is aware of what happened and of the current situation, but people do not talk about it, except in private; they have for years been waiting for the truth - the whole truth, rather than the official version - to be laid bare. Our sole aim today is to serve as spokespersons for those men and women from Kosovo, as well as those from Serbia and Albania, who, regardless of their ethnic or religious backgrounds, simply aspire to the truth and to an end to scandalous impunity, with no greater wish than to be able to live in peace. Truth and accountability are absolute necessities if there is to be genuine reconciliation and lasting stability in the region. In the course of our mission we met with persons of great valour - both local and international actors - who are fighting to overcome indifference and build a fairer society. They deserve not only our expressions of solidarity, but also our full and active support.

[Jeder im Kosovo ist sich der Geschehnisse und der aktuellen Lage bewußt, aber die Menschen sprechen nicht darüber, außer im Privaten. Sie warten seit Jahren darauf, daß die Wahrheit - die ganze Wahrheit und nicht die offizielle Version - auf den Tisch gelegt wird. Unsere alleinige Absicht ist es heute, jenen Männern und Frauen aus dem Kosovo sowie jenen aus Serbien und Albanien, die ungeachtet ihres ethnischen oder religiösen Hintergrunds mit keinem größeren Wunsch, als in Frieden leben zu können einfach nur nach der Wahrheit und nach einem Ende der skandalösen Straffreiheit verlangen, als Sprecher zu dienen. Wahrheit und Rechenschaft sind absolute Notwendigkeiten, wenn es wirkliche Versöhnung und anhaltende Stabilität in der Region geben soll. Im Verlauf unserer Mission sind wir sehr wertvollen Menschen begegnet - sowohl regionalen als auch internationalen Akteuren - die dafür kämpfen, die Gleichgültigkeit zu überwinden und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Sie verdienen nicht allein unsere Solidaritätsbekundungen, sondern auch unsere volle und aktive Unterstützung.] [Übersetzung der Schattenblick-Redaktion]

(Fortsetzung folgt)


Anmerkungen

[1] Inhuman treatment of people and illicit trafficking in human organs in Kosovo, Berichtsentwurf an den Rechtsausschuß der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, von Dick Marty, 12. Dezember 2010,
http://assembly.coe.int/ASP/APFeaturesManager/defaultArtSiteView.asp?ID=964

[22] Marty-Bericht siehe [1], hier: "6. Some concluding remarks", Punkt 176.

[23] Marty-Bericht siehe [1], hier: "3.2. KLA factionalism and the nexus with organised crime," Punkt 85.

[24] Marty-Bericht siehe [1], hier: "3.3.1.1.2 Case study on the nature of the facilities: Kukës", Punkte 119., 122., 125. und 126.

[25] Marty-Bericht siehe [1], hier: "Introductory remarks - an overview", Punkte 12. und 13.

5. Januar 2011