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PARTEIEN/240: Wahl in Großbritannien - Tories verfehlen Mehrheit (SB)


Wahlkampf in Großbritannien - Tories verfehlen Mehrheit

Camerons Allianz mit den Ulster Unionists erweist sich als Nullnummer


Nach der Auszählung der abgegebenen Stimmen in allen 650 Wahlkreisen im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland ergibt sich folgendes Ergebnis: Die Konservativen unter David Cameron haben ihren landesweiten Stimmenanteil um 3,8 auf 36,1 Prozent erhöhen und 307 Sitze - 2005 bekamen sie 198 - erobern können. Damit haben sie ihr erklärtes Ziel, die Erringung der absoluten Mehrheit im Unterhaus, verfehlt. Die regierende, sozialdemokratische Labour-Partei von Premierminister Gordon Brown ist um 6,2 Prozent auf 29 Prozent und damit auf den zweiten Platz zurückgefallen. Dafür hat sie immerhin 258 Wahlkreise - 2005 waren es 356 - gewonnen. Die Liberaldemokraten haben von dem im Wahlkampf entstandenen Rummel um ihren Vorsitzenden Nick Clegg nicht profitieren können. Zwar haben sie ihren Stimmenanteil um ein mageres Prozent auf 23 erhöhen können, dafür haben sie aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechtssystems nur 57 Sitze erhalten und sind deutlich hinter das Ergebnis von 2005 mit 72 zurückgefallen.

Wie die Demoskopen schon vor Wochen richtig prognostiziert hatten, sieht man sich in Großbritannien mit dem ungewöhnlichen Fall eines "hung parliament", das heißt eines Unterhauses, in dem keine Partei über eine absolute Mehrheit verfügt, konfrontiert. Vor dem Hintergrund der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise hat der Ausgang der britischen Unterhauswahl an den internationalen Märkten zu einem mittelschweren Einbruch des Kurses des Pfund Sterling gegenüber den anderen internationalen Währungen geführt. Niemand weiß zur Zeit, wer künftig in London die Regierung stellen und die von den Finanzmärkten erwarteten drastischen Haushaltskürzungen vornehmen soll. Angesichts der neuen, ungewöhnlichen politischen Konstellation war am Tag nach der Wahl in der Presse sogar von einer Verfassungskrise die Rede. Optimisten hoffen, daß jene Krise nur das Wochenende dauern wird und daß bis zum kommenden Montag, dem 10. Mai, die Führungen von den Tories, von Labour und den Lib Dems für halbwegs klare Verhältnisse gesorgt haben werden.

Die britische Parlamentstradition schreibt lediglich vor, daß der Parteichef, der nach der Wahl vom Monarchen, im aktuellen Fall Königin Elizabeth II., mit der Regierungsbildung beauftragt werden will, "das Vertrauen" des Unterhauses haben muß. Cameron steht da als Anführer sowohl der größten Fraktion während der nächsten Legislaturperiode als auch derjenigen Partei, welche die meisten Stimmen bei der Wahl auf sich hat vereinigen können, und hat bereits öffentlich seinen Anspruch auf den Posten des neuen Regierungschefs angemeldet. Brown dagegen hat die Niederlage von Labour nicht eingestanden, Number 10 Downing Street nicht geräumt und schielt darauf, in den nächsten Stunden einen Deal mit den Liberaldemokraten machen zu können, um an der Macht zu bleiben.

Allgemein wird Brown und der seit 1997 regierenden Labour - zehn Jahre davon unter Tony Blair - von den meisten Kommentatoren Respekt entgegengebracht, daß sie ihre landesweiten Stimmenverluste an die Tories auf 5,1 Prozent haben begrenzen und letztere am Erreichen der absoluten Mehrheit haben hindern können. Alle Augen richten sich derzeit auf den Lib-Dem-Chef Clegg, dem die Entscheidung über die künftige britische Regierung zukommt. Doch die Rolle des Königsmachers dürfte Clegg weit weniger gefallen, als er sich vor der Wahl vielleicht vorgestellt hatte. Weil die Liberaldemokraten hinter den großen Erwartungen zurückgeblieben sind, welche im Wahlkampf wegen der für sie exorbitant gestiegenen Umfragewerte nach der ersten von drei Fernsehdebatten zwischen Brown, Cameron und Clegg aufgekommen waren, und statt die Zahl ihrer Sitze auf fast 100 zu erhöhen, sogar rund 20 Prozent ihrer bisherigen verloren haben, gehen auch sie geschwächt aus dem Urnengang hervor.

Das weniger stark als erwartet ausgefallene Ergebnis der Liberaldemokraten bedeutet, daß eine Koalitionsregierung von ihnen mit Labour zusammen keine Mehrheit im Unterhaus hätte. Sie hätten zwar zusammen mehr Abgeordnete als die Konservativen auf ihrer Seite, müßten sich jedoch zusätzlich die Unterstützung der Scottish National Party (SNP), der walisischen Nationalisten Plaid Cymru und der irisch-nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP) sichern, was nicht unkompliziert werden dürfte. Nicht umsonst hat Clegg vor der Wahl erklärt, daß seiner Meinung nach der Partei mit den meisten Sitzen und dem höchsten Stimmenanteil bei der Wahl der Vortritt beim Versuch gelassen werden sollte, eine stabile Regierungsmehrheit zustandezubringen. Am Vormittag nach der Wahl hat Clegg diesen Standpunkt wiederholt.

Die Geste des liberaldemokratischen Hoffnungsträgers Richtung der Konservativen ist jedoch weniger großzügig, als sie im ersten Moment erscheint. Denn Cameron kann ohne die Unterstützung von Clegg und den Lib Dems - als Anführer entweder einer konservativen Minderheitsregierung oder einer Con-Lib-Dem-Koalition - nicht regieren. Wegen der zu erwartenden komplizierten Verhältnisse hatte Cameron bereits vor der Wahl eine Allianz mit den Ulster Unionisten unter Sir Reg Empey geschmiedet, die den Tories im Ernstfall die nötigen paar Stimmen zur Mehrheit verschaffen sollte. Doch die Rechnung ist nicht aufgegangen. Das Wahlbündnis Ulster Conservatives & Unionists - New Force (UCUNF) hat bei den Wahlen in Nordirland völlig versagt.

Bei der letzten Wahl zum britischen Unterhaus im Jahr 2005 war die Ulster Unionist Party (UUP) von den Democratic Unionists um Reverend Ian Paisley vernichtend geschlagen worden. Die DUP hatte von den 18 nordirischen Sitzen acht erobert, die UUP, einst die mächtigste Partei der Provinz, lediglich einen. Aus Empörung über den Kuhhandel mit den Tories ist vor wenigen Wochen die einzige UUP-Unterhausabgeordnete, Lady Silvia Hermon, aus der Partei ausgetreten und hat sich als unabhängige Kandidatin im Kreis North Down zur Wahl gestellt. Gestern hat sie ihren Sitz mit 66 Prozent der abgegebenen Stimmen grandios verteidigt. Die ehemaligen Parteikollegen von der UUP sind dagegen trotz oder gerade wegen des Schulterschlusses mit Cameron und den Tories sang- und klanglos untergegangen. Sie haben keinen einzigen Sitz gewinnen können. Sogar der Parteichef Empey, der sich bereits Hoffnungen auf einen Ministerposten in einer künftigen Tory-Regierung gemacht hatte, hat es nicht geschafft, im Wahlkreis South Antrim den amtierenden DUP-Abgeordneten William McCrea zu verdrängen. Und das trotz des Sex- und Korruptionsskandals, der am Wahltag den DUP-Chef Peter Robinson, derzeit Erster Minister Nordirlands, den spektakulären Verlust seines Sitzes in East Belfast an Naomi Long von der Alliance Party gekostet hat, den er seit 1979 innehatte.

Um in Downing Street Nr. 10 einziehen zu können, muß sich Cameron daher mit Clegg arrangieren. Vor der Wahl haben die Liberaldemokraten den Preis ihrer Unterstützung für die künftige Regierung ganz klar benannt. Sie verlangen, daß vor Ende der kommenden Legislaturperiode das bisherige britische Mehrheitswahlrecht zugunsten eines Systems geändert wird, bei dem die Parteien so viele Sitze, wie sie Prozentanteil der Stimmen erzielen, erhalten. Bisher lehnen die Tories die Abschaffung des Mehrheitswahlrechts kategorisch ab. Sie werden es sich jedoch anders überlegen müssen, denn Premierminister Brown, der bis zum bitteren Ende kämpfen will und seine Nehmerqualitäten im Wahlkampf mehr als bewiesen hat, hat sich für den Fall einer Koalition seiner Sozialdemokraten mit den Lib Dems bereits zur Erfüllung von Cleggs wichtigster Forderung bereiterklärt.

7. Mai 2010