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PARTEIEN/336: Führungskampf bei britischen Tories verschärft sich (SB)


Führungskampf bei britischen Tories verschärft sich

Boris Johnson bringt sich als Nachfolger Theresa Mays ins Gespräch


Langsam, aber sicher schwinden die Hoffnungen auf eine harmonische Trennung Großbritanniens von der EU. Bis zum 30. März 2019, dem Tag, an dem laut Artikel 50 des Lissaboner Vertrags der Austritt formell erfolgt, sind es nur noch eineinhalb Jahre. Die konservative britische Regierung Theresa Mays hat seit den vorgezogenen Parlamentswahlen am 8. Juni keine Mehrheit mehr, sondern wird nur durch die zehn Unterhausabgeordneten der protestantisch-probritischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland an der Macht gehalten. Zwischen Brüssel und London lassen sich Regelungen der unzähligen und komplizierten Sachfragen deshalb schwer finden, weil hinter den Kulissen an der Themse ein erbarmungsloser Machtkampf stattfindet, der die regierenden Tories zu zerreißen droht.

Am 16. September veröffentlichte Außenminister Boris Johnson im erzreaktionären Daily Telegraph, der Hauspostille der britischen Generalität, einen langen und ausführlichen Artikel, mit dem er die bisherigen Bemühungen der eigenen Kabinettskollegen May, Schatzmeister Philip Hammond und Brexit-Minister David Davis um eine gütliche Einigung mit der EU-Verhandlungsdelegation um den französischen Spitzendiplomaten Michel Barnier unterminierte. Hatten Hammond und Davis in den letzten Wochen signalisiert, daß London prinzipiell bereit wäre, die britischen Finanzverpflichtungen gegenüber dem EU-Haushalt mit einer einmaligen Zahlung von rund 50 Millionen Euro zu begleichen, so wischte Johnson die Idee vom Tisch und erklärte die Finanzforderungen aus Brüssels für unzulässig und inakzeptabel.

In einem Anfall von maßloser Überschätzung behauptete Johnson, Großbritannien sei "nach Amerika die zweitwichtigste Macht auf Erden" und werde nach dem radikalen Schnitt mit der EU zur alten Größe zurückfinden. Er plädierte erneut für den harten Brexit - Austritt nicht nur aus EU, sondern auch aus Binnenmarkt und Zollunion - und meinte, als Übergangsphase reichten, von April 2019 an gerechnet, sechs Monaten bis zu einem Jahr. Aus Angst vor einer wirtschaftlichen Katastrophe auf der Insel treten führende Vertreter aller britischen Industriesektoren sowie ausländische Investoren - etwa die Chefs der großen japanischen Autohersteller - seit Monaten öffentlich für einen sanften Brexit, das heißt so wenig Veränderung wie möglich, ein. Diese Linie vertreten im britischen Unterhaus inzwischen alle Oppositionsparteien: Labour, die Liberaldemokraten, die Scottish National Party (SNP) und die walisisch-nationale Plaid Cymru.

Bei den Tories sieht es jedoch anders aus. Wenngleich die Zahl der Remainers, der Befürworter eines Verbleibs in der EU, auf den konservativen Hinterbänken nicht gerade klein ist, sind die überzeugten Brexiteers nach wir vor die dominierende Kraft. Dies zeigten die Reaktionen auf den Telegraph-Artikel Johnsons. In den ersten Stunden herrschte mediales Unverständnis ob der jüngsten Eskapade des konservativen Klassenclowns. Beim Auftritt im BBC-Fernsehen am 17. September kritisierte Innenministerin Amber Rudd, die sich zunehmend als vernünftigste und mäßigendeste Stimme bei den Tories empfiehlt, Johnson wegen Besserwisserei und warf ihm damit durch die Blume Illoyalität gegenüber May vor, die am 22. September bei einem Besuch im italienischen Florenz eine Grundsatzrede zum Stand der britisch-europäischen Beziehungen halten soll. Johnson wurde zudem von Sir David Norgrove, dem Leiter des britischen Central Statistics Office (CSO), des krassen Mißbrauchs von Statistiken bezichtigt, weil er im Telegraph-Artikel seine längst widerlegte Behauptung aus dem Brexit-Referendum, Großbritannien hätte nach dem EU-Austritt wegen des Verzichts auf Zahlungen an Brüssel wöchentlich 350 Millionen Pfund mehr zur Verfügung, die man zum Beispiel in das marode staatliche Gesundheitssystem National Health Service (NHS) investieren könnte, wiederholt hatte.

Wer dachte, Johnson hätte sich mit seiner versteckten Kampfansage in Richtung May verkalkuliert, den falschen Zeitpunkt gewählt oder mit den ungeeignetsten Argumenten seinen Führungsanspruch angemeldet, der sieht sich durch die Entwicklung der letzten Stunden eines Besseren belehrt. Alle führenden Brexit-Fundamentalisten, die Ritter des Heiligen Grals namens "Empire 2.0", reihen sich rhetorisch hinter dem ehemaligen Bürgermeister von London ein. Umweltminister Michael Gove, einst Johnsons ärgster Konkurrent bei der letzten Wahl des konservativen Parteivorsitzenden nach dem Rücktritt David Camerons vor etwas mehr als einem Jahr, versicherte dem Außenminister per Twitter seine Unterstützung. Der Neo-Thatcherite John Redwood erklärte, Johnsons Behauptung mit den 350 Millionen Pfund die Woche sei mathematisch richtig gerechnet.

Und selbst der Möchtegern-Adelige Jacob Rees-Mogg, der gerade in den letzten Wochen in Tory-Kreisen als potentieller May-Nachfolger gehandelt wurde, war bemüht, Johnson - wie er selbst ein Zögling des Elite-Internats Eton - den Vortritt zu lassen und gleichzeitig einen Seitenhieb in Richtung May auszuteilen. Im heutigen Guardian wird der sozialkonservative Katholik Rees-Mogg mit den Worten zitiert: "Boris hat recht, wenn er die positiven Gelegenheiten betont, die sich aus dem Brexit ergeben. In der Regierung kann es nicht darum gehen, den 'Niedergang zu verwalten', sondern eine noch wohlhabendere Zukunft zu sichern, was wir, befreit vom Joch der Europäischen Union, auch schaffen können."

Wie das "freie" Großbritannien nach dem Brexit auf der internationalen Bühne zu agieren beabsichtigt, wurde auf der Defense and Security Equipment International (DSEI), der größten Rüstungsmesse der Welt, die in den vergangenen Tagen in London stattfand, deutlich. Dort kündigte Handelsminister Liam Fox eine "weltumspannende" Verkaufsoffensive der britischen Waffenfabrikanten an. Mit einer Höhe von 5,9 Milliarden Pfund im Jahr 2016 seien die britischen Rüstungsexporte "regelrecht explodiert", schwärmte er. In der May-Regierung gilt Fox als erbittertester Gegner eines Verbleibs Großbritanniens in der europäischen Zollunion, weil ihn dies als Minister beim Einfädeln neuer Handelsabkommen mit anderen Staaten einschränken würde. Zu den Technologien, mit denen die britische Waffenlobby demnächst hausieren gehen könnte, gehören Drohnen und Gesichtserkennungsgeräte. Nicht umsonst hat das Legatum Institute, das die konservative Regierung in London berät, in einer Anfang September veröffentlichten Studie für eine entsprechende "High-Tech-Lösung" beim drohenden Problem, das sich durch die neue Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ergeben könnte, plädiert.

18. September 2017


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