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PARTEIEN/343: Regierung Theresa Mays im Strudel gefangen (SB)


Regierung Theresa Mays im Strudel gefangen

Gleich zwei Minister in einer Woche müssen Mays Kabinett verlassen


In Großbritannien setzt sich das Martyrium der glücklosen Theresa May fort. Vergeblich versucht die konservative Premierministerin seit dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit im Juni - bei vorgezogenen Neuwahlen, die sie selbst in der illusorischen Hoffnung auf ein Vertrauensvotum des Volkes angesetzt hatte - den Abwärtstrend in sein Gegenteil zu verkehren. Was immer sie unternimmt, nichts will gelingen. Ungeduldig warten die anderen 27 EU-Mitgliedsstaaten auf konkrete Vorschläge Londons zur Gestaltung des Austritts des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union, des sogenannten Brexits, während die britische Industrie regelrecht nach Übergangsfristen und dem Verbleib im Binnenmarkt und in der Zollunion schreit. Im May-Kabinett herrscht Chaos, weil EU-Freunde und -Gegner in der Frage der künftigen Beziehungen zum europäischen Festland heillos zerstritten sind. Das Bild der Uneinigkeit und des Zwists vor dem Hintergrund der schwindenden Autorität Mays wird durch Inkompetenz und Eigenmächtigkeiten seitens einzelner Kabinettsmitglieder verstärkt. Innerhalb weniger Tage mußten gleich zwei Minister den Hut nehmen.

Am 31. Oktober ist Verteidigungsminister Michael Fallon aufgrund einer ganzen Reihe von Vorwürfen, er habe in der Vergangenheit wiederholt Mitarbeiterinnen, Abgeordnetenkolleginnen und Journalistinnen sexuell belästigt, zurückgetreten. Der Verlust Fallons war für May deshalb ein herber Schlag, weil der 65jährige Politiker, der seit 1997 im Unterhaus sitzt, als eines der erfahrensten und verläßlichsten Kabinettsmitglieder galt, das im Dauerstreit zwischen Brexiteers und Remainers immer wieder zu schlichten wußte. Viele Tory-Hinterbänkler hofften, May würde den Rücktritt Fallons als Gelegenheit zu einer umfassenden Kabinettsumbildung nutzen und dabei Boris Johnson, der seit der Ernennung zum Außenminister im Sommer 2016 durch undiplomatisches Verhalten seine Nicht-Eignung als Leiter des Foreign and Commonwealth Office (FCO) wiederholt bewiesen hat, in die Wüste zu schicken. Doch May hat diesen Schritt nicht gewagt, vermutlich aus Angst vor der wütenden Reaktion der chauvinistischen britischen Boulevardpresse aus The Sun, The Daily Mail und The Daily Express, welche die Art, wie Johnson am laufenden Band andere Nationen und Kulturen beleidigt und mißachtet, als Ausdruck wiedergewonnenen britischen Selbstbewußtseins auf der Weltbühne bejubelt.

Statt dessen hat die Regierungschefin den bisherigen parlamentarischen Geschäftsführer der Tories, Gavin Williamson, zum neuen Verteidigungsminister Ihrer Majestät König Elizabeth II. ernannt. In der konservativen Fraktion hat die Personalie Enttäuschung und Unmut ausgelöst. Der 41jährige Williamson gilt als Machiavellist, der zur Beförderung seiner politischen Karriere über Leichen geht und deshalb wenige Verbündete hat. Es steht sogar der Verdacht im Raum, er habe die Geschichten über das ungebührliche Verhalten Fallons in der Vergangenheit ausgegraben und in Umlauf gebracht, um dessen Ministerposten selbst übernehmen zu können. Jedenfalls wurde allgemein die alleinige Beförderung eines Vertrauensmanns der Premierministerin in die Exekutive anstelle einer von vielen Abgeordneten der Partei erwünschten Kabinettsumbildung als Zeichen der Schwäche seitens Number 10 Downing Street gedeutet.

Am 3. November brach für May der nächste Skandal los, als die BBC enthüllte, daß die Ministerin für internationale Entwicklungshilfe, Priti Patel, während ihres zweiwöchigen Sommerurlaubs im August in Israel ohne Wissen des Außenministeriums und des britischen Botschafters in Tel Aviv sowie ohne Begleitung durch eigene Beamte eine Reihe von Ministern der Regierung Benjamin Netanjahu einschließlich des Regierungschefs selbst getroffen hat. Patel, die indischer Herkunft ist, gehört im britischen Parlament der Gruppe Conservative Friends of Israel an. Bei ihren insgesamt zwölf Treffen mit Netanjahu und Kollegen wurde sie von Stuart Polak begleitet, der im britischen Oberhaus sitzt und schon länger Vorsitzender der einflußreichen Lobbyorganisation ist.

In einer ersten Stellungnahme gegenüber der liberalen Tageszeitung Guardian wies Patel den Vorwurf des Fehlverhaltens von sich und behauptete, das Außenministerium sei über ihre Gespräche in Israel vorab informiert gewesen. In den Tagen darauf rückte sie von dieser Position ab und sprach von einer nachträglichen Inkenntnissetzung des FCO. Nach einem Treffen mit May unter vier Augen am 6. November erfolgte lediglich eine Rüge. Die Affäre schien überstanden. Doch statt dessen tauchten Berichte von weiteren, bisher nicht bekannten Treffen Patels mit israelischen Regierungsmitgliedern im September - einmal in London und einmal am Rande der UN-Generalversammlung in New York - auf. Zudem kam heraus, daß Patel während ihrer Gespräche in Israel angeregt hatte, die medizinische Hilfe, welche die israelischen Streitkräfte auf dem von ihnen besetzten Teil der Golanhöhen verletzten Opfern des Syrienkrieges gewähren - in einigen Fällen soll es sich dabei um Rebellen bzw. "Terroristen" handeln -, aus Geldern der britischen Entwicklungshilfe mitzufinanzieren. Die Ministerin, die inzwischen zu einer Arbeitsreise nach Äthiopien und Uganda aufgebrochen war, wurde umgehend an die Themse zurückbeordert und am 8. November nach einer sechsminütigen Unterredung mit May gefeuert.

Die Entlassung Patels verstärkt die Unruhe in der konservativen Partei. Die Ex-Ministerin, die zu den führenden Brexiteers gehört, stilisiert sich bereits zum Opfer einer Intrige seitens des Außenministeriums und der Downing Street. Möglicherweise ist etwas dran. Am 9. November berichtete die in London erscheinende Jewish Chronicle in ihrer Onlineversion, May habe von Patels Treffen in New York mit Yuval Rotem vom israelischen Außenministerium gewußt und den Plan, "Entwicklungshilfe" an die israelischen Streitkräfte zu zahlen, im Prinzip gutgeheißen, nur sollte dies alles nicht publik werden. Von den Hinterbänken aus wird Patel nun aller Wahrscheinlichkeit nach kräftig an Mays Stuhl sägen und sich als potentielle Nachfolgerin in Stellung bringen.

Bei einem solchen Vorhaben dürfte die fotogene 45jährige Abgeordnete des Wahlbezirks Witham in Essex vom jüngsten Fettnäpfchentritt Johnsons profitieren, der einst als Hoffnungsträger der Tories galt, bis sein Stern vor einiger Zeit zu sinken begann. Johnson hat sich in den Fall von Nazanin Zaghari-Ratcliffe, einer gebürtigen Iranerin, die mit einem Briten verheiratet ist und deshalb auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt, eingemischt und zwar auf eine sehr ungeschickte Art und Weise. 2016 war die Reuters-Mitarbeiterin in den Iran gereist, nach eigenen Angaben um den Verwandten ihre 22monatige Tochter zu zeigen. Da sie früher für die BBC, welche Teheran als Feindsender betrachtet, gearbeitet hat, wurde Zaghari-Ratcliffe verhaftet und im September 2016 wegen Komplotts zum Sturz der Islamischen Republik zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 1. November hat Johnson von einer Ausbildungstätigkeit Zaghari-Ratcliffes für Journalisten im Iran gesprochen, damit die Verdächtigungen Teherans bestätigt sowie die Chancen, daß die inhaftierte Frau zu einer noch längeren Freiheitsstrafe verurteilt wird, erhöht. Als die Familie Ratcliffe die Angaben Johnsons als völlig falsche Darstellung des Reisemotivs der Schwiegertochter bezeichnete, lehnte es der Außenminister ab, sich für seinen Lapsus zu entschuldigen, und erging sich statt dessen in nebulösen Formulierungen. Inzwischen berichten verschiedene britische Medien, tonangebende Abgeordnete der konservativen Partei hätten May bis Weihnachten Zeit gegeben, das Chaos im Kabinett zu beenden und den Kurs in der EU-Politik endlich festzulegen. Doch so, wie sich die Dinge aktuell entwickeln, ist es fraglich, ob May es überhaupt als Premierministerin bis Weihnachten schafft.

9. November 2017


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