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PARTEIEN/344: Frage um Irlands Grenzen bestimmt den Brexit-Streit (SB)


Frage um Irlands Grenzen bestimmt den Brexit-Streit

Sinn Féin spielt im Dauerringen mit der DUP auf Zeit


Ergebnislos ist am 10. November die jüngste Runde der Verhandlungen zwischen Brüssel und London um den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union zu Ende gegangen. Alle nebulösen Worte der beiden Verhandlungsführer Michel Barnier und David Davis um irgendwelche, für Außenstehende nicht zu erkennenden Mikrofortschritte konnten den Tatbestand einer festgefahrenen Situation nicht verheimlichen. Dafür hat der Franzose Barnier der konservativen britischen Regierung um Theresa May ein klares Ultimatum gestellt: Ohne Zugeständnisse innerhalb der nächsten 14 Tage in bezug auf die Summe, die Großbritannien zur Begleichung seiner finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem EU-Haushalt bezahlen soll - London spricht von höchstens 20 Milliarden Euro, Brüssels verlangt mindestens 60 Milliarden -, kann im Dezember nicht mit den anvisierten Verhandlungen über die Gestaltung der künftigen Handelsbeziehungen begonnen werden.

Das ist für May ein Riesenproblem, weil sie, ohne die Folgen gründlich zu überlegen, Ende März Artikel 50 des Lissaboner Vertrages aktiviert hatte, demzufolge der EU-Austritt innerhalb von 24 Monaten in Kraft tritt. Die Zeit für eine Neuregelung der unzähligen technischen Details, etwa des Personen- und Warenverkehrs, ist eng und wird mit jedem Tag enger. Deshalb drängen alle Sektoren der britischen Wirtschaft, unabhängig ob Agrarindustrie, Finanzdienstleistung, Tourismus oder verarbeitendes Gewerbe, auf Übergangsfristen von mehreren Jahren und plädieren für den unbedingten Verbleib des UK in Binnenmarkt und Zollunion. Diese Lösung stellt den "sanften" Brexit dar. Demgegenüber steht der "harte" Brexit, den die tonangebenden Euroskeptiker bei den regierenden Tories anstreben. Er beinhaltet die völlige Lossagung von der EU und künftige Handelsbeziehungen nach den Regeln der WTO. Daß ein solches Szenario für die einfachen Menschen in Großbritannien eine Katastrophe wäre, geht aus folgender Gleichung klar hervor. Derzeit betreibt das Vereinigte Königreich allein mit den Niederlanden mehr Handel als mit der Volksrepublik China, Indien und Australien, deren Namen immer wieder fallen, wann immer die Brexiteers ihre Vision vom "Global Britain" hinausposaunen, zusammen.

Auch wenn sich die beiden von Davis und Barnier angeführten Verhandlungsdelegationen in der Frage der künftigen Rechte britischer Bürger auf dem europäischen Festland und umgekehrt EU-Bürger im Vereinigten Königreich nähergekommen sein sollen, stellt sich allmählich das Problem der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland noch vor dem der restlichen Finanzverpflichtungen Londons gegenüber Brüssel als das schwierigste Problem beim Brexit überhaupt heraus. Weil das Karfreitagsabkommen von 1998, das den 30jährigen Bürgerkrieg in Nordirland beendete, die friedliche Wiedervereinigung Irlands ausdrücklich in Aussicht stellt, sobald eine Mehrheit im Norden dies wünscht, beharrt die Regierung in Dublin darauf, daß der Brexit diesem erklärten Staatsziel der Republik kein Hindernis in den Weg legen darf.

Auf Drängen der irischen Diplomatie haben sich Brüssel und London gemeinsam zum Ziel der Nicht-Installierung einer "physischen Infrastruktur" an der etwa 400 Kilometer langen Grenze mit Personen- und Warenkontrollen bekannt. Bis heute ist jedoch London eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, wie dieses Ziel verwirklicht werden kann, wenn das Vereinigte Königreich doch noch Binnenmarkt und Zollunion verläßt. Davis und seine Ministerialbeamten reden stets von "kreativen Lösungen" unter Einsatz von Digitaltechnologie, haben jedoch bis heute keinen einzigen brauchbaren Vorschlag auf den Tisch gelegt. Deshalb haben sich die EU-27 auf eine Position geeinigt, welche in ihrer Deutlichkeit die britische Verhandlungsdelegation am 9. November überrascht haben soll. Die Formulierungen zur Irland-Problematik, die am frühen Morgen des 10. November an die Presse durchsickerten, sehen die Beibehaltung aller europäischen Gesetze in Nordirland nach dem Brexit vor, um die Notwendigkeit einer festen Grenze zu vermeiden.

Der Vorstoß, sollte ihm entsprochen werden, liefe auf die Verlegung der Grenzkontrollen auf die Flug- und Seehäfen der Insel und die Verwandlung Nordirlands in eine Sonderwirtschaftzone hinaus und brächte die Insel der Wiedervereinigung einen großen Schritt näher. Deswegen hat Davis auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Barnier am selben Mittag das Irland-Papier der EU verworfen. Nichts dürfe die Jahrhunderte alte Union zwischen Nordirland und Großbritannien schwächen, erklärte er. Käme es zum harten Brexit, verließen die sechs nordöstlichen Graftschaften Irlands ebenso wie England, Schottland und Wales den EU-Binnenmarkt und die europäische Zollunion, so Davis. Lob für seine klaren Worte erntete dieser von Vertretern der pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP), die zwar die stärkste politische Gruppierung in Nordirland ist, jedoch mit ihrer Befürwortung von Brexit eine gesellschaftliche Minderheitenposition vertritt.

Wie soll nun dieser Widerspruch, dieser Interessenskonflikt aufgelöst werden? Optimisten gehen davon aus, daß die Minderheitsregierung der Tories, die lediglich durch die zehn DUP-Abgeordnetenstimmen im britischen Unterhaus an der Macht gehalten wird, am Dauerstreit zugrunde gehen wird und daß sich dann eine sich abzeichnende bzw. bereits existierende, überparteiliche Mehrheit im Sinne des "sanften" Brexits gegen die Europhobenfraktion bei den Konservativen durchsetzt. Es sind zum Beispiel so viele Änderungsanträge für die zweite Lesung des Gesetzentwurfs über den EU-Austritt angemeldet, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit die May-Regierung demnächst eine oder mehrere Abstimmungen verlieren wird, dadurch Neuwahlen erforderlich und die Karten ganz neu gemischt werden. Aktuellen Umfragen zufolge käme in einem solchen Fall eine Mehrparteienkoalition, angeführt von den linken Sozialdemokraten, an die Macht. Seit Wochen führt deshalb der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour Party mit den EU-Vertretern im Stillen Sondierungsgespräche über künftige bilaterale Beziehungen, die nicht durch Xenophobie und gegenseitige Vorwürfe belastet sind.

Angesichts der überragenden Bedeutung der Frage der irischen Grenze stellt sich die Frage, warum Sinn Féin, die größte nationalistische Partei Nordirlands, immer noch die Verhandlungen über eine Neuauflage ihrer Koalition mit der DUP in die Länge zieht und damit Belfast um seine Stimme in der laufenden Brexit-Diskussion bringt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Prinzipiell nehmen Sinn Féin und die DUP in bezug auf Brexit diametral entgegengesetzte Positionen ein - erstere gegen den EU-Austritt, letztere dafür. Sie wären also gar nicht in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen. Sinn Féin muß sich dennoch seit Monaten den Vorwurf gefallen lassen, seinen politischen Gestaltungsspielraum zu vernachlässigen und dem Erfolg der DUP, im Sommer von der May-Regierung 1,3 Milliarden Euro für Investitionen in Nordirland als Preis für ihre Unterstützung im Unterhaus ausgehandelt zu haben, nichts entgegenzusetzen.

Die Sinn-Féin-Führung um Gerry Adams und Michelle O'Neill scheint jedoch auf Zeit zu spielen, denn ein Scheitern der Regierung Mays und ein Platzen der Träume der harten Brexiteers wird immer wahrscheinlicher. Allein in der letzten Woche hat May gleich zwei Kabinettskollegen entlassen müssen: den Verteidigungsminister Michael Fallon wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und die Entwicklungshilfeministerin Priti Patel wegen der Führung von Geheimgesprächen mit Vertretern der Regierung Israels. Darüber hinaus wird die Affäre um eine Initiative um erneuerbare Energien, weswegen Sinn Féin im vergangenen Januar die nordirische Koalitionsregierung aufgekündigt hatte, wieder aktuell und zu einem brennenden Problem für die DUP.

Deren Chefin Arlene Foster hatte 2012, damals noch als nordirische Handels- und Industrieministerin, die Renewable Heat Initiative (RHI) auf den Weg gebracht. Nun stellt sich heraus, daß Foster noch 2015 gegen eine Korrektur des Programms zur Subventionierung des Einbaus von Holzöfen in Industriebetrieben interveniert hat, obwohl wegen fallender Energiepreise inzwischen längst klar war, daß die Initiative zur Gelddruckmaschine für die beteiligten Firmen und zu einer gigantischen Belastung für den staatlichen Haushalt geworden war. Nach Angaben des zuständigen Untersuchungsausschusses, der seit wenigen Tagen in Belfast öffentliche Anhörungen abhält, tat dies Foster aus Rücksicht auf die Interessen von Großspendern der DUP in Nordirland im allgemeinen, in ihrem eigenen Wahlbezirk im ländlichen Fermanagh and South Tyrone im besonderen.

10. November 2017


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