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PARTEIEN/360: Brexit - May zwischen Pest und Cholera ... (SB)


Brexit - May zwischen Pest und Cholera ...


Der pure Wille zum Machterhalt ist es, was die konservative Minderheitsregierung in London bislang davor bewahrt hat, aufgrund der diametral entgegengesetzten Positionen im Kabinett und in der Unterhausfraktion bezüglich des Brexits, des Austritts aus der Europäischen Union (EU), auseinanderzufliegen. Zudem speist sich die Nibelungentreue, mit der die zehn Abgeordneten der pro-britischen, protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland die Tories an der Macht halten, fast ausschließlich aus deren Angst vor Neuwahlen, aus denen die sozialdemokratische Labour Party unter der Führung von Jeremy Corbyn als Sieger hervorgehen könnte, der bekanntlich ein Befürworter der Wiedervereinigung Irlands ist. Der Drahtseilakt, den Premierministerin Theresa May, seit sie im Sommer 2016 anstelle des über die Brexit-Abstimmung gestolperten David Cameron in Number 10 Downing Street eingezogen ist, vor allem aber seit dem Verlust ihrer parlamentarischen Mehrheit bei vorgezogenen Wahlen vor einem Jahr, vollzieht, nötigt jedem Beobachter Respekt ab, wenngleich klar sein dürfte, daß der Absturz unvermeidlich ist und früher oder später kommen muß.

Enorm muß der Druck gewesen sein, mit dem May ihren Parteikollegen Dominic Grieve dazu gebracht hat, am 20. Juni nicht nur gegen seinen eigenen Zusatz zum EU Withdrawal Bill, mit dem der Kronanwalt und ehemalige Justizminister dem Unterhaus das letzte Wort in Sachen Brexit sichern wollte, zu votieren, sondern sich bei der Unterhausdebatte sogar öffentlich in diesem Sinne auszusprechen. Der überraschende Seitenwechsel Grieves hat die May-Regierung in letzter Minute vor einer peinlicher Niederlage bewahrt, die eine Vertrauensabstimmung und eventuell Neuwahlen erforderlich gemacht hätte. Am Ende hat auch noch Grieve das Wohl der Tories dem des Landes vorgezogen und kampflos das Feld geräumt, weswegen die Brexit-Gegner im Parlament ihn nun als "Grand Old Duke of York" verspotten, der in dem berühmten Kinderlied seine Armee den Hügel hinauf und gleich wieder hinuntermarschieren läßt, ohne Kontakt mit dem Feind aufzunehmen.

Das Einknicken Grieves hat es May ermöglicht, das EU-Austrittsgesetz, wenngleich mit einigen kleinen Änderungen der Opposition vor allem im Oberhaus versehen, doch noch vor der Sommerpause durch das Parlament zu bringen. Damit steht dem EU-Austritt, der am 29. März 2019 erfolgen soll, formell nichts mehr im Weg. Dafür warten jedoch alle - die britische Öffentlichkeit, die Regierung Irlands, die EU-Unterhändler in Brüssel und viele andere mehr - bis heute vergeblich auf einen vernünftigen Vorschlag, wie der Brexit am Ende aussehen soll. Die harten Brexiteers bei den Tories - allen voran Außenminister Boris Johnson, Handelsminister Liam Fox und der sich aristokratisch gebende Liebling der Hinterbänkler, Jacob Rees-Mogg, pochen auf Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt, damit Großbritannien künftig allein die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte regelt, nicht mehr dem Europäischen Gerichtshof unterworfen ist und Handel mit der EU nach den WTO-Regeln gestalten kann.

Gegen den "harten Brexit" regt sich bei der britischen Wirtschaft, nicht zuletzt unter den ausländischen Investoren im Vereinigten Königreich, allmählich Widerstand. In den letzten Tagen haben sich führende Vertreter von Airbus, Siemens, BMW und den japanischen Autokonzernen Toyota, Honda und Nissan zu Wort gemeldet. Sie drängen auf den Verbleib Großbritanniens zumindest in der Zollunion, weil alles andere für sie die Produktionsbedingungen auf der Insel erschweren und eventuell unrentabel machen würde. Die ausländischen Wirtschaftskapitäne schrecken auch nicht davor zurück, mit Arbeitsplatzabbau, Investitionsrückgang und Standortverlagerung zu drohen. Die wirtschaftlichen Risiken des Kurses der harten Brexiteers werden damit für jedermann sichtbar. Allein Airbus beschäftigt 14.000 Menschen an 25 Standorten in Großbritannien; bei seinen britischen Zulieferbetrieben arbeiten 100.000 Menschen.

In der britischen Autoindustrie, die sich zu weiten Teilen in deutscher bzw. japanischer Hand befindet, arbeiten 865.000 Menschen. Mehr als die Hälfte der rund zwei Millionen jährlich in Großbritannien hergestellten Autos wird in die anderen 27 EU-Staaten exportiert. Jede Verzögerung im Grenzverkehr - allen voran beim Nadelöhr am Ärmelkanal zwischen Dover und Calais - hätte negative Auswirkungen auf die Produktion in den Fabriken, die bekanntlich nach dem "just in time"-Prinzip organisiert ist. BMW zum Beispiel verarbeitet jeden Tag in seinen britischen Werken fünf Millionen Komponenten; täglich werden diese Fabriken mit 250 Lastwagen vom europäischen Festland aus mit Teilen beliefert. Dieselben Lastwagen nehmen andere Komponenten oder Fertigteile bei der Rückreise mit.

Schon jetzt warnen Experten vor einem Verkehrskollaps in der Region um Dover, sollten sich die Brexiteers mit ihren irrwitzigen Plänen einer totalen Abkehr Großbritanniens von seinem wichtigsten Markt durchsetzen. Unmittelbar vor der Einführung des EU-Binnenmarktes 1993 fertigten 300 Zollbeamte in Dover jährlich zwei bis zweieinhalb Millionen Lastwagen ab. Heute passieren dort im Jahr 25 Millionen Lastwagen die interne EU-Grenze, weitgehend unbemerkt von nur 24 Zollbeamten, die sich lediglich mit Ausnahmefällen beschäftigen. Allein diese Zahlen lassen erkennen, wie schwierig bis unmöglich eine großformatige Umstellung wäre. Die Menschen in Kent befürchten inzwischen, daß demnächst die ganze Grafschaft in einen gigantischen Brummi-Parkplatz verwandelt wird. Als vor wenigen Tagen aus der Airbus-Zentrale die ersten Kassandrarufe erklangen, soll Außenminister Johnson, bekanntlich der Klassenclown bei den Tories, "Fuck business" ("Scheiß auf die Wirtschaft") geflucht haben. Theresa May kann die Bedenken der großen Arbeitgeber in Großbritannien nicht so leicht abtun. Sie muß allmählich auf die EU zugehen und einen vernünftigen Ausweg aus der vertrackten Lage finden, selbst wenn dies ihre konservative Partei und ihr Kabinett zerreißt.

26. Juni 2018


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