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PARTEIEN/374: Brexit - der Irland-Konflikt lebt auf ... (SB)


Brexit - der Irland-Konflikt lebt auf ...


Die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (EU) stecken nach Angaben beider Seiten vollends in der Sackgasse - und das drei Wochen vor dem Austrittsdatum am 29. März. Es droht ein ungeordneter Austritt, der extrem negative wirtschaftliche Folgen auf beiden Seiten des Ärmelkanals hätte und der nur den Katastrophen-Kapitalisten und ihren politischen Wasserträgern, den harten Brexiteers bei den regierenden Konservativen um Premierministerin Theresa May, nützte. Auf dem diesjährigen Autosalon in Genf haben vor wenigen Tagen die Chefs der deutschen, französischen und japanischen Fahrzeugunternehmen, die in Großbritannien zusammen für rund 850.000 Arbeitsplätze sorgen, dringend vor dem sogenannten No-Deal-Brexit und dessen potentiellen Auswirkungen gewarnt.

Mit Blick auf das eventuelle Eintreten des schlimmstmöglichen Szenarios in Sachen Brexit fangen die Briten jetzt schon mit den Schuldzuweisungen an. In einem Interview am heutigen Vormittag mit BBC Radio 4 warnte Außenminister Jeremy Hunt vor "vergifteten" Beziehungen Großbritanniens zur Rest-EU "für viele Jahre", sollte Brüssel nicht endlich mehr "Flexibilität" bei den Verhandlungen zeigen. Größte Schwierigkeit hierbei ist der sogenannte "Backstop", den May im vergangenen Dezember als Teil des Withdrawal Agreements mit Brüssel vereinbart hatte. Beim Backstop handelt es sich um die Aufrechterhaltung einer ordnungspolitischen Einheit zwischen der Republik Irland und Nordirland, damit auch nach dem Brexit keine Grenze auf der grünen Insel entsteht. Die Vermeidung einer "harten" inneririschen Grenze gilt als Voraussetzung dafür, daß der Nordirlandkonflikt, der 1998 mit dem Karfreitagsabkommen beigelegt wurde, nicht wieder aufflammt.

Leider gibt es jedoch reaktionäre Kräfte im Vereinigten Königreich, die damals im Karfreitagsabkommen eine Kapitulation Tony Blairs gegenüber den "Terroristen" von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) sahen und den Vertrag deshalb bis heute nicht richtig akzeptiert haben. Das sind dieselben Kräfte, die bei den britischen Konservativen und den protestantischen Unionisten in Nordirland den Brexit von Anfang an bis heute vorangetrieben haben in der Hoffnung, das alte Empire in Form eines "Global Britain" wieder auferstehen zu lassen. Die Rede ist von den rund 130 Tory-Abgeordneten der European Research Group (ERG) um Jacob Rees-Mogg und Ex-Außenminister Boris Johnson sowie von der Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Abgeordneten seit Juni 2017 Mays Minderheitsregierung an der Macht halten. Nachweislich haben die Austrittsbefürworter bei der Volksbefragung 2016 die britischen Wahlgesetze, was Menge und Herkunft von Wahlkampfspenden betrifft, mit den Füßen getreten - ohne jedoch juristisch zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Bis heute weiß auch niemand, woher die 435.000 Pfund, mit denen die DUP in London wenige Tage vor dem Referendum gegen die EU die mit Abstand teuerste Anzeigenkampagne der nordirischen Geschichte finanziert hat, kamen. Man vermutet, daß das Geld von irgendwelchen Scheichs am Persischen Golf stammte, die geschäftliche Verbindungen zum rechtslibertären Freundeskreis Donald Trumps pflegen.

Die ERG und die DUP haben im Januar zusammen mit der restlichen Opposition im Unterhaus für die katastrophale Niederlage gesorgt, die May bei der Abstimmung über ihren Deal mit der EU erlitten hat. Seitdem versucht die Premierministerin Brüssel dazu zu bringen, die Irische Republik in Stich zu lassen und den Backstop abzuschwächen, damit sie das Withdrawal Agreement doch noch durch das Parlament bekommt. In Brüssel nimmt man die britische Premierministerin jedoch nicht mehr ernst. Wollte sie sich ernsthaft mit Brüssel gütlich einigen, hätte sie sich längst mit der EU auf einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in Zollunion und Binnenmarkt verständigen können. Für eine solche Option gibt es eine Mehrheit im Unterhaus. Das wissen auch alle. Doch statt die Tories zu spalten, versucht May die Europhoben bei der ERG und der DUP zu besänftigen. Und da spielt Brüssel nicht mehr mit. Nach tagelangen Gesprächen mit dem britischen Justizminister Geoffrey Cox erklärten die EU-Unterhändler vor zwei Tagen dessen Forderung nach einer verbindlichen Ausstiegsklausel für London in bezug auf den Backstop für nicht erfüllbar.

Vor diesem Hintergrund weiß niemand so richtig, wie es im britischen Parlament weitergehen soll. In der heutigen Ausgabe des Guardians sprach ein anonymer konservativer Hinterbänkler von einem Klima bei den Tories vergleichbar mit "den letzten Tagen Roms". Mays Zeit als Premierministerin ist auch bald vorbei. Möglicherweise findet in den nächsten Tagen und Wochen der gemäßigte Flügel der Konservativen zusammen mit den oppositionellen Sozialdemokraten um Jeremy Corbyn und den schottischen Nationalisten einen Ausweg aus der Krise - oder auch nicht. Innerhalb der EU steht man der möglichen Bitte Londons um eine zeitliche Verschiebung von Brexit skeptisch bis ablehnend gegenüber, weil die Gewährung einer solchen Frist rechtliche Probleme bei der Zusammensetzung des europäischen Parlaments, das im Mai neu gewählt werden soll, mit sich bringt. Nähmen dann die britischen Bürger an den EU-Wahlen teil? Niemand weiß es.

Währenddessen bereitet Boris Johnson, der sich von Trumps ehemaligem Wahlkampfmanager Stephen Bannon beraten läßt, die Ablösung Mays als Parteivorsitzende und den eigenen Aufstieg zum Tory-Chef samt eventuellen Einzugs in Number 10 Downing Street vor. Zu diesem Zweck hat Johnson - ähnlich wie Trump ein Verbalrambo, jedoch auf gebildeterem Niveau - am 1. März das brisante Thema Nordirlandkonflikt instrumentalisiert. Er griff öffentlich unbestätigte Meldungen auf, wonach der Chef der Anklagebehörde in Nordirland eine Mordanklage gegen vier britische Soldaten wegen ihrer Teilnahme an Bloody Sunday (1972 wurden 14 katholische Teilnehmer einer Bürgerrechtsdemonstration in Derry von Mitgliedern des 1. königlichen Fallschirmjägerregiments getötet), um sich demonstrativ als Retter der militärischen Ehre Großbritanniens aufzuspielen. Hierzu dürfe es nicht kommen; eine solche Entwicklung wäre ein großes und inakzeptables Unrecht, so der Ex-Bürgermeister von London. Beobachter gehen davon aus, daß May und die Tories in den nächsten Tagen ein Verjährungsgesetz verabschieden werden, um genau diesen Fall zu verhindern.

Seit 1998 verschleppen die Behörden in London und Belfast jede Aufarbeitung der "Troubles" in Nordirland, damit die Nachwelt niemals das wahre Ausmaß der Zusammenarbeit der britischen Geheimdienste mit den loyalistischen Paramilitärs bzw. ihrer Unterwanderung der IRA erfahren soll. Aktuell ist die heimliche Zusammenarbeit von Armee und Geheimdiensten Großbritanniens mit loyalistischen "Terrorgruppen" gegen die IRA ein großes mediales Thema wegen der verstörenden Dokumentarfilme "No Stone Unturned" über das Loughlinisland-Massaker 1994 und "Unquiet Graves" über die "Glennane Gang" aus protestantischen Paramilitärs und Polizisten, die unter anderem die Autobombenanschläge von Dublin und Monaghan 1974 (33 Tote) verübt hat. Ende November fing in Belfast eine öffentliche Anhörung über das Blutbad an, das britische Soldaten 1971 im katholischen Viertel Ballymurphy angerichtet haben. Damals starben zehn Menschen - alles Zivilisten, darunter Frauen und Kinder - im Kugelhagel.

Ausgerechnet vor diesem Hintergrund ist es am 6. März bei einer Debatte im britischen Unterhaus zu einer schweren und gezielten Provokation gekommen. Auf Anfrage der DUP-Abgeordneten Emma Pengelly, deren eigener Vater, Noel Little, 1991 wegen des illegalen Imports größerer Mengen Waffen aus Südafrika für die protestantischen Ulster Volunteer Force (UVF) und Ulster Defence Association (UDA) zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war, bat Mays Nordirland-Ministerin Karen Bradley um eine Stellungnahme zur möglichen Anklageerhebung gegen britische Soldaten wegen Bloody Sunday und ähnlichem. Dazu meinte Bradley, 90 Prozent aller Todesfälle während der "Troubles" gingen auf das Konto der "Terroristen". Die Soldaten, die damals Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. in Nordirland gedient haben, hätten "keine Verbrechen" begangen, "nach Befehl" gehandelt und sich stets "würdig" verhalten. Für die eindeutige und einseitige Aussage bekam Bradley von der DUP-Fraktion sichtlich zufriedenes Nicken.

In der Republik Irland sowie bei Katholiken und gemäßigten Protestanten nördlich der Grenze schlugen die Worte Bradleys wie die sprichwörtliche Bombe ein. Es hagelte geradezu an Rücktrittsforderungen. Nach Ansicht aller Kommentatoren in den regulären sowie den sozialen Medien - DUP-Getreue natürlich ausgenommen - hatte die Nordirland-Ministerin durch ihre unvorsichtige Formulierung großen Schaden angerichtet. Noch am selben Abend sowie am nächsten Tag hat sich die gescholtene Ministerin in einer Reihe von Interviews entschuldigt und von der umstrittenen Erklärung distanziert. Das sei nicht ihre Meinung, beteuerte sie - was natürlich die Frage aufkommen läßt, warum sie sich von der DUP derart hat vorführen lassen. Die Anwälte der Angehörigen der Opfer des Ballymurphy-Massakers wollen nun Anzeige gegen Bradley wegen Behinderung der Justiz bzw. des unzulässigen Versuchs der Einflußnahme auf ein laufendes Verfahren erstatten. Noch am 6. März war der Eingang dreier Briefbomben aus Irland in der britischen Hauptstadt - am Bahnhof Waterloo sowie an den Flughäfen Heathrow und London City - gemeldet worden. Der Absender ist bislang unbekannt. Der Vorfall macht jedoch deutlich, welchen Sprengstoff die Frage der irischen Grenze heute noch in sich birgt. Mit der innewohnenden Gefahr gehen einige britische Politiker entweder mit Absicht oder gespielter Ignoranz viel zu leichtfertig um.

8. März 2019


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